Wie schön ist es, Kommunist zu sein
Eine Stellungnahme zum Brief des Netzwerks „Progressive Linke“ an den Parteivorstand vom 25. Juni 2024
Kurzer Leerlauf der Geschichte
Vor kurzem erschien ein Papier des sich als „Progressive Linke“ verstehenden Netzwerks zur zukünftigen strategischen Ausrichtung der Partei. Die Autor*innen fordern darin, die „kritischen Fragen an die historische und aktuelle Funktion der politischen Linken“ zu „beantworte[n]“ (S. 5). [1] Das Papier nimmt für sich in Anspruch, als Brief an den Parteivorstand der Linken einen Beitrag zur aktuellen Parteientwicklungsdebatte zu leisten, und sucht hierfür nach Unterstützer*innen. Sollte der in dem Papier aufscheinenden politischen Linie innerparteilicher Erfolg beschieden sein, wird es in Bälde allerdings nicht mehr erforderlich sein, über eine Parteientwicklung zu sprechen: Eine Parteiabwicklung wäre der treffendere Begriff für den dann mutmaßlich einsetzenden Prozess.
Der Autorenkreis (bestehend aus Elke Breitenbach, Klaus Lederer, Thomas Nord und Christoph Spehr) konstatiert zutreffend, dass die Diskussion in der Partei im Nachgang der Kommunal- und Europawahlergebnisse vom 7. Juni 2024 „erneut von der Neigung des Ausweichens bestimmt [ist]“ (S. 3). Sein eigener Beitrag schafft hier allerdings keine Abhilfe. Aus der Neigung wird hier ein Gefälle. Aus dem Ausweichen wird eine scharfe Rechtskurve.
So wartet das Papier mit einer unerwarteten Innovation auf. Der vom Autorenkreis (von wem eigentlich nicht?) gewünschte „Weg zu einer modernen, fortschrittlichen Linkspartei“ (S. 11) stößt auf Hürden, vor allem auf die Tatsache, dass ihn so wenige Wähler*innen gemeinsam mit ihr zu beschreiten bereit sind. Die Ursache hierfür sieht der Autorenkreis in mangelnder „Klarheit“ (S. 4). Diese Klarheit soll nun mit Hilfe einer angemahnten Neujustierung des politischen Kompasses der Partei Die Linke herbeigeführt werden. Dem möchte man nun beinahe mit Karl Liebknecht antworten: „Nur aus schonungsloser Kritik kann Klarheit erwachsen; nur aus Klarheit Einigkeit“[2].
Allein: Karl Liebknecht (und nicht nur er) ist passé, zumindest wenn man dem Autorenkreis konsequent folgt. Das Papier schlägt ein Narrativ zur Bestimmung des politischen Koordinatensystems der „Progressiven Linken“ vor, welches, käme es von Newcomern linker Partei- (oder doch nur Parlaments?-)Politik wie Carola Rackete, als naiv bezeichnet werden könnte. Da aber die Mitglieder des Autorenkreises zwischen 1976 und 2005 zur Partei Die Linke bzw. zu ihren Quell- und Vorläuferorganisationen gestoßen sind, kann das Papier nur in seiner wohl erhofften (und hier im Fokus stehenden) Wirkung mit Naivität in Verbindung gebracht werden. Der Text scheint mithin auf die Naivität seiner Leser*innen zu spekulieren. Naiv ist der Autorenkreis selbst jedenfalls ganz sicher nicht.
