„Triggerpunkte“ erklärt die Krise der Linken – und zeigt Lösungen auf
Selten hatte ein Buch so eine große Bedeutung für die Linke. „Triggerpunkte“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser erklärt die gesellschaftlichen Gründe für ihre Krise und auch Fehler ihrer Strategie. Die rückwärtsgewandte Milieudebatte der letzten Jahre wirkt nach der Lektüre dieses Buchs wie eine Farce. Es zeigt der Linken als Partei zwei mögliche Wege für die nächsten Jahre auf: die inhaltliche Weiterentwicklung zur linksliberalen, ökologischen Bürger- und Menschenrechtspartei oder zur klassenpolitischen Linken.
Rechte Arbeiterklasse und linke Mittelklasse?
Die AfD beschreibt die arbeitende Klasse gern als rechts und konservativ. Viele deutsche Medien plappern diese Erzählung dankbar nach und stärken so die extreme Rechte. Zugleich bezeichnet die AfD und mit ihr konservative Intellektuelle wie Ulf Poschardt die Linke als abgehoben. Als Kronzeugen der „Degeneration der Linken zur Identitätslinken“ treten dabei liberale und linke Intellektuelle wie Andreas Reckwitz, Sahra Wagenknecht und Wolfgang Merkel auf.1 „Triggerpunkte“ rückt dieses Bild gerade. Denn wirklich empirisch haltbar ist diese Erzählung nicht.
Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser zeigen, dass die Arbeiterklasse weit weniger einheitlich denkt, als ihr gern zugeschrieben wird. Politische Positionen verschiedener Lager werden in den unterschiedlichsten Kombinationen geteilt oder abgelehnt. So kann eine Krankenschwester rechts, zugleich umweltbewusst und lesbisch sein oder andersrum ein Handwerker links und migrationskritisch. Viele Medien übertragen die entlang von Parteigrenzen geformten Einstellungen der Mittelschichten einfach auf die arbeitenden Klassen und Familien. Die Parteien haben jedoch schlicht ihren durchdringenden Einfluss auf die Arbeiterklasse verloren – was besonders für linke Parteien (aber durchaus auch für die Union als Volkspartei) ein Problem ist.
Mehr Konsens als Streit
Auch räumen Steffen Mau und seine Koautoren mit einem weiteren medialen Vorurteil auf: die Gesellschaft würde sich immer weiter polarisieren. Das Gegenteil ist der Fall. Im Gegensatz zur Zeit vor 1990 regiert bei vielen Themen wie etwa Gleichberechtigung, Klimaschutz und sozialer Ungleichheit ein überraschend großer Konsens. Stattdessen dominieren kurzfristige emotionale Aufreger der medialen „Hyperpolitik“2 entlang von Triggerpunkten wie Gendern, Windkraft, SUVs oder Lastenfahrrädern die Debatten.
Die Klassen und Milieus stehen sich dabei keinesfalls unversöhnlich gegenüber. So erkennen fast alle die Bedeutung des Klimawandels an. Fast alle finden Migration grundsätzlich notwendig. An kaum einem Punkt sind sich die Deutschen einiger als in ihrem Wunsch nach einer Reduzierung der Ungleichheit. Großen Streit gibt es darüber, wie diese Themen diskutiert werden.
Anders als die AfD oder Wagenknecht behaupten, ist beispielsweise die Arbeiterklasse bei Fragen der Gleichberechtigung und auch gegenüber Transpersonen überaus tolerant. Der Christopher Street Day ist manchem dann etwas zu viel, und es besteht eher eine passive Toleranz als eine große Diversity-Begeisterung. Auch andere Punkte überraschen: So ist die umweltbewussteste Alterskohorte eben nicht die jüngste, sondern die 60- bis 69-Jährigen. Die Einstellungen der „alten, weißen Männer“ unterscheiden sich politisch nicht wesentlich von der Gesamtgesellschaft. Sie sind nicht konservativer als der Rest der Bevölkerung.
Auch ist die Arbeiterklasse nicht viel migrationskritischer. Stattdessen gibt es hier stark divergente Ansichten. Die Handarbeiter wie Handwerker, Bauarbeiter und Industriemechaniker sind in diesen Fragen etwas konservativer als der Durchschnitt. Andererseits sind Krankenschwestern und Altenpflegerinnen im Vergleich fortschrittlich eingestellt. Am deutlichsten pro Migration sind hingegen Manager und technische Experten. Auch für den Umweltschutz können sich nicht Berufsgruppen wie Lehrerinnen am stärksten begeistern, sondern ebenfalls technische Experten wie Ingenieure, Architektinnen und Naturwissenschaftler. Sämtliche Teile der Arbeiterklasse sind dafür in Fragen von sozialer Umverteilung und Gerechtigkeit fortschrittlicher als viele Hochgebildete.
