Warum stehen hier eigentlich Wohungen leer?

Wohnungsleerstand wird als Problem von der Politik häufig nicht ernst genommen.

Am Morgen des 14. Oktober 2024 bot sich vielen Münchner*innen auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkauf ein merkwürdiger Anblick. Zahlreiche Häuserfassaden waren mit roten Plakaten dekoriert, auf denen die Aufschrift "Warum stehen hier Wohnungen leer?" prangte. Durch die Plakate visuell markiert, waren jetzt auch die vielen verlassenen und dem Verfall preisgegebenen Gebäude nicht mehr zu übersehen. Mit Brettern vernagelte oder mit dickem Staub überzogene Fenster, mit wuchtigen Vorhängeschlössern abgeriegelte Eingangstüren, hinter Bauzäunen verrottende Großstadtruinen – wie stumme Zeugnisse einer von menschlichen Bedürfnissen entfremdeten Wohnungspolitik stachen sie plötzlich aus dem Stadtbild hervor. Bei genauerem Hinsehen konnten sich die Münchner*innen auch Aufschluss über die Menschen hinter der Aktion verschaffen, die die Stadt über Nacht verwandelt hatte: Am linken unteren Rand der Plakate befand sich das Logo der Münchner Linken.

Als wir begannen, uns als Arbeitsgruppe Mieten & Wohnen in München intensiv mit dem Thema Leerstand zu beschäftigten, waren selbst wir überrascht vom schieren Ausmaß des Problems. Der Mikro-Zensus von 2018 zählte 47.000 leerstehende Wohnungen in unserer Stadt. Mit einberechnet waren bei dieser Zählung so genannte fluktuative Leerstände aufgrund von Mieter*innen-Wechseln. 3 % fluktuativer Leerstand gilt als normal, das wären im Fall von München 24.000 Wohnungen.

Die neueste Zensuszahl von 2022 kommt mit repräsentativen Umfragen unter Eigentümern auf 22.000 dauerhaft leerstehende Wohnungen und damit zu einem ähnlichen Ergebnis. Es sind unfassbare Zahlen angesichts der nicht zu übersehenden Mietenkrise in unserer und vielen weiteren Städten. In München bewerben sich im Schnitt 229 Menschen auf eine Zwei-Zimmer-Wohnung, Berlin hält den Rekord mit 636 Bewerbern – an einem einzigen Tag.

Gründe für Leerstand

Die seit Jahrzehnten an Markt- und Rendite- und nicht an Mieter*innen-Interessen orientierte Wohnungspolitik in Deutschland sorgt dafür, dass Leerstände für Eigentümer profitabler sein können als Vermietungen. Denn: Die Bodenpreise steigen, und zwar exponentiell. Bei einem Beispiel aus einem Münchner Innenstadtviertel legte der Bodenpreis zwischen 2016 und 2019 um 80% zu. Da lohnt es sich, jahrelang brutal zu entmieten, Baustellen brachliegen zu lassen oder Planungsprozesse hinauszuzögern. Denn Zeit bedeutet Geld – das in den Taschen der Eigentümer landet, die auf steigende Preise beim Verkauf spekulieren.

Auch klassische Erbstreitigkeiten, die Nutzung von Wohnraum für Kurzbesuche oder AirBnB-Unterkünfte führen dazu, dass das Angebot an Mietwohnungen von Eigentümern verknappt wird. Weil sie es können und dafür keinerlei Konsequenzen erwarten müssen.

Deutschlandweit stehen insgesamt 1,9 Mio. Wohnungen dauerhaft leer. Das entspricht 4,3% aller Wohnungen. Als wir das Ausmaß des Leerstands in unserer AG diskutierten war klar: Diese Zahlen müssen mehr ins öffentliche Bewusstsein….

Die Leerstandsaktion und ihre Auswirkungen auf Partei und Stadtgesellschaft 

Wir beschlossen als mietenpolitische Gruppe mithilfe von Plakaten an den Fassaden leerstehender Wohnhäuser eben diesen Leerstand sichtbar zu machen. 

