Gute Arbeit und Klimaschutz gleichrangig voranbringen
Interview mit dem Autor der Studie "Eine Partei mit Zukunft: DIE LINKE", Dr. Mario Candeias
Drei Landtagswahlergebnisse unter drei Prozent in diesem Jahr für DIE LINKE. Besteht noch Hoffnung für eine Partei links von SPD und Grünen?
Durchaus, denn das Potenzial der LINKEN liegt noch immer bei 18 Prozent, also fast einem Fünftel der Wahlberechtigten. Das ergab unsere repräsentative Umfrage, die vom Meinungsforschungsinstitut Kantar durchgeführt wurde. Das entspräche etwa 10,8 Mio. Wahlberechtigten, die sich vorstellen können, DIE LINKE zu wählen. Potenzial und reale Wahlergebnisse klaffen weit auseinander. Aber der Raum ist vorhanden, er muss „nur“ stärker ausgenutzt werden.
Potenzial hat DIE LINKE offenbar bei Menschen mit geringem Einkommen. In der Partei wird oft die These vertreten, dass diese Menschen uns nicht mehr wählen, weil wir zu ökologisch, zu solidarisch mit Geflüchteten sind oder den Genderstern benutzen. Bestärkt die Studie diese These?
Ganz im Gegenteil: Ihr höchstes Potenzial mit 22 Prozent hat die LINKE weiter bei Haushalten mit einem niedrigen Einkommen bis 1500 € monatlich und bei einem Einkommen bis 2500 € liegt es sogar bei bis zu 24 Prozent. Ausschlaggebend für die mögliche Wahl der LINKEN ist in ihrem Potenzial vor allem und nach wie vor ihr „hohes soziales Engagement“ und ihr Einsatz für „soziale Gerechtigkeit“. Maßnahmen zur Verringerung von Einkommens- und Vermögensungleichheit in Deutschland betrachten potenzielle Wähler*innen der LINKEN - quer durch alle Einkommens- und Altersklassen - auffällig häufig als eher wichtig oder sehr wichtig. Für die Befragten sind konkrete soziale Forderungen wie die Beseitigung des Pflegenotstandes, die Senkung der Mieten oder die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs von besonderem Interesse. Bei Geringverdiener*innen ist auch eine „garantierte Mindestsicherung“ von 1200 Euro – Forderungen, die in der Programmatik der Partei eine starke Rolle spielen, wichtig. Übrigens, fast ebenso wichtig wie die Verringerung der Ungleichheit sind potenziellen Wähler*innen der LINKEN konkrete Maßnahmen zum Schutz des Klimas, noch vor allen anderen Maßnahmen.
Mindestsicherung, Miete und Pflege sind Themen, die seit Jahren zu unseren Schwerpunkten gehörten und zu denen es zum Teil sogar Kampagnen gab. Warum wählen uns gerade diese Menschen nicht mehr?
Oft kommt gar nicht an, dass die Partei für diese Themen sich zum Teil seit Jahren engagiert. Immer wieder wird der Zustand der Partei kritisiert, der potenziell gegen eine Wahl sprechen würde. Befragte überdenken ihre Wahl, weil die LINKEN „so zerstritten sind“. Nicht-repräsentative O-Töne aus den offenen Fragestellungen lauten z.B.: „Zeigt sich die Partei wieder organisierter, könnte ich mir vorstellen, sie wieder zu wählen.“ Auch andere überlegen noch: „Ich schwanke noch.“ „Sie haben gute Ansätze, aber es scheitert immer an der Umsetzung – naja und die innere Zerstrittenheit geht gar nicht.“ Dieses Problem ist derzeit eine Existenzfrage, die Partei muss klären, welche Partei sie sein möchte.
"Mehr Sozialismus wagen" und "Ungleichheit verringern" sind zentrale Aussagen der Studie. Spricht das nicht dafür, dass DIE LINKE sich stärker als Partei der Gerechtigkeit und Gleichheit definieren muss, statt Soziales und Ökologisches gleichberechtigt nebeneinander zu stellen?
