Hat Die Linke die Arbeiter verloren?
Interview mit Dr. Mario Candeias
"Hat Die Linke 'die Arbeiter' verloren?", fragt eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung. "Nein, eigentlich nicht" verrät bereits die Unterzeile des Titels. Aber wie sieht es eigentlich konkret aus mit der Partei Die Linke und der Arbeiter*innenklasse? Thomas Lohmeier sprach dazu mit dem Autor der Studie, Mario Candeias.
Bei den Wahlanalysen im Fernsehen sieht man immer die Balken, wie die Menschen nach Berufsstatus abgestimmt haben. Und diese Balken erwecken den Eindruck, Die Linke habe die Arbeiter*innen verloren. Das ist ja auch ein Vorwurf, der der Linken gerne öffentlich gemacht wird. Du hast nun eine Studie mit dem Titel: „Hat Die Linke die Arbeiter verloren?“ gemacht. Und? Haben wir die Arbeiterklasse verloren?
Lass mich zunächst einmal etwas zu diesen „Balken“ sagen. Bei den üblichen Nachwahlumfragen müssen sich die Wähler*innen selbst Kategorien zuordnen. Und da müssen wir feststellen, dass die meisten lohnabhängig Beschäftigten sich nicht mehr dieser Kategorie zuordnen. Versteht sich die Krankenschwester, der Lehrer oder die Programmiererin als Arbeiter*in oder als Angestellte?
Gute Frage. Wahrscheinlich kennst du die Antwort …
Leider nicht. Diese Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten und anderen ist aus den meisten offiziellen und gewerkschaftlichen Statistiken entfernt worden. Aus gutem Grund. Warum bei Nachwahlbefragungen diese Unterscheidung immer noch gemacht wird, entzieht sich meiner Kenntnis.
Nun habe ich gesehen, dass ihr diese Unterscheidung in der Studie auch nicht vorgenommen habt. Ihr seid einen anderen Weg gegangen.
Wir haben beides gemacht. Erst die übliche Frage und dann sind wir der Sache tiefer auf den Grund gegangen und haben gefragt, in welchen Branchen und Berufen die potenziellen Wähler*innen der Partei Die Linke arbeiten, sofern sie berufstätig sind.
Und wo sind sie beschäftigt?
Nun, 21 Prozent der Befragten im linken Potenzial sind im Bereich Gesundheit und Pflege beschäftigt. Ebenso viele sind es im Sektor Erziehung und Bildung. Zusammen arbeiten also über 40 Prozent der Befragten im Potenzial der Partei Die Linke in diesen beiden Sektoren – das ist eine überraschend hohe Zahl. Zum Vergleich: nur 18,5 Prozent aller Erwerbstätigen arbeiten in diesen beiden Sektoren. Mit 11 Prozent folgt der Bereich Handel, Logistik und Lieferdienste, dann Industrie und produzierendes Gewerbe mit 10 Prozent. Das sind die wichtigsten Branchen, in denen Die Linke ein großes Wähler*innenpotenzial hat.
21 Prozent der Befragten im linken Potenzial sind im Bereich Gesundheit und Pflege beschäftigt. Ebenso viele sind es im Sektor Erziehung und Bildung.
Das hört sich aber nicht nach Lifestylinken mit hohem Einkommen und großzügiger Altbauwohnung im Prenzlauer Berg an ...
Nein, beim besten Willen nicht. Die Befragten arbeiten vorwiegend als Pflegekräfte, Erzieher*innen, Lehrkräfte, Verkäufer*innen, Logistikarbeiter*innen und Lieferbot*innen – die sogenannten systemrelevanten Dienste – oder sind Fach- und Hilfsarbeiter*innen in der Industrie. Wir konnten also feststellen: Außer bei den Beschäftigten in der Industrie mit einem deutlich höheren Lohnniveau dominieren im Wähler*innenpotenzial der Partei Die Linke die niedrigen Nettohaushaltseinkommen.
Das scheint dem Vorwurf, Die Linke bediente nur noch die gut verdienenden und akademisch ausgebildeten, nicht zu entsprechen.
So ist es. Eine Verschiebung im linken Wähler*innenpotenzial zugunsten stärker akademischer, urbaner und oft unterstellt privilegierterer Milieus wird zwar kontrafaktisch gern behauptet, lässt sich aber in der vorliegenden Befragung nicht bestätigen.
