Ökonomie der Zeit – zur linken Kontroverse um Arbeitszeitverkürzung
Arbeitszeitverkürzung ist im Kommen – immer mehr Unternehmen bieten die Vier-Tage-Woche an. John Maynard Keynes prognostizierte für das Jahr 2030 die 15-Stunden-Woche, sie ist eine langjährige Forderung der Frauenbewegung. Die 25-Stunden-Woche steht als Forderung im SPD-Programm und in vielen Ländern wird erfolgreich der 6-Stunden-Tag erprobt. Eigentlich ist es höchste Zeit für den nächsten Schritt, für die 28-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, für kurze Vollzeit für alle, für Arbeitszeiten die zum sich verändernden Leben passen!
Die IG Metall setzt schon länger die Vier-Tage-Woche wieder auf die Tagesordnung und Wissenschaftler wie Heinz-J. Bontrup von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe) begründen die Überfälligkeit kollektiver Arbeitszeitverkürzung. Im VSA-Verlag ist im Frühjahr 2024 ein Buch zur neuen Aktualität von Arbeitszeitverkürzung mit Beiträgen von Margareta Steinrücke, Beate Zimpelmann, Philipp Frey, Sophie C. Jänicke, Steffen Liebig, Lia Becker, Andreas Ypsilanti, Nina Treu und anderen erscheinen. In den Texten wird herausgearbeitet, warum Arbeitszeitverkürzung aktueller ist denn je.
Ohne Arbeitszeitverkürzung werden sich die drängenden Probleme der Menschen heute nicht lösen lassen, sei es die sozial gerechte Bewältigung der Klimakrise, die geschlechtergerechte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Abstieg, der die Menschen in die Arme der Rechten oder einfach in die Politikverdrossenheit führt. Sophie Jänicke, Ressortleiterin im Funktionsbereich Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall schreibt darin u.a.: „Dass die IG Metall eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit fordert, ist Ausdruck einer arbeitszeitpolitischen Entwicklung, die die Organisation, ebenso wie andere Gewerkschaften, in den letzten Jahren vorangetrieben hat. … Die IG Metall hat in der Tarifbewegung 2023 für die deutsche Stahlindustrie den Vorstoß gemacht, die Vier-Tage-Woche auch in der Industrie umzusetzen. Denn die Vier-Tage-Woche als Chiffre für eine verkürzte Arbeitszeit, die mehr Work-Life-Balance verspricht, ist ein gutes Modell für die Arbeit der Zukunft in einer digitalisierten, klimaneutralen Industrie. … Die gesellschaftliche Resonanz, die die Vier-Tage-Woche und damit einhergehend die aktuelle Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in der Stahl-Industrie findet, zeigt, dass Beschäftigungssicherung nicht das einzig gute Argument für kürzere Arbeitszeiten ist.“
In vielen Branchen haben Arbeiterinnen und Arbeiter in diversen Befragungen den Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit zum Ausdruck gebracht. Mehr als 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten befürworten die Vier-Tage-Woche. Allerdings haben viele Angst vor Lohneinbußen. Darum ist klar: Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Lohnausgleich!
Wir sind viel zu bescheiden!
Im Programm der Partei Die Linke heißt es unter anderem.: „Die Linke steht für die Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und einen existenzsichernden, gesetzlichen Mindestlohn. Durch die Reform des Arbeitszeitgesetzes soll die höchstzulässige durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzt werden. Perspektivisch streben wir eine Obergrenze von 35 Stunden, längerfristig von 30 Stunden an. Wir wollen, dass dabei für die Beschäftigten ein voller Lohnausgleich gesichert wird. Die Mitbestimmungsrechte von Personal- und Betriebsräten sind vor allem im Hinblick auf Personal- und Stellenpläne zu erweitern. So ist zu erreichen, dass die Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu mehr Beschäftigung führt und der Leistungsdruck abgebaut wird.“
Bereits 2017 haben Lia Becker und Bernd Riexinger, weil das alte Normal erodiert, Vorschläge für ein neues Normalarbeitsverhältnis vorgelegt. Diese Vorschläge beruhen auf gutem Lohn, Planbarkeit, Humanisierung, kurzer Vollzeit und Demokratie am Arbeitsplatz, sie werden von den beiden Autor*innen als „Schicksalsfrage der Gewerkschaftsbewegung“ bezeichnet. Das scheint sich jetzt in der De-Industrialisierung und im Mitgliederschwund der Industriegewerkschaften zu bestätigen.
Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat jüngst „Bausteine für Klimagerechtigkeit“ publiziert, darin der Baustein „Für die Vier-Tage-Woche und ein gutes Leben für alle“ mit Theorie, u.a. Frigga Haugs 4-in-1-Modell, und vielen praktischen Beispielen. Das Institut Solidarische Moderne (ISM) bereitet ein Papier zur Arbeitszeitverkürzung vor mit dem Ziel, unterschiedliche Akteure im Bereich Arbeitszeitverkürzung zu einem möglichst breit geteilten Verständnis von solidarischer und emanzipativer Arbeitszeitverkürzung zu artikulieren.
Zum anderen soll das Papier als Aufhänger dienen, um den öffentlichen Diskurs aus progressiver Perspektive mit zu beeinflussen. Auch das Netzwerk Care-Revolution mit einer Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit auf die bezahlte und unbezahlte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit hat Vorschläge unterbreitet.
Ich will auf Andrè Gorz hinweisen, der im Zusammenhang mit einer Ökonomie der Gemeinschaftlichkeit auf folgendes hinweist: „Dass Maß des Reichtums ist hier ebenso wenig der Tauschwert wie die Arbeitszeit.“ Schließlich will ich den Vortrag von Ingrid Kurz-Scherf benennen, den sie anlässlich der Veranstaltung der attac AG ArbeitFairTeilen und der RLS zum 100. Jahrestag des 8-Stunden-Tages am 27. Oktober 2018 in Erfurt hielt: „Und es hat wenig Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen, dass sich der Glanz des Achtstundentags aktuell nicht übersetzt in eine Euphorie in Bezug auf den Sechsstundentag. Ich bin da gar nicht festgelegt, wir können auch über eine 28-Stunden-Woche reden. Ich habe sogar gelesen, die Zeit sei reif für eine 15-Stunden-Woche. Vielleicht sind wir immer noch viel zu bescheiden.“
Die Kontroverse
Eigentlich wäre davon auszugehen, dass das Thema Arbeitszeitverkürzung in der Partei Die Linke unumstritten ist. Umso mehr verwundert es, dass ausgerechnet Vertreter der Sozialistischen Linken (SL), die an linkssozialistische, links-sozialdemokratische und reformkommunistische Traditionen anzuknüpft, schon länger und jetzt wieder gegen kollektive Arbeitszeitverkürzung argumentieren. Im Gespräch zum Mitgliederentscheid zum bedingungslosen Grundeinkommen beziehungsweise eines Antrages der SL zur Ablehnung des dem Mitgliederentscheid entsprechenden Antrages des Parteivorstandes an den nächsten Parteitag sagt ein Genosse der SL sinngemäß, dass Arbeitszeitverkürzung dann sinnvoll wäre, wenn die Kapazitäten voll ausgelastet wären und Arbeitslosigkeit vorläge, die durch andere Auslastung der Kapazitäten abgebaut werden kann. Dem wäre aber heute nicht so, es gäbe Fachkräftemangel in vielen Bereichen, ergo wären die Kapazitäten gegenüber dem gesellschaftlichen Bedarf unter-ausgelastet und eine Arbeitszeitverkürzung die falsche Lösung. Deswegen, so seine Schlussfolgerung, sei auch die in der Partei ohne all zu viel Nachdenken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung blanker Unfug.
Die Sozialistische Linke sagt selbst von sich: „Wichtige Grundlagen unserer Positionen bilden marxistische Gesellschaftsanalyse und Strategiediskussion sowie links-keynesianische Positionen alternativer Wirtschaftspolitik.“ Bei Marx liest man hingegen folgendes zum Thema: „Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf. Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der einzelne seine Zeit richtig einteilen muß, um sich Kenntnisse in angemeßnen Proportionen zu erwerben oder um den verschiednen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten. Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion.“ (Grundrisse, Das Kapitel vom Geld, MEW Bd. 42, S. 105).