Ist das ein Gegensatz?
Einige behaupten das.
Die Studie zeigt aber: Eine deutliche Mehrheit von 61 Prozent der Befragten im Potenzial der LINKEN befürwortet entsprechend, dass die Partei Beschäftigung bzw. gute Arbeit und Klimaschutz gleichrangig voranbringen sollte. Am stärksten werden solche sozial-ökologischen Forderungen erneut von Geringverdienern mit einem Haushaltseinkommen bis 1500 € im Monat befürwortet. Vorneweg nennen sie den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, seine entgeltfreie Nutzung, ein Programm zur Schaffung von einer Million klimaneutralen und gut bezahlten Arbeitsplätzen. Sie unterstützen auch die Forderung Strom für Vielverbrauer*innen zu verteuern und für Geringverbraucher*innen zu senken. Selbst bei kleineren Siedlungsgrößen sehen wir überdurchschnittlich hohe Zustimmungswerte für sozial-ökologische Maßnahmen - besonders beim Ausbau des ÖPNV, beim entgeltfreiem ÖPNV und beim Tempolimit.
Am stärksten werden solche sozial-ökologischen Forderungen erneut von Geringverdienern mit einem Haushaltseinkommen bis 1500 € im Monat befürwortet.
Also ist die ökologische Frage nicht nur für die Bioladen-Linke in Berlin-Prenzlauer-Berg von Bedeutung?
Nein. Die sozial-ökologische Transformation ist nicht nur eine Frage der urbanen Mittelschichten mit guten Einkommen. Sie ist natürlich eine Klassenfrage, die von den Ärmsten auch als solche betrachtet wird. Nicht Klimapolitik an sich, sondern Maßnahmen, die eben ökologische und soziale Frage konkret verbinden, können also potenziell mehr leisten, um Wähler*innen zu binden. Und eine sozialistische Perspektive kann helfen, den unterschiedlichen Forderungen eine gemeinsame Herangehensweise und Richtung zu geben, die jenseits der kleinen und wichtigen Schritte mobilisieren kann.
Laut Studie gibt es große Überschneidungen zwischen dem Wähler*innenpotential der LINKEN und der Grünen. 35 Prozent der Grünen-Wähler*innen können sich vorstellen, DIE LINKE zu wählen. Aber ebenso 18 Prozent derjenigen, die nicht zur Wahl gegangen sind. Bezieht man diese 18 Prozent auf den Gesamtanteil der Wahlenthaltungen von 30 bis 50 Prozent ist diese Gruppe mindestens genauso groß. Müssen wir uns entscheiden? Würde DIE LINKE der Demokratie und für linke Mehrheiten nicht einen größeren Dienst erweisen, wenn sie das Nichtwähler*innen-Potenzial anspricht und zur Wahl mobilisiert?
Wir haben ein doppeltes Problem im Potenzial der LINKEN: Während die Geringverdiener*innen ein besonders starkes Wählerpotenzial markieren, gehen eben jene besonders selten zur Wahl, „asymmetrische Wählermobilisierung“ wird dies genannt. Ein Zitat: „Ich würde nur die LINKE wählen, aber ich wähle nicht. Wählen bringt nix.“ Es ist schwer, aber nicht unmöglich solche Menschen für eine Wahl zu gewinnen. Die LINKE versucht dies mit erhöhter Präsenz und Organisierungsprojekten in benachteiligten Viertel, mehr oder weniger regelmäßigen Haustürbesuchen und -wahlkämpfen. Aber das ist eine ressourcenintensive Sache. Die andere große Wählergruppe, moderne Facharbeiter, „systemrelevante“ Arbeitskräfte in den öffentlichen Dienstleistungen und vor allem die gut-ausgebildeten, jung-urbanen sozial-ökologischen Milieus, sie stellen ebenfalls starke Wählerpotenziale für die LINKE dar. Sie zeigen aber ein sehr stark taktisches Wahlverhalten - häufig unmittelbar mit Blick auf die konkrete Wahl, die konkrete Regierungskonstellation, die konkrete Person des potenziellen Regierungschefs - in Richtung SPD und vor allem Grüne. Auf diese Weise ist die Stammwählerschaft der LINKEN, trotz des großen Potenzials, mittlerweile zu klein geworden, solange das Potenzial nicht stärker ausgenutzt wird. Aber eins ist durch die Studie klar geworden: sich nur auf eine Wählergruppe zu konzentrieren, reicht nicht.