Probleme für die Linke
Die Linke ist daher gut beraten, sich diese sehr genaue empirische Untersuchung des politischen Bewusstseins in der Bundesrepublik ausgiebig anzusehen. Steffen Mau und Co zeigen hier eine doppelte Herausforderung für uns auf: Zum einen ist die Gesellschaft entlang von Gerechtigkeits- und Klassenfragen oben wie unten demobilisiert. Soziale Ungleichheit beschäftigt viele Menschen – nur hat das selten politische Konsequenzen.
Für Linke ist das eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich. Nach wie vor teilt eine überwältigende Mehrheit unsere Sorgen auf unserem Hauptthemenfeld – nur dafür streiten mag fast niemand. Ein paar Aufregerthemen gibt es hier aber durchaus: Bei ungerechtfertigtem Reichtum, Jachten und leistungslosen Managerboni hört für viele der Spaß auf. Hier muss Die Linke ihre Ansprache offenbar verändern, will sie wieder erfolgreich werden.
Ebenso wichtig ist, wie unterschiedlich die Klassen und Berufsgruppen über Themen sprechen. Die Studierten diskutieren Fragen des Klimaschutzes eher von der Notwendigkeit her: „Die Klimakatastrophe kommt und wir müssen etwas tun.“ Typischerweise untermauern sie diese Behauptung mit einer Vielzahl von Zahlen und Belegen. Demgegenüber wird unter Beschäftigten in Büros, Kliniken oder Handwerksbetrieben eher die Frage diskutiert, wie Klimaschutz gelingen oder misslingen könnte, vor allem aber, „wer dafür zahlen soll.“ So sind viele Beschäftigte in Industrie und Handwerk, die sonst eher auf die Bremse treten – und dies mit Aussagen wie „Sollen andere Länder doch erstmal was machen!“ begründen –, sehr dafür, Unternehmen und Reiche in die Pflicht zu nehmen, um für Klimaschutz zu sorgen. Sie sind stärker für staatliche Regulierung beim Umwelt- und Klimaschutz als für individuellen Verzicht. Warum sollte eine Friseurin in Berlin auch verzichten, wenn ihr ökologischer Fußabdruck im Gegensatz zum Superreichen zwanzigmal kleiner ist?
Ganz nebenbei zeigen Mau und Co, wie sehr die Ampel mit ihrem Heizungsgesetz und den Steuererhöhungen auf Energie gerade die arbeitenden Schichten beim Thema Klimaschutz verprellt und hier alle ihre Befürchtungen bestätigt. Es ist auch kein Zufall, dass nur die akademischste aller Parteien – die Grünen – für Klimaschutz durch Preiserhöhungen ist. Klimaschutz muss man sich dann eben leisten können. Ob die Grünen mit diesem Vorgehen dem Anliegen einen Gefallen tun, darf getrost bezweifelt werden.
Streitfragen: Migration und Bürgergeld
Hochaktuell sind die Erkenntnisse aus dem Buch zu den Themenfeldern Hartz IV/Bürgergeld und Migration. Hochqualifizierte mit viel Kontakt zu Menschen – von Sozialarbeitern bis Lehrerinnen – sind hier unter anderem besonders progressiv. Die arbeitenden Klassen sind bei diesen Fragen hingegen am stärksten gespalten. Ebenso wie bei MigrantInnen wird bei Erwerbslosen sehr genau darauf geschaut, wie sehr „jemand etwas verdient hat.“
Die Einstellungen zu Hartz IV gehen ausgerechnet in den Klassenfraktionen am weitesten auseinander, die von höheren Sätzen beim Bürgergeld am stärksten profitieren würden (denn je höher das Bürgergeld, desto höher muss der niedrigste Lohn sein). Entsprechend ist eine bedeutende Minderheit der arbeitenden, unteren Klassenfraktionen auch für Hartz-IV-Erhöhungen. Eine knappe Mehrheit lehnt das aber ab – aus dem Bedürfnis nach Abgrenzung und um die eigene Leistung hervorzuheben.
Ähnlich geht es den Befragten beim Thema Migration. MigrantInnen werden danach bewertet, ob sie hier „ordentlich arbeiten und nicht nur auf der faulen Haut rumliegen“ (wie es sinngemäß in vielen Gesprächen heißt). Je abstrakter nach Migration oder Erwerbslosigkeit gefragt wird, desto höher ist die Ablehnung und Abneigung. Je konkreter die Situation, desto höher wird dagegen die Hilfsbereitschaft. Familien, die fliehen mussten, weil ihr Haus zerbombt wurde, wird Hilfe zugestanden. Genauso sieht es beim Bürgergeldempfänger aus, der krank geworden ist und deshalb seine Arbeit verloren hat.
