Gelingt die Erneuerung als demokratische sozialistische Partei?

Die Antwort entscheidet über die Existenz der Partei Die Linke. Deshalb steht unsere Partei vor einer gravierenden Richtungsentscheidung: Wozu wird sie in diesem Land und in der Europäischen Union gebraucht? Es geht darum, ob Die Linke eine in der Gesellschaft verankerte sozialistische Partei sein will, die sich für die Lohnarbeitenden, für die sozial Benachteiligten und Bedürftigen in der Gesellschaft einsetzt – solidarisch hier vor Ort und bundesweit, europäisch und internationalistisch. Dies kann sie nur als Friedenspartei, als Partei, die die soziale und die ökologische Frage verbindet, die gegen jede Diskriminierung wegen Herkunft, Stellung im gesellschaftlichen Arbeitsprozess, Geschlecht, körperlicher und mentaler Verfasstheit oder Alter ankämpft.

Wir haben uns in der Endkrise der DDR 1989/90 schon einmal dieselbe Frage gestellt: Geben wir das Ziel Sozialismus auf und konzentrieren wir uns ganz auf die Verteidigung der alltäglichen Interessen der Ostdeutschen oder bringen wir beides zusammen? Wir brachen mit dem Stalinismus, nicht aber mit dem Sozialismus. Wir erachteten es als notwendig, über die bürgerlich kapitalistische Gesellschaft hinaus zu gehen. Es sind diese Erfahrungen gemeinsam mit jenen, die seit der Vereinigung der PDS mit der WASG neu gewonnen wurden, die in der heutigen Krise der Linken diskutiert werden sollten.

Die PDS war stark, als sie beides verbunden hat: Kritik des Kapitalismus, Kritik der herrschenden Politik und Kritik der Art und Weise des Beitritts der DDR zum Bundesgebiet. Wir wandten uns gegen die Verwandlung der Ostdeutschen in BundesbürgerInnen zweiter oder dritter Klasse. In der erneuerten Partei sollte eine Kultur des demokratischen Miteinanders, der Offenheit und Solidarität untereinander maßgeblich sein. Sie sollte sich zu einer Kümmererpartei und Partei der Bürger- und Menschenrechte, einer Partei in Bewegung entwickeln. Dieses neue Herangehen wurde als Voraussetzung dafür gesehen, sozialistische Ziele (wieder) glaubwürdig zu vertreten. In den neuen Bundesländern wurde das Prinzip der Partei von unten entwickelt und eine Führung hervorgebracht, die sich diesem strategischen Ziel verpflichtet sah. Praktizierte Selbstveränderung im Inneren und das von Menschen erfahrbare Ringen um Veränderungen in der Gesellschaft, die Auseinandersetzung mit Widersprüchen waren das Erfolgskonzept der PDS.

Von diesem Prinzip wurde jedoch bereits Ende der 1990er Jahre immer stärker abgewichen. Viele Funktionäre, Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sahen die Partei nicht mehr vorrangig als renitenten Stachel für Gerechtigkeit und ließen die Kritik am kapitalistischen System als Hauptursache der gesellschaftlichen Verwerfungen in den Hintergrund treten. So wurden die Grundlagen für einen Abstieg der Partei gelegt.

Dieser Abstieg wurde durch progressive gesellschaftliche Entwicklungen gestoppt. Gemeinsam mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und Bewegungen, auf dem Weg der Vereinigung der PDS mit der WASG wurde Die Linke eine Macht, die Einfluss nahm auf die Tagesordnung und die Kräfteverhältnisse im Kampf gegen die Agenda 2010 und den Weg zu neuer Aufrüstung. Es gelang, über große Differenzen hinweg eine gemeinsame und wirkungsstarke gesamtdeutsche Partei zu schaffen. Vielleicht kam der Erfolg 2005 und danach zu leicht. Die wichtigsten offenen strategischen Fragen wurden nicht diskutiert und entschieden. Die Arbeit an einer gemeinsamen sozialistischen Überzeugung im Programm der Linken fand bestenfalls in Zirkeln statt und war damit für die Partei letztendlich unwirksam. Es bildeten sich viele Strömungen mit stark gegensätzlicher ideologischer Ausrichtung heraus. Man redet übereinander, statt miteinander. Es gibt Hass und Verachtung.