Angefangen haben wir im September 2023 mit der Kennzeichnung von 50 Gebäuden, im Oktober 2024 konnten wir bereits 100 Leerstände markieren. Die Aktion betrachten wir aus mehreren unterschiedlichen Gründen als erfolgreich: 

  1. Sie erzeugt mediale Aufmerksamkeit für das Problem, sowie für unsere Lösungsansätze
  2. Sie stärkt die Verankerung der Partei und ihrer Aktiven in der eigenen Stadt
  3. Sie politisiert den städtischen Raum in der Wahrnehmung der Einwohner*innen

„Schockzahlen für München: 22.000 Wohnungen stehen leer! Und die Mieten explodieren.“ (Schlagzeile der tz am 15.10.2024) Diese Überschrift konnten Münchner Passant*innen, die am 15.10.2024 an Zeitungsständern vorbeikamen kaum übersehen. Fast alle Presseorgane, die über Münchner Lokalpolitik berichten, griffen unsere Leerstandsaktion und den darin angeprangerten Missstand prominent auf. Diese mediale Aufmerksamkeit konnten wir durch einen Pressetermin am Morgen nach der Aktion gezielt auslösen. Darüber hinaus ließ sich eine kleine Gruppe beim Kleben der Plakate von einer Fernsehjournalistin begleiten. Neben dem objektiv skandalösen Umstand, dass in einer Stadt mit akuter Wohnungsnot zehntausende Wohnungen der Allgemeinheit entzogen werden, lockte der originelle, etwas abenteuerliche Aspekt einer koordinierten Aktion im Schutz der Dunkelheit den Blick der Medienlandschaft an. Auch die Posts, die von der Münchner Linken begleitend zur Aktion auf den sozialen Medien veröffentlicht wurden, gehören zu den meistgeteilten und -gelikten Posts auf unseren Social-Media-Kanälen. 

Diese mediale Aufmerksamkeit setzt die Verantwortlichen in der kommunalen Politik und Verwaltung unter Druck. Im Anschluss der Leerstandsaktion im Oktober 2024 sah sich das Sozialreferat genötigt, Stellung zu den „Schockzahlen“ zu nehmen. Dabei verstieg es sich jedoch, entweder aus Unwissenheit oder aus bewusster Täuschungsabsicht, zu der Behauptung, in der genannten Zahl von 22.000 leerstehenden Wohnungen seien auch kurzfristige Fluktuationsleerstände enthalten, obwohl diese vom Zensus ausdrücklich nicht miterfasst werden. Die hastige und unsouveräne Reaktion des Sozialreferats beweist aber, wie sehr wir die städtische Verwaltung mit unserer Aktion in Rechtfertigungsnöte gebracht haben.

Wir haben die Plakataktion mehrere Wochen vorbereitet. Zunächst wählten wir die Leerstände aus, die wir mit Plakaten markieren wollten. Hierzu wurden kleine Rechercheteams gebildet, die ihre jeweiligen Stadtviertel nach leerstehenden Gebäuden durchforsteten: Spaziergänge zur Suche nach leeren Klingelschildern oder besonders verschmutzten Fenstern, Gespräche mit Anwohner*innen, Sichtung von Presseberichten – all das half dabei, eine beachtliche Liste mit leerstehenden Gebäuden zusammenzustellen. Durch diesen Vorbereitungsprozess vertieft sich die Ortskenntnis der beteiligten Aktiven. Der eigene Wohnort wird auf einmal relevant für ihr politisches Engagement. Dies kann dazu beitragen, die Präsenz der Partei auch in bislang tendenziell vernachlässigten Stadtteilen auszubauen. Konzentrierten wir uns bei der ersten Aktion 2023 noch auf das Stadtzentrum, konnten wir unsere Leerstandsplakate 2024 durch sorgfältige Planung und Recherche über fast das gesamte Stadtgebiet verteilt kleben.