Für Die Linke ist die Aufgabe damit entsprechend klar: Wenn sie über Migration spricht, sollte sie weniger abstrakt von „offenen Grenzen“ oder von „Nützlichkeitsrassismus“ reden. Das versteht kaum jemand und es schadet mehr, als es hilft. Die Linke sollte hingegen empathisch und sachlich argumentieren, etwa anhand von Beispielen wie dem von Pham Phi Son aus Chemnitz, der nach 35 Jahren (!) Arbeit im Land abgeschoben werden soll.3
Die Linke kann sich Diskussionen über Leistung und Ansprüche schwer entziehen – wohl wissend, dass diese Debatte von Konservativen gerne missbraucht wird. Die Einstellungsmuster von MigrantInnen und Einheimischen unterscheiden sich in diesen Fragen übrigens kaum, zeigen Mau und Co. Lediglich bei eigenen Fluchterfahrungen werden Menschen empathischer – da unterschieden sich 1945 aus Pommern Geflüchtete kaum von denen aus Syrien von 2015. Statt abstrakt über Bedrohungslagen zu reden, ist es sinnvoller, über konkrete Probleme der Integration zu sprechen: Arbeit, Spracherwerb, Einzelunterbringung statt Massenunterkünfte.
Die breite Schicht der ArbeiterInnen lässt sich über Migrationsfragen politisch nicht gewinnen, wie jüngst Thomas Piketty in einer Langzeitstudie über das Wahlverhalten in armen und reichen Gemeinden Frankreichs zeigte.4 Mit Pikettys Untersuchungen, aber auch dem Buch von Mau und Co, lässt sich erklären, warum die Linke unter Geringverdienerinnen und Handarbeitern verloren hat: Die klassenpolitische Mieten- und Wohnkampagne zieht nur in städtischen Räumen und wird bei der Wahl durch Slogans von „offenen Grenzen“ konterkariert.
Linksliberal oder klassenpolitisch
Nach der Lektüre von „Triggerpunkte“ wird offensichtlich, dass der Linken für die nächsten Jahre zwei mögliche Strategien offenstehen, die aber nicht miteinander kompatibel sind: Entweder, Die Linke macht sich wieder zum Pol der menschenrechtlichen Auseinandersetzungen, wie sie es bis 2017 war, und gewinnt in der weiblichen Mittelklasse bei anhaltenden Verlusten in den arbeitenden Klassen und kleinstädtischen Räumen, oder sie schwenkt auf einen stärker klassenpolitischen Kurs um.
Der linksliberale Weg ist nicht ohne Vorbild. So erreicht die dänische Enhedslisten mit diesem Pro-Migrations-Kurs 6-7 Prozent. Außerhalb der mittleren und großen Städte kommt sie dafür nicht vor. Eine realistische Option bleibt diese Ausrichtung damit trotzdem – auch für Deutschland.
Eine stärkere klassenpolitische Ausrichtung hätte die Vorbilder KPÖ und PTB (Belgien), die mit einer solchen Strategie in den letzten Jahren ebenfalls Wahlerfolge erzielen konnten. Das würde bedeuten, Streitfragen außerhalb der sozialen Kernforderungen nach hinten zu stellen – wohlgemerkt ohne sie aufzugeben. Ein migrationsfeindlicher Kurs hingegen, wie ihn etwa die holländische SP nach großen internen Verwerfungen einschlug, hat die Partei in den Umfragen auf 3 Prozent geführt.
Beide Modelle haben etwas für sich, aber mit Blick auf die schwindende öffentliche und mediale Präsenz der Partei wäre eine baldige Entscheidung ratsam. Ich tendiere stark zur zweiten Variante, weil ich sie politisch überzeugender finde, aber auch, weil die deutsche Sozialdemokratie wie die Grünen – anders als in Dänemark – immer noch stark auf die linke Mitte setzen und die Konkurrenz hier sehr groß ist.
Ehrlicherweise muss dazu gesagt werden, dass beide Varianten aber zusätzlich inhaltlich und organisatorisch unterfüttert werden müssten. Mit bloßen Programmbeschlüssen ist es nicht getan. Bislang gibt es dazu wenig konkrete Vorschläge, und die Zeit bis zur Bundestagswahl ist für solch eine Grundsatzentscheidung ohnehin zu knapp. Steffen Mau und Co zeigen uns aber zumindest implizit erfolgversprechende Wege auf. Das macht Mut.
1) Sahra Wagenknecht, Wolfgang Merkel oder Bernd Stegemann als Rechts zu bezeichnen, ist infam. Sie plappern nur die Kulturkampfthesen der Rechten nach und machen sie stark. Das ist aber etwas grundlegend anderes, als selbst rechts zu sein.
2) So das zweite, gleichnamige, überaus lesenswerte Buch von Anton Jäger
3) Vietnamesen aus Chemnitz droht nach 35 Jahren die Abschiebung | MDR.