In diesem Narrativ sieht man sich den Traditionen der „sozialistische[n] bzw. sozialdemokratische[n] Arbeiterbewegung“ sowie der „Aufklärung“ verpflichtet (S. 4). Soweit zum Schönen und Guten. Zeit für den Auftritt des Bösewichts, an dem die Partei in dieser Erzählung bis heute zu knapsen hat: Gemeint ist die kommunistische Bewegung, an deren Wiege auch Karl Liebknecht stand, die im 20. Jahrhundert „Demokratie, Gewaltenteilung und bürgerliches Recht“ beseitigt und die „stalinistische Barbarei“ (S. 5) hervorgebracht habe. Was wie ein dürftiger, aber mit heutigen akademischen Standards hierzulande durchaus kompatibler Essay zur Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung anhebt, landet wieder bei hochaktuellen politischen Fragen, geht es dem Autorenkreis doch darum, dass es „bei der Mehrheit der Menschen ankomm[t]“, „dass sich ehemals kommunistische Linke mit den universellen Menschenrechten und der Demokratie versöhnen.“ (S. 5)
Dass dies noch nicht ‚angekommen‘ ist, liegt ‚natürlich‘ an den für das linke Image so nachteiligen Dunkelroten: „Der tief verankerte Zweifel vieler Menschen an der Demokratiefähigkeit ehemals kommunistischer Parteien oder Funktionäre“ findet laut dem Autorenkreis seinen „Ursprung“ in der genannten „stalinistischen Barbarei“ – ergo muss endlich der „Bruch mit Ideologie und Praxis des ‚Leninismus‘ sowie gleichartigen Ideologien“ her (S. 5). Ferner von realhistorischen Verläufen könnten ein Geschichtsbild und eine Politikkonzeption kaum sein. Der Autorenkreis liefert keine konkreten Belege für seine auf „viele[…] Menschen“ rekurrierenden Stimmungsbilder, die in Wahrheit wohl eher die ganz persönliche Meinung der Schreibenden oder ihnen nahe-, gegebenenfalls hochstehender Freunde (möglicherweise durchaus geringer Zahl) widerspiegeln. Auch haben keine Befunde aus seriöser (das heißt in Deutschland leider häufig nur jenseits der akademischen Institutionen betriebener) Wissenschaft und Forschung die Notwendigkeit ergeben, den bisherigen Umgang der Partei Die Linke mit ihrer (Vor-)Geschichte in der Weise in Frage zu stellen, wie es der Autorenkreis tut.
In Wahrheit wieseln sich die selbsternannten „Progressiven“ mit diesem nicht besonders ansehnlichen Kunststück um die tatsächlich relevanten Fragen herum: Wie ist es möglich, dass 2001 bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im ehemaligen Ostteil der Hauptstadt 47,6 Prozent der Wähler*innen der PDS ihr Vertrauen schenkten, während Die Linke nach dem von der taz geprägten Motto „Hochburg kommt vor dem Fall“[3] bei der jüngsten Europawahl gleichenorts deutlich hinter dem BSW rangiert? Wie kam es dazu, dass die PDS bei der 2004er Landtagswahl in Brandenburg mit 28 Prozent der Stimmen nur knapp hinter der erstplatzierten SPD landete, aktuell Die Linke aber in Umfragen mit Blick auf die bevorstehende Landtagswahl im selben Bundesland der 5-Prozent-Hürde gefährlich nahekommt.
Diese Fragen wiederum wiegen besonders schwer, da drei der vier Mitglieder des Autorenkreises zu den genannten Landesverbänden gehören und deren Politik in den letzten Jahrzehnten in Amt und Mandat mitgestaltet haben. Man darf begründet behaupten, dass keine dieser politisch sehr relevanten Fragen ihre Antworten in Gestalt oder Gehalt des Kommunismus im 20. Jahrhunderts finden. Sinnvoller wäre es, die Ergebnisse der vom Autorenkreis selbst vertretenen Koalitionspolitik auf einen Zusammenhang mit schwindender Wähler*innenzustimmung, eben den vom Autorenkreis genannten „Zweifel[n] vieler Menschen“, abzuklopfen.
Es wäre mithin Selbstkritik angesagt – eine im Übrigen den besten Traditionen der Aufklärung verpflichtete Übung. Stattdessen bläst die „Progressive Linke“ zum Kampf, der auf einen Bruch mit bisherigen Pluralitäts- und Geschichtsverständnissen der Partei hinauslaufen würde. Man sollte dem Autorenkreis aus diesem Grund den Gefallen tun, seine Thesen und Andeutungen einer ernsthaften Betrachtung zu unterziehen und diese in seriöser Weise einzuordnen, zumal sie weitreichende Folgen für den Blick auf unsere Wurzeln und damit auf die Perspektiven unseres zukünftigen Wachsens haben.
