Parteitag

Wir sind keine Imperialisten-Versteher. Nirgendwo. Niemals.

Worum gehts in Erfurt? Interview mit Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler über den bevorstehenden Parteitag

Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler moderiert die Aktionskonferenz der LINKEN

Jörg, der kommende Bundesparteitag steht an. Welche Erwartungen hast du?

Ich habe die Hoffnung, dass der Parteitag ein Wendepunkt ist und eine neue Erzählung von der Notwendigkeit einer Partei links von SPD und Grünen erkennbar wird.

Inwiefern ein Wendepunkt?

Lass mich das kurz erläutern: Die Gesellschaft hat sich seit unserer Gründung vor 15 Jahren verändert. Damals kämpften wir gegen den Neoliberalismus und die völkerrechtswidrigen Kriege der NATO. Beides wurde von einer breiten Allianz von Rechts bis Rot-Grün vorangetrieben.

Heute können wir selbstbewusst sagen: Unser Kampf hat sich gelohnt! Wir haben dazu beigetragen, dass der Neoliberalismus seine Hegemonie in der Gesellschaft verloren hat.

Heute können wir selbstbewusst sagen: Unser Kampf hat sich gelohnt! Wir haben dazu beigetragen, dass der Neoliberalismus seine Hegemonie in der Gesellschaft verloren hat. Wir haben dazu beigetragen, dass es weiterhin und nach wie vor - trotz der aktuellen Aufrüstungsbestrebungen - keine Kriegsbegeisterung für „unsere Jungs (und Mädchen)“ auf Schlachtfeldern gibt. 

Aber: Die Gegenwart hat neue relevante gesellschaftliche Konflikte an uns herangetragen. Der Krieg Russlands in der Ukraine stellt auch Fragen an unsere Vorstellung einer Friedens- und Sicherheitspolitik in Europa. Der Klimawandel stellt uns vor die Notwendigkeit, das Soziale und das Ökologische zusammen zu denken. Und der Umstand, dass SPD und Grüne sich von den Paradigmen des Neoliberalismus entfernt haben, stellt uns vor der Herausforderung, unsere Rolle im Spektrum der Parteien links von Union und FDP zu justieren. 

Aber nun zur Antwort auf die gestellte Frage: Ich erwarte mir von dem Parteitag klare politische Signale, dass wir diese Herausforderungen verstanden haben. Unsere Leitanträge haben diesen Anspruch und ich würde mich sehr freuen, wenn der Parteitag sie mit deutlicher Mehrheit beschließt.

 

Welche neuen Signale geben die drei Leitanträge? 

Sie geben drei wichtige Signale. Erstens: Wir messen in der Außenpolitik nicht mit zweierlei Maß. Völkerrechtsbrüche verurteilen wir ohne Wenn und Aber. Imperialistische Politik lehnen wir ab. Egal, ob Russland oder der Westen glaubt, seine Interessen mit militärischen Mitteln durchsetzen zu können. Zweitens: Wir machen unmissverständlich deutlich, wir sind eine linke Partei, für die Soziales und Ökologisches untrennbar verbunden ist. Die Frage der Gerechtigkeit und der Stopp des Klimawandels sind beides Gattungsfragen, die wir lösen müssen. Und drittens definieren wir uns als aktive Mitgliederpartei, in der unsere Mitglieder in Parlamenten, von der Kommune bis zum Bund, und in sozialen Bewegungen das Projekt einer demokratischen, sozialen und ökologischen Gesellschaft, die gleiche Rechte gewährleistet, voranbringen. 

 

Das war jetzt noch sehr abstrakt. Kannst du das für die drei Leitanträge etwas konkreter machen? Fangen wir mit dem Klimaantrag an.

Gerne. Wir machen deutlich: Eine gute Zukunft für alle gibt es nur jenseits des fossilen Kapitalismus. Deshalb ist unser Ziel, auf allen Ebenen die Stärkung des Öffentlichen gegen die Dominanz von Konzernen und Profitinteressen zu erreichen. Darin unterscheiden wir uns übrigens auch deutlich von SPD und Grünen: Die glauben ja ernsthaft, ökologische Politik sei ohne klare ordnungsrechtliche Vorgaben für Konzerne oder ohne Eingriffe in die Entscheidungs- und damit Eigentumsstruktur der Konzerne möglich. Das ist doch naiv!