Kann man das vielleicht zuspitzen: Die Linke wird nicht akademischer, sondern weiblicher – in dem Sinne, dass sie mehr und mehr die Berufsgruppen anspricht, die überdurchschnittlich von Frauen verübt werden?
Das ist jetzt deine Zuspitzung. Aber gewissermaßen bildet sich die Neuzusammensetzung der Klasse der Lohnabhängigen durch die Transformation der gesellschaftlichen Arbeit ab – weniger Industriearbeit, mehr Dienstleistungs- und Care-Arbeit.
Denn nach wie vor gilt: Je geringer das Einkommen, umso größer ist das Potenzial, links zu wählen.
Spannend. Und wie sieht es bei den Einkommen aus? In der Öffentlichkeit wird ja gerne so getan, dass nur noch gut bezahlte Akademiker*innen, links wählen, weil die es sich leisten könnten …
Unsere Studie hat das nicht ergeben. Viel mehr haben wir den Eindruck gewonnen, dass viele Menschen noch sehr genau erkennen, für wen Die Linke sich einsetzt und für wen nicht. Denn nach wie vor gilt: Je geringer das Einkommen, umso größer ist das Potenzial, links zu wählen. Von den befragten Haushalten mit einem Nettoeinkommen bis 1.500 Euro wären 27 Prozent bereit, Die Linke zu wählen, bei Haushalten mit einem Nettoeinkommen von 1.500 bis 2.500 Euro sind es 23 Prozent.
Nun ist es schon etwas länger her, als ich Marx gelesen habe. Aber ich würde diese Berufs- und Einkommensgruppen durchaus der Arbeiter*innenklasse zurechnen.
Ich auch. Aber entscheidend ist ein anderer Punkt: Viele assoziieren mit dem Arbeiter einen Mann im Blaumann mit einem Schraubenschlüssel in der Hand. Aber die Welt der Arbeit hat sich verändert und damit auch die Tätigkeiten der Arbeiter*innen. Wir müssen feststellen, dass die Linke nicht «die Arbeiter*innen» verloren hat. Sie hat aber vielleicht nur einen guten Zugang zu einem Teil der abhängig Beschäftigten.
Wie meinst du das?
Die Parteienlandschaft ist stark segmentiert. Offenbar finden zum Beispiel Industriearbeiter*innen in anderen Parteien gegenwärtig eher ihre Vertretung, aber Menschen, die im Bereich Pflege, Erziehung oder Bildung arbeiten, sehen, dass Die Linke für sie da ist.
Menschen, die im Bereich Pflege, Erziehung oder Bildung arbeiten, sehen, dass Die Linke für sie da ist.
Ist das nun eine schlechte oder eine gute Nachricht für Die Linke?
Ich würde sagen, in diesem Befund liegt eine Chance. Wenn Die Linke begreift, dass sie die Partei der Care-Arbeiter*innen und Sorgeberufe ist, bzw. die Partei der sogenannten „Systemrelevanten“ im Dienstleistungssektor. Dieses spezielle Potenzial könnte noch besser ausgeschöpft werden. Die notwendige sozial-ökologische Transformation der Industrie bietet dafür durchaus Möglichkeiten, um mit linken Vorschlägen bei Facharbeiter*innen zu reüssieren. Es ist absolut sinnvoll die Klasse an und für sich zu adressieren, Forderung zu stellen, die für alle Lohnabhängigen zu Verbesserungen führen. Aber an die Sorgeberufe kommt die Partei am besten heran, die sollten speziell adressiert werden.
Die Linke hat eine Chance, wenn sie begreift, dass sie die Partei der Care-Arbeiter*innen und Sorgeberufe ist, bzw. die Partei der sogenannten „Systemrelevanten“ im Dienstleistungssektor.
Ich höre da eine deutliche Handlungsempfehlung. Ist für einen Wissenschaftlicher ja nicht selbstverständlich. Aber wie hebt Die Linke dieses Potenzial?
Danke. Aber da habe ich auch kein Patenrezept. Aber wir haben nach den derzeit größten Problemen in der Arbeitswelt gefragt. Am häufigsten genannt wurde: "zu geringe Löhne", "Stress am Arbeitsplatz" bzw. "Konflikte unter Kolleg*innen wegen Arbeitsüberlastung", "zu viele Überstunden" sowie "Eindringen der Arbeit ins Privatleben". "Kein oder kein ausreichender Tarifvertrag" wurde von 23 Prozent ebenfalls oft als Problem benannt, deutlich häufiger jedoch mit 27 Prozent in Ost- als in Westdeutschland, wo der Wert bei 22 Prozent lag. Diese Probleme analysieren wir in der Studie ausführlich.