Der Stalinismus – (immer noch unverstandener) Bruch mit sozialistischen Prinzipien
Es lohnt der Blick in die unmittelbare Vorgeschichte unserer Partei, um an Positionen zu erinnern, die bislang von keinem Parteivorstand der Linken in Frage gestellt worden sind. Sie wurden vielmehr öffentlich und explizit als gemeinsames Erbe der gesamten Partei beim Zusammenschluss von PDS und WASG deklariert. Auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED im Dezember 1989, dem faktischen Gründungsparteitag der PDS, hielt Michael Schumann ein in unserer Parteigeschichte oft emphatisch angerufenes, aber in jüngster Zeit wohl selten gelesenes Referat mit dem programmatischen Titel: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!“ Der Autorenkreis der „Progressiven Linken“ spielt mit seiner Forderung nach einem „Bruch mit Ideologie und Praxis des ‚Leninismus‘“ zwar auf den Titel dieses historischen Referats an, steht aber im Gegensatz zu dessen Kernaussagen.
Ausgehend von einer Bestandsaufnahme des immensen Schadens, welchen die Praktiken der Zeit der Herrschaft Stalins (und die nach seinem Tod an seine Nachfolger in der Sowjetunion und anderen realsozialistischen Ländern vererbten Methoden) den sozialistischen Gesellschaften und den darin lebenden Menschen zugefügt haben, plädierte Schumann für eine „ausgewogene Analyse, um die Erneuerung einleiten zu können“[4] und identifizierte die „Gefahr eines Bildes der Vergangenheit, das nur eine einzige Farbe hat.“[5] Was er damit meinte, hat Schumann 1998 sehr klar in einer gemeinsam mit Nadja Rosenblum für Utopie kreativ verfassten kritischen Besprechung des geschichtsrevisionistischen Schwarzbuchs des Kommunismus formuliert: Angesichts der schweren Vergehen und Verbrechen, die sich realsozialistische politische Systeme im 20. Jahrhundert haben zu Schulden kommen lassen, hätte eine „Kriminalgeschichte des Kommunismus“ aus seiner Sicht „ihre Berechtigung“, nicht aber eine „Weltgeschichte des Kommunismus als Kriminalgeschichte“![6]
Denn: „Die Frage, was die Verbrechen von sich kommunistisch nennenden Regimes oder Bewegungen mit Kommunismus zu tun haben, ist unabweisbar und tief berechtigt. Ein Verfahren der Subsumtion, durch welches uns Lenin und Stalin, Mao Zedong und Pol Pot, Ulbricht und Kadar, Tito und Enver [Hoxha], Castro und Ortega, Machel und Mengistu als politische Verwandte ersten Grades, als Triebe eines Stammes, als Ahnen eines ideologischen Geschlechts vorgeführt werden, ist wissenschaftlich dubios.“[7] Ein solches Verfahren schreibt unter umgekehrten Vorzeichen den von Schumann 1989 kritisierten „Missbrauch der kommunistischen Bewegung durch Stalin nach Lenins Tod“[8] fort – gleiches gilt für den Autorenkreis der „Progressiven Linken“.
Indem dieser Kreis den „Bruch mit Ideologie und Praxis des ‚Leninismus‘ sowie gleichartigen Ideologien“ (S. 5) favorisiert – wobei zu klären wäre, mit welchen „gleichartigen Ideologien“ hier ebenfalls kurzer Prozess gemacht werden soll –, rückt er in einer Weise von Schumann ab, die innerhalb der Linken neuartig wäre: Schumann charakterisierte den Stalinismus 1989 als ein von „Verlogenheit“[9] geprägtes „bürokratisch-zentralistisches Regime, vor dem Lenin oft gewarnt hat“[10]. Als Lenins Erbe wiederum rief Schumann positiv „die Methode der Überzeugung als die Hauptmethode der politischen Arbeit“[11] an. Die grundsätzliche Anerkennung des geschichtlichen Platzes der Oktoberrevolution 1917 teilte Schumann beispielsweise mit Enrico Berlinguer[12], der seine italienischen Genoss*innen daran erinnerte, „[w]ie schön […] es [ist], Kommunist zu sein“[13]. Wie Schumann war Berlinguer in der Lage, die „Erschöpfung der antreibenden Kraft des sowjetischen Modells“[14] zu erkennen, ohne dabei zu vergessen, dass die Oktoberevolution einst „der Emanzipation der Arbeiter und der Befreiung unterdrückter Völker auf allen Kontinenten große Impulse“[15] verliehen hatte.