Heute erleben wir schon eine Explosion der Energiepreise. Die hohe Inflation ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen. Es ist doch absehbar, dass sich die Energiepreise wegen des Krieges in der Ukraine und wegen des Klimaschutzes weiter erhöhen werden. Hier wollen wir ein soziales Klimageld von mind. 1.500 Euro im Jahr pro Haushalt und 600 Euro pro weiterem Haushaltsmitglied beschließen. Dies soll kleinen und mittleren Einkommen zugutekommen. Damit stellen wir sicher, dass Wärme, Mobilität und Strom für alle leistbar bleiben.

Der Individualverkehr war die Form der Fortbewegung des 20. Jahrhunderts. Die kollektive Mobilität wird die Form der Fortbewegung des 21. Jahrhunderts sein.

Und wir definieren eine klimagerechte Verkehrspolitik des 21. Jahrhunderts. Der Individualverkehr war die Form der Fortbewegung des 20. Jahrhunderts. Die kollektive Mobilität wird die Form der Fortbewegung des 21. Jahrhunderts sein. Die wollen wir erreichen, indem wir kräftig in den öffentlichen Nahverkehr - gerade auch auf dem Land - investieren und das 9-Euro-Ticket entfristen. Letzteres könnten wir sofort machen.


Kommen wir zum Leitantrag zum Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Wir beschließen eine ganz eindeutige Verurteilung des verbrecherischen und völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Da ist der Leitantrag des Parteivorstandes ganz klar. Und da gibt es auch keine Relativierungen, auch wenn dieser Krieg natürlich seine Vorgeschichte hat. Seit Jahren versuchen uns die Medien in eine Putin-Versteher-Ecke zu stellen. Leider gab es immer wieder Äußerungen von Mitgliedern in Amt und Funktion in unserer Partei, die dieses Framing genährt haben. Das macht uns friedenspolitisch unglaubwürdig, schadet uns also massiv. Ich bin mir sicher, dass von diesem Parteitag das klare Signal ausgehen wird: Wir sind keine Imperialisten-Versteher. Nirgendwo. Niemals.

Wir machen im außenpolitischen Antrag auch deutlich, dass wir Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gegen autoritäre Tendenzen im Inneren, aber auch gegen ihre Bedrohung von außen durch einen autoritären Kapitalismus à la Putin verteidigen. Unsere Solidarität gehört insbesondere den mutigen Menschen, die sich in Russland gegen den Krieg stellen. Und wir machen in unserem Leitantrag klar, dass Friedenspolitik auch Sanktionen bedeuten kann. Deshalb sagen wir im konkreten Fall auch Ja zu zielgerichteten Sanktionen gegen Oligarchen und die Rüstungsindustrie. 

Die Ampel-Parteien wollen ja nicht einmal ein Transparenzregister für Vermögenswerte oder ein Immobilienregister auf den Weg bringen, was Voraussetzung für wirksame zielgerichtete Sanktionen wäre. 

Die große Koalition der Ampel-Parteien und der Union will aber lieber satte Profite für Rüstungskonzerne, statt wirklich Ernst zu machen mit dem Einfrieren von Vermögenswerten. Die wollen ja nicht einmal ein Transparenzregister für Vermögenswerte oder ein Immobilienregister auf den Weg bringen, was Voraussetzung für wirksame zielgerichtete Sanktionen wäre. 

Nicht zuletzt schlagen wir im Antrag des Parteivorstandes vor, zivil vor Ort zu helfen. Das ist ein zentraler Punkt, finde ich: Es ist doch nicht einzusehen, weshalb dies nur durch nichtstaatliche Organisationen geleistet werden soll. Vielmehr brauchen wir z.B. Ärzt*innen, Lehrer*innen, technische Spezialist*innen, auch Material und Gerät, die von der Bundesrepublik für die Ukraine zur Verfügung stehen - ein Akt praktischer Solidarität. Früher gab es doch einmal das kubanische Ärzteprogramm für Angola - so etwas braucht es auch heute! 

 

Kannst du das Konzept der „zivilen Hilfe“ etwas näher erläutern?

Ich kann mir das so vorstellen: Wir könnten anknüpfend an die Idee aus unserem Grundsatzprogramm und unserem Wahlprogramm ein ziviles Hilfskontingent (Willy-Brandt-Korps) für internationale Katastrophenhilfe vorschlagen. Deutschland müsste hierzu einen humanitären Fachkräftepool aufbauen und unterhalten sowie ein Logistikzentrum mit technischen Hilfsmitteln schaffen. Transportflugzeuge und -hubschrauber sowie Schiffe, mobile Brücken und Krankenhäuser, Geländefahrzeuge und Lastwagen, schweres Räumgerät, mobile Unterkünfte sowie weitere technische Hilfsmittel sind vorzuhalten. Damit könnte Deutschland bedrohte Menschen in der Ukraine (und auch anderswo) personell und materiell unterstützen oder notfalls evakuieren.