Das ist ja deutliche Hinweise auf die Themen, die Die Linke in den Fokus rücken könnte.
Weil die Berufsfelder, in denen Die Linke ihr größtes Potenzial hat, ja Berufe sind, in denen überwiegend Frauen arbeiten, möchte ich noch auf einen weiteren Befund hinweisen: Es bestehen Unterschiede in der Problemwahrnehmung zwischen Männern und Frauen, die sich erklären aus dem Zusammenwirken von Gender-Pay-Gap (der generell geringeren Entlohnung von Frauen), dem enormen Personalmangel in vielen Bereichen der sozialen Infrastrukturen von der Pflege bis zur Kinderbetreuung, der immer noch überwiegend bei Frauen verorteten Sorgearbeit zu Hause, die eine Work-Life-Balance verunmöglicht bzw. zu erzwungener Teilzeit und wiederum zu geringen Löhnen beiträgt. Entsprechend bewerten Frauen die Problematiken geringer Löhne, von Stress und Konflikten am Arbeitsplatz wegen Personalmangels, Überstunden und dem Eindringen der Arbeit ins Privatleben als dringlicher.
Nun wird aber dennoch gerne die These aufgestellt, die Beschäftigung mit sogenannten Identitätsthemen, die ich lieber Themen der Emanzipation nennen würde, würde die Arbeiter*innen nicht interessieren und von der Wahl der Linken abhalten. Habt ihr dazu auch geforscht?
Wir konnten dazu Folgendes feststellen: Die Arbeiter*innenklasse macht Diskriminierungserfahrung in der Arbeit wie im Alltag. Dabei gibt es eine starke „intersektionelle“ Betroffenheit entlang von Geschlecht, Klasse und Migrationshintergrund: Je mehr sich Geschlecht, niedrige Einkommen und Migrationshintergrund überlagern, desto häufiger werden Diskriminierungserfahrungen gemacht. Frauen mit Migrationshintergrund und geringen Einkommen sind mehr als doppelt so häufig betroffen. Diskriminierung aufgrund von Geschlecht ist, wenig überraschend, eine ganz überwiegend eine weibliche Erfahrung. Solche Themen sind also Klassenthemen und keine Sache „skurriler Minderheiten“.
Menschen mit Migrationshintergrund sind im Wähler*innenpotenzial der Partei Die Linke dabei deutlich stärker repräsentiert
Du schreibst in der Studie in diesem Zusammenhang auch, die Zusammensetzung der Arbeiterklasse sei auch migrantischer geworden?
Ja, die Arbeiter*innenklasse in Deutschland ist migrantisch geprägt. Und Menschen mit Migrationshintergrund sind im Wähler*innenpotenzial der Partei Die Linke dabei deutlich stärker repräsentiert als unter allen Wahlberechtigten. Ihre Wahlbeteiligung ist in Deutschland aber meist 15 bis 20 Prozent niedriger als die von Wahlberechtigten ohne Migrationshintergrund. Es braucht eine verlässliche und glaubwürdige politische Haltung und eine stärkere Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund im politischen Alltag der Partei.
Das ist ja gleich noch eine Handlungsempfehlung. Kann man das Ergebnis nicht insgesamt so zusammenfassen, dass die Chance für Die Linke vorliegen, sie sie nur nutzen muss?
Kann man. Aber man muss auch sehen, dass Menschen mit geringen Einkommen, die ja das stärkste Potenzial ausmachen, häufig überhaupt nicht zur Wahl gehen. Ursächlich ist, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen nicht daran glauben, dass die Politik zur Verbesserung ihrer Situation beiträgt. Entsprechend hat Die Linke besonders große Schwierigkeiten ihr Potenzial auszuschöpfen. Interessanterweise hat nur die FDP hat noch größere Probleme, ihr Potenzial auszuschöpfen.
Das sollte aber nun nicht unser Problem sein …
(Lacht.) Nein.
Zurück zur Linken. Wie könnte sie ihr Potenzial heben?
Die Linke braucht eine überzeugende Nichtwähler*innen-Strategie, um die prinzipiell vorhandenen Sympathien für die Positionen der Partei für eine Beteiligung an Wahlen und für darüber hinausgehendes Engagement und Selbstermächtigung zu aktivieren.
Lieber Mario, ich danke dir für das Gespräch.