Formelkompromisse anstelle von Entwicklung strategischer Klarheit herrschen vor. Kritik an Regierungen, an denen wir beteiligt sind, wurde – beziehungsweise wird – nicht selten unterdrückt. Andererseits wurden bzw. werden Ministerinnen und Minister oft ohne Kenntnis realer Hintergründe für getroffene Entscheidungen beschimpft.

Die Parteiführungen vermochten es immer weniger zu integrieren und den erforderlichen gemeinsamen Analyse- und Reflexionsprozess zu organisieren. Die Verknüpfung einer wirksamen Tagespolitik mit Strategie und Programmarbeit fand kaum statt oder blieb völlig aus. Einen vorläufigen Höhepunkt in dieser Entwicklung stellt der zurückliegende Erfurter Parteitag 2022 dar. Anstelle der Entwicklung einer integrierten Mitgliederpartei stand dort vor allem das Obsiegen über etwa ein Drittel der Delegierten im Mittelpunkt, die in wichtigen, in der Partei kontrovers diskutierten Fragen eine von der Parteiführung abweichende Meinung vertraten. Somit war es auch nicht möglich, eine Parteiführung zu wählen, die in der Lage gewesen wäre, die Partei zusammenzuführen und einen strategischen und organisatorischen Erneuerungsprozess zu beginnen. Das hierbei offenbarte Demokratie-Defizit und mangelnde Problembewusstsein sind Ergebnis jahrelanger Fehlentwicklungen. Im Parteivorstand sind seither maßgebliche politische Akteure der Partei nicht mehr vertreten.

Wir haben es versäumt, unsere eigenen Lehren aus dem Scheitern in der SED als Lern- und Erfahrungsprozess zu vermitteln und durchzusetzen. Es gelang uns nicht zu begründen, warum es dauerhaft wichtig war, eine Begrenzung von Wahlperioden, die nur Direktgewählte ausnimmt, eine weitgehende Trennung von Ämtern und Mandaten, die Stärkung der demokratischen Rechte der Mitglieder oder die Normalität von offenen Listen auf allen Ebenen durchzusetzen und immer wieder nach dem Gebrauchswert der Partei für die Bürgerinnen und Bürger zu fragen – für die, die mehr oder weniger gerecht bezahlt und unbezahlt, die Hauptarbeit in dieser Gesellschaft leisten und doch oft benachteiligt sind, für jene, die nicht am gesellschaftlichen Arbeitsprozess teilhaben können, für die, die sich gegen Menschenverachtung und Naturzerstörung engagieren, für die Menschenrechte für jede und jeden wollen!

Fortgesetzt werden Ideologien des liberalen Mainstreams übernommen, steht viel zu oft vor allem das Ziel der Regierungsbeteiligung im Mittelpunkt. Den öffentlichen Positionen in den wichtigsten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts liegt keine kollektive Analyse der gesellschaftlichen Klassen- und Kräfteverhältnisse oder der Strategien der imperialen Hauptmächte, nicht zuletzt der USA, der NATO und Russlands, zugrunde. Die Linke inszeniert sich öffentlich viel zu oft vor allem als sozialer und mäßigender Flügel des Mainstreams. Wahrgenommen werden wir deshalb heute überwiegend als Teil der etablierten Politik, und dies in Zeiten großer Konflikte, die dringend Positionen und Antworten von links erfordern. Im Sommer und Herbst 2015 und danach vermochte Die Linke nur völlig unzulänglich, Solidarität mit den Geflüchteten und den Einsatz für die Interessen derer in Deutschland, die schon lange bedroht sind von einem versagenden Schulsystem und explodierenden Mieten, von Zukunftsangst und Unsicherheit, erfahrbar zu verbinden. Während der Pandemie wurde meist völlig unkritisch die herrschende Politik mit ihren teilweise unverhältnismäßigen Eingriffen in das persönliche und gesellschaftliche Leben mitgetragen.