 

Noch nichts gesagt hast du zum 100-Milliarden-Aufrüstungspaket ...

Wirklich stolz bin ich auf meine Partei, dass sie als einzige im Bundestag ent- und geschlossen gegen die wahnsinnige 100-Milliarden-Aufrüstung steht. Die ist wirklich völlig sinnlos. Vergleicht man die Anzahl der konventionellen Waffen der NATO-Staaten mit denen Russlands, stellt man eine mehrfache Überzahl des Westens fest. Putin hat seine Unterlegenheit gegenüber der NATO nicht davon abgehalten, die Ukraine zu überfallen. Es ist völlig absurd anzunehmen, dass eine noch höhere Überlegenheit der NATO das tun würde. Wir brauchen die 100 Milliarden Euro stattdessen, um in erneuerbare Energie zu investieren. Das ist gut fürs Klima und übrigens sehr schlecht für Fossil-Autokratien wie Russland, Katar oder Saudi-Arabien.

Wirklich stolz bin ich auf meine Partei, dass sie als einzige im Bundestag ent- und geschlossen gegen die wahnsinnige 100-Milliarden-Aufrüstung steht.


Auch wenn du nun als Bundesgeschäftsführer nicht mehr kandidierst, fällt der Leitantrag zum Parteiaufbau in deinen originären Arbeitsbereich. Er ist insofern ja so was wie dein Vermächtnis. Warum sollte er unbedingt beschlossen werden?

Dieser Antrag definiert das Verständnis unserer Partei als aktive Mitgliederpartei. Diese setzt nicht nur auf die Prominenz Weniger oder die Expertise unserer Fachpolitiker*innen. Beides benötigen wir wie jede andere Partei selbstverständlich. Aber der Antrag zeichnet ein Bild einer Partei, in die sich die Mitglieder einbringen und die sich in die Gesellschaft einmischen. Egal, ob im Rat der Gemeinde oder in einer Stadtteilinitiative - wir sagen "Du bist eingeladen". Um diese Welt zu verändern, brauchen wir dich und euch! 100 000 Mitgliedern wollen wir in 10 Jahren sein. Wir verändern uns, weil wir die Gesellschaft verändern wollen.

Egal, ob im Rat der Gemeinde oder in einer Stadtteilinitiative - wir sagen "Du bist eingeladen".

 

Mehr Mitglieder heißt aber nicht unmittelbar auch mehr Wähler*innen, oder?

Nein, nicht automatisch. Aber gerade die letzten Landtagswahlen haben doch wieder gezeigt, dass viele Menschen nicht mehr wählen gehen, weil sie den Glauben verloren haben, dass Politik und Parteien für sie etwas erreichen können. Das betrifft vorwiegend Menschen mit geringem Einkommen in den ärmeren Wohnvierteln. Wir wollen diese Menschen wieder erreichen und mit ihnen sprechen. Dafür gehen wir zum Beispiel in die Brennpunkte und an die Haustüren - auch und gerade außerhalb von Wahlkämpfen. Wichtig ist, dass diese Politik vor Ort, also kommunal, mit der Bundespolitik besser als bisher verknüpft werden muss. Aber ohne aktive Mitglieder, können wir uns weder in der kommunalen Politik einmischen, noch Gespräche mit Menschen führen oder ihnen konkret bei DIE LINKE hilft, helfen. Wir müssen also auch einfach mehr werden.

Die Corona-Zeit hat zudem gezeigt, dass wir uns auch innerparteilich verändern müssen. Da sind wir auf einem guten Weg: mehr Beteiligung, mehr digital. Die #linkemetoo-Debatte hat leider gezeigt, es braucht auch bei uns bessere Strukturen gegen Sexismus und Machtmissbrauch. Ich bin sehr froh, dass wir eine externe und unabhängige Kommission von Expertinnen implementiert haben, an die sich Betroffene nun wenden können. 

 

Kam diese externe Stelle nicht zu spät?