Ähnlich schätzten dies auch dezidierte Gegner des Kommunismus ein, so beispielsweise der Ahnherr des Neoliberalismus, Friedrich August Hayek. Jenseits seiner mit paraphilosophischem Anspruch getätigten irrigen ökonomischen Aussagen, sticht Hayeks (zutreffende) Analyse hervor, wonach die „sozialen und ökonomischen Rechte“ der UNO-Charta – mithin die von den „Progressiven Linken“ genannten „politischen und sozialen Mindestansprüche[…]“ der „heutige[n] Vorstellung von Demokratie“ (S. 4) – Ausfluss der „marxistischen Russischen Revolution“[16] sind, und nicht bloß Ergebnis der nebulösen „Systemkonkurrenz“, die das Papier konzediert. Diese Entwicklung erfolgte nicht im Nebelreich der Ideen, sondern auf der Ebene realer Kämpfe, in denen die Kommunist*innen (gemeinsam mit anderen Linken) die Garanten demokratischen Fortschritts waren und sind – ob in den US-amerikanischen Südstaaten der Jim-Crow-Ära im Kampf gegen die Segregation[17], ob in Südafrika zu Zeiten des Apartheid-Regimes[18], oder im Indien unserer, vom Hindunationalismus geplagten Tage.
In diesem Lichte sei erneut Michael Schumann das Wort erteilt: „Die Denunziation von allem, was mit Marxismus, Kommunismus und Sozialismus zu tun hat, als verbrecherisch zielt nicht auf das Häuflein unverbesserlicher Stalin-Anhänger, die man mit der Lupe suchen kann. Ziel sind diejenigen, die sich nicht damit abfinden wollen, daß die stalinistische Befreiungslüge durch eine ultrakonservative Bewahrungslüge ersetzt wird.“[19]
Blinde Flecken
Ernst zu nehmen, wenn auch etwas unbeholfen formuliert, ist die Sorge des Autorenkreises vor „rechtsextreme[n] und rechts-konservative[n] Kräfte[n]“, die „rechtsextremistische und rassistische Einstellungen mobilisieren“, sodann „dieses politische Klima [nutzen]“ und „das politische Spektrum insgesamt nach rechts bis hin zum Angriff auf demokratische Rechte und Institutionen verschieben“ (S. 3). Zusammengefasst: Rechte tun Rechtes, um Rechtes zu erreichen – soweit der letzte Schrei einer Faschismusanalyse seitens der „Progressiven Linken“.
Die tiefen Spuren und Zerstörungen, die der Faschismus im 20. Jahrhundert hinterlassen hat, fehlen indes vollkommen im vorliegenden Papier. Damit fehlt die „inhumanste[…] Form des totalitären Staates“, der seinen Sieg 1933 in Deutschland „den inneren Widersprüchen der von Monopolen durchsetzten liberal-kapitalistischen Wirtschaftsverfassung“[20] verdankte, wie sich Wolfgang Abendroth 1954 im sozialdemokratischen Theorieorgan Die Neue Gesellschaft ausdrückte. Damit fehlt aber auch der immense kommunistische Anteil am weltweiten Kampf gegen den Faschismus – ein Ausweis demokratischer Legitimität, der für die vom Autorenkreis verfolgte Argumentation denkbar ungünstig ist.