Bestimmte Aussagen können so nicht stehen bleiben und sind schlicht unhaltbar. „Wir haben Fachkräftemangel in vielen Bereichen“ kann mensch nicht behaupten, wenn gleichzeitig zu wenig ausgebildet wird, wenn gleichzeitig gesellschaftlich unnützes oder gar schädliches produziert wird (ich verzichte hier auf Beispiele), wenn gleichzeitig die industrielle Produktivität signifikant steigt. Partieller Fachkräftemangel ist nicht zu belegen, wenn es drei Millionen Erwerbslose gibt, wenn viele Menschen unfreiwillig in Minijobs schuften und drei Millionen junge Menschen keinen Berufsabschluss haben. Der logische Schluss aus einer falschen Annahme muss natürlich falsch sein: Weil wegen des unterstellten Fachkräftemangels die Kapazitäten unterausgelastet seien, sei Arbeitszeitverkürzung die falsche Lösung … und die in der Linken vertretene Forderung nach einer Vier-Tage-Forderung Unfug.
Ein aktuelles Beispiel: Die Kapazitäten in der Industrie, namentlich in der Autoindustrie, sind katastrophal unterausgelastet. Die Aufträge brechen weg, Autos werden auf Halde produziert, Zehntausende von Jobs werden gestrichen, ganze Fabriken werden geschlossen – bei Continental, Bosch, Opel, Ford und jetzt auch bei Volkswagen und Audi. Bei den Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch bei den Managern auf Werksebene macht sich Panik breit, ist Verzweiflung angesagt, liegen die Nerven blank. Aus Regierung und der Industrie kommen in wesentlichen zwei Vorschläge:
- Rheinmetall bekommt Rüstungsaufträge in Milliardenhöhe, schaut sich leerstehende Fabriken der Auto- und Zulieferindustrie an und übernimmt deren Personal, unter anderem bei Conti und Ford. Ohne eigene Alternativen zu entwickeln bleibt der IG Metall nichts anderes, als diesen Weg der Militarisierung mitzugehen.
- Das Aus vom Verbrenner-Aus propagieren CDU/CSU, AfD, BSW und FDP. Damit wird die Hoffnung geschürt, es könnte alles so bleiben, wie es war. Gleichzeitig würden Milliarden an Investitionen verbrannt und die umgebauten Fabriken, unter anderem in Zwickau, wären samt der Arbeiterinnen und Arbeiter dem Untergang geweiht.
Zur sozial-ökologischen Transformation gehören beide Komponenten: einerseits die soziale, materielle Absicherung von Wohnung, Bildung, Gesundheit, Teilhabe (Demokratie), Mobilität und guter Arbeit der Menschen auch durch Arbeitszeitverkürzung und andererseits die Nachhaltigkeit, die Dekarbonisierung von Produktion und Produkten – einschließlich des Verzichts auf unnütze und schädliche Produkte wie überdimensionierte Autos, teure Werbung und Rüstungsproduktion.
Es ist also der Blickwinkel, der die aufgeworfene Frage unterschiedlich beantworten lässt: Erwerbsarbeit als ökonomische Größe im Kapitalismus ohne alle anderen Dimensionen einerseits – oder Arbeit im umfassenden, die Gesellschaft und den Menschen formenden Sinne unter Berücksichtigung von Arbeitsteilung und Geschlechtergerechtigkeit. Wenn menschliche Arbeit und der Zeitaufwand dafür nur ökonomische Kategorien wären, hätte Vorname Nachnameauch nur zum Teil Recht wegen der oben genannten Widersprüche bezüglich des „Fachkräftemangels“. Aber Mensch, Arbeit und Zeit sind eben auch gesellschaftliche, politische, gesundheitliche, soziale Kategorien.
Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist Kampf um Emanzipation, um Gesundheit, Recht auf Leben, Teilhabe und Demokratie, der in der Bevölkerung auf viel Zustimmung trifft. Aus einem linken, marxistisches Verständnis der politischen Ökonomie ergibt sich das Primat der Gesellschaft und der Politik über die Ökonomie. Um diesen Kampf kann kein Bogen gemacht werden. Wenn die Arbeiter*innenklasse den Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit nicht führt, dann gewinnen die ökonomisch und politisch Herrschenden den Kampf um die Verlängerungen der Arbeitszeit.