Als häufigster Grund DIE LINKE nicht zu wählen, wird von Befragten im Potenzial der LINKEN deren außenpolitische Positionen genannt.
Gerade mal ein Viertel unseres Potenzials kann sich laut Umfragen gegenwärtig vorstellen, DIE LINKE zu wählen. Woran liegt das?
Als häufigster Grund DIE LINKE nicht zu wählen, wird von Befragten im Potenzial der LINKEN deren außenpolitische Positionen genannt. Dabei stören weniger die grundsätzlichen friedenspolitischen Positionen zu Abrüstung, gegen Waffenexporte oder für friedliche Konfliktlösung. Als Grund für die Nichtwahl wird vielmehr die Vielstimmigkeit und unklare Positionierung, wie z. B. dem Afghanistan-Rettungseinsatz oder zum Krieg in der Ukraine genannt. Nicht überraschend ist, dass dies vorwiegend für Wähler*innen gilt, die sich bei der letzten Wahl für SPD und Grüne entscheiden haben. Umgekehrt werden die friedenspolitischen Positionen der LINKEN gegen Kriegseinsätze häufig als Grund für die Wahl der LINKEN genannt.
Zum Schluss: Wie bekommen wir DIE LINKE wieder auf 10 Prozent. Drei Stichpunkten bitte.
DIE LINKE muss ein strategisches Zentrum von Partei- und Fraktionsführung aufbauen
Das Potenzial und das Bedürfnis nach einer linken Partei in diesem Land ist vorhanden und stabil. Die regierende Ampel lässt auch Raum für eine linke Partei mit konkreten Konzepten und Kampagnen, für eine sozial-ökologisch ausgerichtete linke Partei der Zukunft mit sozialistischer Perspektive. Für eine solche linke Partei existiert ein Bedarf. Die Ausschöpfung dieses Potenzials gelingt bisher nicht. Dafür braucht sie erstens eine programmatische Erneuerung. Diese muss vor allem eine konsequente Verbindung von sozialer und ökologischer Frage leisten. Sie benötigt ein friedens-, außen- und sicherheitspolitisches Update an die neue Lage und sollte eine klare Haltung gegen jedwedes imperiale Projekt formulieren. Es braucht ferner eine kluge und verbindliche Linie gegen sexuelle Belästigung und alle Arten der Diskriminierung - nach außen wie nach innen. Zweitens müssten Wege gefunden werden, die internen Probleme zu lösen und die harten internen Auseinandersetzungen in der Partei zu befrieden, um wieder eine gemeinsame Ausstrahlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Das heißt drittens, DIE LINKE muss ein strategisches Zentrum von Partei- und Fraktionsführung aufbauen, das verbindlich für den Umgang mit Widersprüchen steht. Es muss einen Korridor definiert werden, in dem unterschiedliche Positionen ausgetauscht und Konflikte ausgetragen werden können. Um es auf eine Formel zu bringen: DIE LINKE muss wieder eine lebendig diskutierende Partei wie in ihrer Gründungszeit werden, also weder stramme Parteidisziplin ohne Debatte wie sozialistische Parteien früher waren, noch eine Partei der Kakofonie dissonanter Positionen, wie heute.
Ich danke für das Gespräch.
Das Interview mit dem Autor der Studie "Eine Partei mit Zukunft: DIE LINKE", Dr. Mario Candeias, führte Thomas Lohmeier.
Zur Studie: Die Studie "Eine Partei mit Zukunft: DIE LINKE"