Zwar heißt es, dass „[d]urch Bürgerkriege gegen die Arbeiter*innenbewegung, durch Sklaverei, Kolonialismus, den Imperialismus europäischer Nationalstaaten und die daraus folgenden Weltkriege Menschenrechte blutig außer Kraft gesetzt [wurden].“ (S. 5) Die Schärfe, mit der auf kommunistische Übel geschielt wurde, fehlt aber beim Blick auf das Sündenregister des Bürgertums. So heißt es denn auch: „Eine demokratische Linke muss stalinistische Verbrechen aufarbeiten und die Verletzung von Menschenrechten durch Regierende demokratischer Staaten klar kritisieren.“ Was aber ist mit Verbrechen von Staaten, die weder ‚stalinistisch‘ noch ‚demokratisch‘ in dem hier gemeinten Sinn sind? Was ist also mit Verbrechen von autoritär bis faschistisch regierten kapitalistischen Staaten, die historisch (und auch aktuell) gar nicht so selten sind wie es in der vom Autorenkreis vorgenommenen kuriosen Zeichnung der überwundenen „Weltordnung des 20. Jahrhunderts“ den Anschein hat? Diese Ordnung sei von „[p]arlamentarische[n] Demokratien mit kapitalistischer Eigentumsordnung und wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und Umverteilungssystemen, kommunistische[n] Parteidiktaturen im Namen der Arbeiterklasse, ausgeschlossene[n] und abhängige[n] Regionen im globalen Süden“ (S. 7) geprägt gewesen.
Abgesehen von der von Eric Hobsbawm schon in seinem erstmals 1987 erschienenen Buch „The Age of Empire“[21] in Erinnerung gerufenen Tatsache, dass im 20. Jahrhundert die allerwenigsten kapitalistischen Staaten parlamentarische Republiken waren und dass deren staatspolitische Existenz krassen Konjunkturen unterlag, geht hier die Subjekthaftigkeit der Akteure im globalen Süden vollkommen flöten. Die sicherlich subjektiv ehrlich gemeinte Abgrenzung von „Kolonialismus“ (S. 5 und 8) und „Kolonisierung“ (S. 6) hat den Autorenkreis demnach nicht daran gehindert, die antreibenden Kräfte der Dekolonialisierung (darunter insbesondere die kommunistisch orientierten) zu unterschlagen, die beispielsweise in Adom Getachews Werk „Die Welt nach den Imperien“[22] anschaulich werden.
An der zeitgenössischen äußersten Rechten scheint die „Progressive Linke“ angesichts ihrer eigenen eklatanten blinden Flecken vor allem die den Rechtskräften unterstellte „Allianz mit autoritären, nichtwestlichen Großmächten“ (S. 8) zu stören. Angesichts der leider sehr erfolgreichen ‚Melonisierung‘ der europäischen Rechten könnten wir jedoch alle demnächst Zeugen der effektiven ‚Melonisierung‘ Europas werden. Die Tatsache, dass ‚der Westen‘ geschichtlich auch eine Chiffre für eine rassifizierte imaginierte Gemeinschaft ‚weißer Menschen‘ war[23], rückt so derzeit in bedrohlicher Weise wieder in den Vordergrund und bedarf einer konsequent-demokratischen und sozialistischen Antwort – und keines faktischen Anschmiegens an den ‚eigenen‘ Imperialismus, den es im Weltbild des Autorenkreises allerdings nicht (mehr) zu geben scheint: Zwar wird der russische Imperialismus kritisiert. Ferner ist aber lediglich euphemistisch von einer „globalen Interessenpolitik der USA“ die Rede (S. 9) – und an ‚Europa‘ wird zwar die „Abschottung“ (S. 7) kritisiert, ansonsten gilt aber für den Autorenkreis: „Die europäische Integration kann […] ein Modell auch für die globale Integration sein.“ (S. 9) Was wohl unsere – mit uns in der Europäischen Linkspartei verbundenen und sich zum Teil als kommunistisch verstehenden – Schwesterparteien beispielsweise in Griechenland, Spanien und Portugal davon halten?