Gleichzeitig ist für uns klar: Die politische Beschäftigung mit leeren Häusern kann nicht die mit bewohnten Häusern ersetzen. Die Leerstandsaktion tritt nicht an die Stelle anderer Praxisformen, wie Haustürgespräche und die Unterstützung von Mietergemeinschaften, sondern begleitet und ergänzt diese.

Schließlich verändert die Leerstandsaktion auch die Beziehung der Einwohner*innen zum städtischen Raum. Entscheidend ist hierbei, dass sich die an den Gebäudefassaden angebrachten Plakate deutlich von klassischen Wahlplakaten unterscheiden. Die Leerstandsplakate versuchen nicht zuallererst mit prägnanten Slogans zu überzeugen, sondern fordern zur Interaktion heraus. Unter der Frage "Warum stehen hier Wohnungen leer?" befindet sich ein QR-Code, der auf die eigens für die Aktion eingerichtete Website "Linke gegen Leerstand" (www.linke-gegen-leerstand) führt. Hier werden die Besucher*innen ausführlich über die politischen Ursachen von Leerstand und mögliche Lösungsansätze informiert. Auf diese Weise verliert der städtische Raum im Bewusstsein der Einwohner*innen seine "Unschuld", hört auf ein neutraler Hintergrund ihres Alltagslebens zu sein. Dass das funktioniert hat, beweisen auch die zahlreichen Zuschriften, die wir nach der Aktion per Mail erhalten haben, in denen uns weitere Leerstände gemeldet wurden.

Eine andere Politik erkämpfen

Die Plakataktion macht deutlich: Dass wir auf unserem Weg durch die Stadt zahlreichen leeren und verwahrlosten Gebäuden begegnen, ist weder normal noch selbstverständlich. Die Gestalt der Stadt wird durch kapitalistische Eigentumsverhältnisse und eine von Kapitalinteressen beeinflusste Politik geprägt. Wir alle haben das Recht auf angemessenen Wohnraum. Das ist als Menschenrecht in internationalen und europäischen Verträgen geregelt. Aber Markt und Rendite stechen in der Realität Menschenrechte, wenn sie nicht auf Widerstand in der Bevölkerung treffen. Gegen eine Wohnungspolitik , die sehr viele Menschen in immer größere Not bringt, und an der sich sehr wenige ungehemmt bereichern können, müssen wir uns organisiert zur Wehr setzen.

Wir wollen Leerstände mit unseren Aktionen nicht nur sichtbar machen und skandalisieren, wir drängen auch auf ganz konkrete politische Maßnahmen: Wir fordern eine systematische Erfassung von Leerständen. Durch die Stromzählermethode wäre das einfach umsetzbar, wie Dortmund bereits seit vielen Jahren beweist. Wir fordern außerdem eine Leerstandsabgabe von 10 Euro monatlich pro Quadratmeter, sobald Wohnraum länger als sechs Monate unbewohnt ist. Im Zweifel muss jahrelang ungenutzter Wohnraum auch beschlagnahmt werden können: Wie in Hamburg und Berlin muss es auch in Bayern möglich sein, ihn auf Kosten der Eigentümer instand zu setzen und wieder zu vermieten. Ein weiterer Hebel wäre die Besteuerung von ungenutztem Boden: Die immer zahlreicheren Brachflächen und Bauruinen könnten gesondert besteuert werden. Der Bund hat den Ländern mit der so genannten Grundsteuer C die Möglichkeit dazu gegeben. Die bayerische Landesregierung versperrt sich dem und begünstigt damit die Spekulation mit Grund und Boden. Hamburg hingegen macht es vor und die Spekulation teuer: durch einen hohen Hebesatz von 8.000 %.

Aktuell ist weder auf kommunaler noch auf Landes- oder Bundesebene eine grundlegende politische Richtungsänderung im Umgang mit Leerständen in Sicht. Damit ist für uns klar, dass wir wieder nächtliche Plakatierungs-Touren durch München machen werden. Dass wir uns neue Aktionen einfallen lassen und uns mit anderen Gruppen vernetzen werden, um dafür zu sorgen, dass die 22.000 leeren Wohnungen im städtischen Raum zumindest für kurze Zeit nicht zu übersehen sind.