Ich weiß, dass wir noch einen Weg zu gehen haben, aber unser Ziel ist und bleibt, dass DIE LINKE eine Struktur ist, in der sich alle frei von sexueller Belästigung politisch engagieren können.

Ich möchte gerne einräumen, dass wir diese externe Vertrauensgruppe früher hätten einrichten sollen. Dennoch gehören wir zu den ersten Parteien, die diese Struktur aufgebaut haben. Zusammen mit den Grünen sind wir die einzige im Bundestag vertretende Partei, die eine solche externe Stelle eingerichtet hat. Ich weiß, dass wir noch einen Weg zu gehen haben, aber unser Ziel ist und bleibt, dass DIE LINKE eine Struktur ist, in der sich alle frei von sexueller Belästigung politisch engagieren können. Ich habe die Hoffnung, dass wir auf dem Parteitag unser Bewusstsein entsprechend schärfen. Dafür ist wichtig, dass wir die Debatte offen führen. Denn unsere gesellschaftliche Aufgabe ist es doch, antisexistische Alltagspraxis zu befördern. 


Für dich ist es dein letzter Parteitag als Bundesgeschäftsführer. Wie fühlt sich das an? 

Die vier Jahre waren nicht einfach, die Wahlergebnisse nicht immer schön, aber einiges konnte ich im Sinne einer radikalen und realistischen Reformpolitik voranbringen. Ich bin fest überzeugt: Der radikale Reformismus ist nicht nur die Klammer für unsere Partei zwischen den Flügeln. Er ist auch der Weg, die Gesellschaft zu verändern und dabei stärker zu werden: Im politischen Prozess konkrete Verbesserungen erkämpfen, die Mut auf mehr machen und den Blick öffnen dafür, dass es eine Gesellschaft geben sollte, in der niemand mehr Profit machen muss, sondern Freude daran hat, dass Bedürfnisse erfüllt werden. Diese Gesellschaft, in der es darum geht, Menschen glücklich zu machen - das ist der demokratische Sozialismus. Und den muss man sich vorstellen können! In einer persönlichen Erklärung auf meiner Website habe ich ein kurzes Resümee meiner Amtszeit gezogen und auch einen Ausblick der zukünftigen Aufgaben gegeben. Wer sich dafür interessiert, kann es dort gut nachlesen. 

Dieser Parteitag findet in einer schwierigen Situation statt. Die Umfragen sind im Schnitt unter fünf Prozent. Es gibt um die zentralen Positionen, Vorsitzende, Geschäftsführer*in und Schatzmeister*in konkurrierende Kandidaturen. Faktisch stehen sich zwei konkurrierende Teams gegenüber. Hast du noch Hoffnung für DIE LINKE?

Ja, ich bin voller Hoffnung. Das will ich übrigens auch gar nicht an den Wahlergebnissen auf dem Parteitag festmachen. Ich sehe, was unsere Mitglieder in Landesregierungen erreichen, wie wir sehr konkret in Kommunen um konkrete soziale und ökologische Verbesserungen streiten und durchsetzen, wie wir immer wieder die soziale Stimme sind, die sich als einzige nicht mit der unfassbaren Ungleichheit in diesem Lande abfindet.

Melenchon und sein links-ökologisches Bündnis hat eindrucksvoll gezeigt, dass eine Politik, die sozialistisch, konsequent ökologisch und entschieden für gleiche Rechte aller eintritt, gewinnen kann.

Ich glaube, und davon bin ich nach der Wahl in Frankreich noch mehr überzeugt, dass eine sozialistische Partei links von SPD und Grüne eine wichtige gesellschaftliche Funktion hat. Melenchon und sein links-ökologisches Bündnis hat eindrucksvoll gezeigt, dass eine Politik, die sozialistisch, konsequent ökologisch und entschieden für gleiche Rechte aller eintritt, gewinnen kann. Dieses Bündnis hat gerade in den Banlieues und bei jüngeren Bürger*innen gewonnen. Man sieht: soziale, ökologische und antirassistische Politik sind Pfeiler einer radikalen Reformpolitik. Was in Frankreich geht, geht auch hier. Und die politischen Linien, die wir auf dem Parteitag beschließen, zeichnen diesen Weg.

"... es kommt darauf an, sie zu verändern."

Jetzt hast du das Motto unseres Parteitags verraten. Ja, ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir ausstrahlen, dass wir die Welt wirklich verändern wollen, erreichen wir wieder ganz andere Wahlergebnisse.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Thomas Lohmeier.