Ressourcen und/oder Klassen
Die für die Formulierung eines sozialistischen Projekts essentielle Feststellung des Programms der Partei Die Linke heißt: „Deutschland ist eine Klassengesellschaft.“ Und genau diese Klassengesellschaft ist laut an gleicher Stelle zu findender programmatischer Absichtserklärung zu „überwinden“. Als ein früher Schritt auf diesem Weg ist die Entwicklung eines „neue[n] Klassenbewusstsein[s]“ der arbeitenden Menschen erforderlich, um die „Entstehung und Durchsetzung von Klassenmacht“ von unten als Voraussetzung für das Erkämpfen tatsächlicher demokratischer Fortschritte (und Verteidigung des auf diesem Wege schon Erreichten) nicht als fernen Traum erscheinen zu lassen – soweit an dieser Stelle das Referat des jüngst (auch aus dem für die „Progressive Linke“ schreibenden Autorenkreis) oft geschmähten Erfurter Parteiprogramms. Man sollte es stattdessen mit Heinz Bierbaum, dem Vorsitzenden der Rosa-Luxemburg-Stiftung, halten, der kürzlich erklärte: „Es ist […] nicht nötig, das Erfurter Programm umzuschreiben. Es stellt […] immer noch eine gute Grundlage für ein linke, sozialistisch ausgerichtete Politik dar. Allerdings ist es nötig, die strategisch-politische Ausrichtung angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse neu zu bestimmen.“[24]
Demgegenüber fordert der Autorenkreis eine „Reform des Grundsatzprogramms“ (S. 12). Eine solche „Reform“, die man wohl zutreffender als „Gegen-Reform“ bezeichnen müsste, hat es zuvorderst auf die Analyse der zu verändernden Gesellschaftsstruktur abgesehen, woran sich entsprechende politische Umorientierungen anschließen müssten. Der gesellschaftliche Grundkonflikt scheint laut Autorenkreis der zwischen „ressourcenstarken Gruppen“ einerseits (S. 10) und „ressourcenschwächeren Gruppen“ andererseits (S. 11) zu sein. So allgemein und unspezifisch gehalten, kann mit einem solchen Koordinatensystem selbst die vom Papier geforderte (und als erster Schritt durchaus wünschenswerte) „soziale[…] Begrenzung des Kapitalismus“ (S. 5) nicht gelingen – von darüber hinausgehenden Perspektiven ganz zu schweigen und seien sie auch nebulös bloß als „Übergang zu etwas Neuem“ (S. 11) umschrieben.
Was der Autorenkreis im Namen der „Progressiven Linken“ mit der Partei Die Linke vorhat, ist in Wahrheit sehr regressiv, missachtet das Vorhaben doch die tatsächlichen Triebkräfte für eine nach vorne gerichtete gesellschaftliche Umformung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das zu Recht, wenn auch eher rhetorisch, vom Autorenkreis geforderte „linke[…] Gegenprogramm zu den vermeintlichen Lösungsangeboten der Rechten“, mit dem ein Kampf „um die gesellschaftliche Hegemonie“ geführt und aufgezeigt wird, „an welche strukturellen und systematischen [sic – gemeint ist wahrscheinlich systemischen] Grenzen die bestehende Wirtschafts- und Eigentumsordnung dabei stößt und wie diese Grenzen verschoben und überwunden werden können“ (S. 3), lässt sich mit dem Koordinatensystem des Papiers nicht finden. Für die im Papier skizzierten Orientierungen benötigt man allerdings die Partei Die Linke nicht. Es gibt für die von den „Progressiven“ verfolgten Zwecke bereits eine Partei im bundesdeutschen Parteienspektrum: die SPD und darin besonders der ehemals an Andrea Nahles orientierte Flügel mit seiner Orientierung auf eine bloße „Einhegung, Begrenzung und Regulierung des kapitalistischen Gewinnstrebens“[25] als dem allerhöchsten der politikgestalterischen Gefühle.