Und spätestens nach dem russischen Überfall auf die Ukraine fehlte ein klares „Die Waffen nieder!“. Die propagierte Position, der Krieg sei allein durch Russland verursacht und der Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine sei Vorbedingung für Verhandlungen, wurde mitgetragen. Es wurde versäumt, die Ursachen des Ukraine-Krieges, nämlich die imperiale Politik Russlands wie auch die Bestrebungen des Westens zur NATO-Ausweitung ins Zentrum zu rücken. So konnte keine überzeugende Friedenspolitik entwickelt werden. Zudem wurden die Beschlüsse gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete schon am Tag nach dem Erfurter Parteitag von namhaften Persönlichkeiten der Partei unterlaufen. Unkritisch wird von relevanten Strömungen der Partei die ideologische Inszenierung einer Blockkonfrontation des „demokratischen Westens“ gegen „autoritäre Regime“ mitgetragen, ohne das Eskalationspotential dieses Kurses zu benennen. Gegen die Demonstration am 25. Februar 2023 vor dem Brandenburger Tor wurde gehetzt. Die Spaltung der Partei wurde offenen Auges in Kauf genommen. Dieses wiederholte Versagen muss endlich eingestanden werden.

Der Erfurter Parteitag von 2022 hat es nicht vermocht, ein führungsfähiges strategisches Zentrum der Linken zu etablieren. Die Machtpolitik von Strömungen dominiert. Das Ergebnis ist eine immer einseitigere Ausrichtung der Partei. Die Gründung des BSW verschärft die Lage. Ein umgehender politischer Neuanfang ist notwendig.

Die Geschichte linker Parteien in Europa ist zugleich die Geschichte ihrer Spaltungen. Die Entwicklung der Partei Die Linke wurde international gerade deshalb viel beachtet, weil es ihr Anspruch war, trotz unterschiedlicher Auffassungen als geeinte gesellschaftliche Kraft zu wirken. Der Zersplitterung der Linken muss durch die Entwicklung neuer Formen der Kooperation auf Basis der ständigen Klärung der Grundpositionen entgegengewirkt werden – in Europa als auch in Deutschland selbst.

Aus unserer Sicht sind dafür fünf Aufgaben einzulösen.

Erstens: Wir müssen uns (wieder) all jenen zuwenden, die von den gegenwärtigen Zumutungen des Kapitalismus am meisten betroffen sind. Der Blick muss viel stärker auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere jener gerichtet werden, die am meisten auf Solidarität angewiesen sind. Diese Menschen sind meist betroffen von zu niedrigen Löhnen, Einkommen und Renten, von immer höheren Mieten und Lebenshaltungskosten, Kinderarmut, fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten der eigenen Kinder, Ängsten vor der Konkurrenz durch Geflüchtete in der Arbeitswelt, auf dem Wohnungsmarkt und um Sozialleistungen, Ängsten vor der Abwälzung der Kosten des ökologischen Umbaus der Gesellschaft auf die Lohnarbeitenden und vor Gewalt. Der so dringend erforderliche engagierte Einsatz für Geflüchtete, Kriegsdienstverweigernde und Schutzsuchende gehört untrennbar zur Auseinandersetzung mit diesen Problemen.

Zweitens: Wir müssen unser sozialistisches Profil stärken. Dies bedeutet, die zentralen Fragen der Umverteilung von Einkommen, Ressourcen und Rechten und von gesellschaftlichen Alternativen in die öffentliche Debatte rücken und um ihre Realisierung zu streiten. Wenn die Reichen in den Krisen und Kriegen reicher werden, ist dies ein Skandal. Vor allem die Vermögenden, das obere ein Prozent der Bevölkerung, das in Deutschland mehr als 15-mal so viel CO2-Emissionen wie die ärmere Hälfte verursacht, müssen endlich wirklich herangezogen werden, um Schulen und Kitas sowie das Verkehrssystem zu sanieren, um Pflegenotstand und die Altersarmut zu überwinden, damit der ökologische Umbau ohne sozial ungerechte Belastungen möglich wird, ohne Beeinträchtigung der unteren und mittleren Einkommen. Die Umverteilung von Entscheidungsmacht ist dafür die Voraussetzung. Es geht darum, mehr Demokratie zu erstreiten. Nur wenn die Lohnabhängigen mitbestimmen können über die notwendigen Umbauprozesse, werden diese mit ihnen gemeinsam und in ihrem Interesse möglich sein.