[1] Seitenangaben im Text beziehen sich auf Netzwerk Progressive Linke: Mut statt Angst – Für eine erkennbare demokratische, moderne Linke in Deutschland und Europa!, 25. Juni 2024, online unter: https://progressive-linke.org/wp-content/uploads/2024/07/Netzwerk-Progressive-Linke-Brief-an-den-PV-250624-A.pdf [Abrufdatum: 7. Juli 2024]
[2] Karl Liebknecht: Der neue Burgfrieden [1918], in: ders.: Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, Berlin (Ost): Dietz 1952, S. 468-471, hier S. 471.
[3] Rainer Rutz: Hochburg kommt vor dem Fall, in: taz.de, 11. Juni 2024, online unter: https://taz.de/Berliner-Linke-nach-der-Europawahl/!6013456 [Abrufdatum: 7. Juli 2024]
[4] Michael Schumann: Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System! [1989], in: Gesine Lötzsch (Hrsg.): Alles auf den Prüfstand! Texte zur DDR-Geschichte im „Neuen Deutschland“, Berlin: Neues Deutschland 2011, S. 11-23, hier S. 15.
[5] Ebenda, S. 14.
[6] Michael Schumann / Nadja Rosenblum: Weltgeschichte des Kommunismus als Kriminalgeschichte. Nach der Lektüre des „Schwarzbuchs des Kommunismus“, in: Utopie kreativ, Nr. 97-98 / 1998, S. 111-117, hier S. 111.
[7] Ebenda.
[8] Schumann: Stalinismus, a.a.O., S. 14.
[9] Ebenda, S. 17.
[10] Ebenda, S. 16.
[11] Ebenda, S. 17.
[12] Vgl. allgemein Phillip Becher: Ein Kommunist von gestern für den Sozialismus von morgen, in: Jacobin, 11. Juni 2024, online unter: https://www.jacobin.de/artikel/enrico-berlinguer-italien-kommunist [Abrufdatum: 7. Juli 2024].
[13] Enrico Berlinguer: Für ein freies Spanien in einem demokratischen Europa, in: Beiträge zum wissenschaftlichen Sozialismus, Nr. 7 / 1976, S. 181-190, hier S. 190.
[14] Enrico Berlinguer: Bericht auf dem XVI. Nationalen Parteitag der Italienischen Kommunistischen Partei, in: Die italienischen Kommunisten – Bulletin der IKP für das Ausland, Nr. 1 / 1983, S. 3-77, hier S. 22.
[15] „In Osteuropa sind Reformen nötig“. KPI-Generalsekretär Enrico Berlinguer über den Streit mit Moskau und den italienischen Weg zum Sozialismus, in: Der Spiegel, Nr. 9 / 1982, S. 124-134, hier S. 124.
[16] Friedrich August Hayek: Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen Ökonomie [1973-1979], Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 254.
[17] Vgl. Robin D.G. Kelley: Hammer and Hoe. Alabama Communists During the Great Depression. 25th Anniversary Edition, Chapel Hill: University of North Carolina Press 2015.
[18] Vgl. Ronnie Kasrils: Steckbrieflich gesucht. Undercover gegen Apartheid, Essen: Neue Impulse 1997.
[19] Schumann / Rosenblum: Weltgeschichte, a.a.O., S. 117.
[20] Wolfgang Abendroth: Demokratie als Institution und Aufgabe, in: Die Neue Gesellschaft, Nr. 1 / 1954, S. 34-41, hier S. 38.
[21] Vgl. Eric Hobsbawm: The Age of Empire 1875-1914, New York: Vintage 1989, S. 110f.
[22] Vgl. Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung, Berlin: Suhrkamp 2022.
[23] Vgl. Domenico Losurdo: Die Sprache des Imperiums. Ein historisch-philosophischer Leitfaden, Köln: PapyRossa 2011.
[24] Heinz Bierbaum: Am Tiefpunkt, in: Zeitschrift Luxemburg, Juni 2024, online unter: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/am-tiefpunkt [Abrufdatum: 7. Juli 2024].
[25] Andrea Nahles: Denken und Handeln für die Menschen, 5. Mai 2018, online unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Reden/AN_Rede_200_Jahre_Karl_Marx.pdf [Abrufdatum: 7. Juli 2024].