Drittens: Die sozialen, ökologischen, militärischen Verheerungen des heutigen Kapitalismus müssen endlich wieder als das eigentliche Problem thematisiert werden. Die Hauptursache sind die global agierenden Großkonzerne und Finanzinstitute, die die gesamten Ketten der Ausbeutung der Menschen und der Natur über die Produktion und Konsumtion bis zur Vermüllung kontrollieren. Vor diesem Hintergrund muss auch die aktuelle Politik der Bundesregierung umfassend und radikal kritisiert werden. Sie gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Lösung globaler Probleme. Wird dies nicht umfassend und offensiv von links thematisiert, stößt die extreme Rechte, vor allem mit Hilfe der AfD, in das politische Vakuum. Eine solche Debatte ist der wirksamste Beitrag, um die bereits vorhandene rechtskonservative Mehrheit, die zum Teil schon aus der Mitte derGesellschaft hervorgeht, im Land wieder zurückzudrängen. Die Rolle der AfD muss dabei noch konkreter entlarvt werden. Sie ist eben nicht die Partei der „kleinen Leute“, oder gar eine Friedenspartei. Sie ist die Partei der sozialen Ungerechtigkeit, der Aufrüstung und nationalistischen Schließung, einer radikalen freien Marktwirtschaft, eine Partei, die Gewerkschaften schwächen, das Streikrecht einschränken, soziale Rechte demontieren will. Dies alles, ihre Menschenverachtung, kommen in der öffentlichen Auseinandersetzung viel zu kurz.

Viertens: Voraussetzung für die skizzierte politische Ausrichtung und die Wirksamkeit der Partei Die Linken ist ein Neuanfang in unserer Partei selbst, der aktuelle Entwicklungen reflektiert und sich dabei zugleich immer wieder neu auf den Gründungskonsens dieser Partei besinnt. Als Partei zukunftsfähig zu sein, bedeutet, sich zu hinterfragen, Erfolge und Misserfolge zu analysieren und aus ihnen zu lernen, eine offene, nicht ausgrenzende Debattenkultur zu entwickeln und den überbordenden innerparteilichen Netzwerken Einhalt zu gebieten. Viel zu stark ist die Partei heute von Vorständen und Fraktionen geprägt, die den Mitgliedern die politische Ausrichtung vorgeben. Die Mitglieder sollen die Gelegenheit zur Gestaltung der Partei haben, dazu ermutigt und befähigt werden, selbst mitzureden. Viele neue Mitglieder, oft sind es junge, die zu uns finden, sind häufig zunächst eher gefühlsmäßig bei uns als mit einer begründeten politischen Überzeugung. Indem wir mit ihnen über unsere politischen Ziele und Praxen reden, gemeinsam mit ihnen in der Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft Positionen entwickeln und zum Gegenstand von Politik machen, fordern und fördern wir ihre Einschätzung und Meinung und lernen selbst dabei. Das wichtigste Feld im Alltag aber ist und bleibt die Wirkung vor Ort und im Betrieb, der Einsatz und die Hilfe für andere, das Kümmern um gesellschaftliche, ökologische und globale Belange. Hier wird Gesellschaft konkret erfahren.

Fünftens: Der Parteitag im Oktober hat zwei Aufgaben. Zum einen geht es um die Wahl eines Vorstands, der zum strategischen Zentrum der Partei wird, die Partei integriert und sie als eine sozialistische Partei führen will und kann. Ohne eine erneuerte Führung, auch dies eine Lehre aus der Vergangenheit, hat Die Linken keine Zukunft. Zweitens kommt es darauf an, in den zentralen umstrittenen Zeitfragen überzeugende Positionen zu entwickeln. Dies sind vor allem die Positionierung in der neuen Blockkonfrontation und als solidarische Friedenspartei, der Einsatz für die Lohnabhängigen und Benachteiligten in Zeiten der sozialen und ökologischen Krise, das Verhältnis zum liberalen Mainstream und zur neuen extremen Rechten sowie schließlich zu Fragen, die mit Asyl und Migration unter den Bedingungen der neoliberalen Globalisierung verbunden sind. Es hängt also Entscheidendes von der Arbeit der Delegierten ab. Die Debatte dazu beginnt jetzt, in jeder Basisorganisation, jedem Orts- und Kreisverband.