Erneuerung im wirklichen Leben

Die linke Zivlgesellschaft ist stark, wenn sie zusammenfindet: #HandinHand – Kundgebung gegen den Rechtsruck in Berlin

„… weil die Politik dem wirklichen Leben nicht entfliehen kann!“ (Lothar Bisky[1])

Wie machen wir weiter? Was muss jetzt geschehen? Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Braucht es linke Politik, wenn sie kaum gewählt wird? Notwendige Fragen nach einem Wahlergebnis von 2,7 Prozent für Die Linke bei der Europawahl 2024.

Der Wahlkampf als Kandidatin zur Europawahl war intensiv, anstrengend und lehrreich. Auch wenn ich „nur“ auf dem aussichtslosen Platz 19 kandidierte, saß ich wochenlang auf zahlreichen Podien von Gewerkschaften, Verbänden und Schulen in allen Teilen Niedersachsens, diskutierte mit Kreisverbänden und Journalist*innen und warb an Infoständen für ein fortschrittliches Europa. Es scheint zum Parteihabitus zu gehören, nach einer Wahl ein Papier zu verfassen zu der Frage, wie es nun weitergehen „muss“, in dem aber kaum etwas steht, was nicht bereits irgendwo und irgendwann gesagt worden wäre. In manchen Wortmeldungen steht auch nur, was falsch gelaufen sei oder gar, dass es nun vorbei sei mit der Linken. Auch das ist nicht neu, gerade dann nicht, wenn ein Parteitag mit Wahlen vor der Tür steht. Zudem: Die Linke steckt nicht erst seit gestern in der Krise.

Nach der Europawahl begegne ich nun enttäuschten, teils schockierten, teils wütenden Genoss*innen, mehrheitlich aus den Bundesländern, die bisher zweistellige Wahlergebnisse gewohnt waren. Resignation und ein gewisser Gewohnheitseffekt dagegen in Gesichtern, deren Ergebnisse schon bei vergangenen Landtagswahlen im unteren einstelligen Bereich herumdümpelten. Es gibt viele Neumitglieder, die motiviert Einsatz zeigen. Hier und da – wie zu erwarten – hört man den lauten, grollenden Ruf nach rollenden Köpfen, nach Konsequenzen in der Personalpolitik, nach mehr Ost-Politik, wahlweise nach mehr West-Politik, nach einer Ost-West-Gesamtstrategie, nach Konsequenzen für die Zentrale in Berlin, die angeblich inkompetent, fehlbesetzt, unfähig sei. Aber es sind auch eine Menge ruhigere Töne zu vernehmen, die man lange nicht gewohnt war, die zuvor oft in der dröhnenden Rhetorik der Abspalter*innen untergingen und auch jetzt noch nicht viel Raum erhalten.

Wenn man ihnen zuhört, spürt man das Verlangen nach gemeinsamen Lösungs- und Strategiefindungsprozessen, nach einem Ende der ewigen Zankereien, der Intrigen und Machtspiele, des Sektierertums und der Spaltereien. Man erfährt ein großes Bedürfnis nach solidarischen Abläufen, nach der Öffnung neuer Diskussionsräume und Mitgestaltungsmöglichkeiten, nach Modellen, die vielen motivierten Neumitglieder einzubinden, nach einer Mitmachpartei. Viele von ihnen wünschen sich, dass wir unsere Vision einer progressiven Gesellschaft gemeinsam weiterentwickeln, die Partei wieder aufbauen, wiedererstarken lassen und für konsequent wertebasierte Politik einstehen: für Minderheiten, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, Feminismus, Frieden, Solidarität und Menschenrechte.

Dabei dreht sich nicht alles um die Partei selbst und ihre inneren Kämpfe um verbleibende Pöstchen und Ressourcen. Im Kern geht es um die künftige Ausrichtung unserer Gesellschaft und den Stellenwert, den eine politische und gesellschaftliche Linke darin haben wird.

Die Notwendigkeit progressiver, linker Politik hängt nicht von guten Wahlergebnissen ab. Eher andersherum: Je schlechter das Wahlergebnis für linke Politik ausfällt, desto notwendiger ist die (Neu-)Formierung progressiver Kräfte zum Protest und Widerstand und zur politischen Gestaltung auf allen Ebenen. Gute Ergebnisse erleichtern es uns, unsere Vorstellungen besser umzusetzen – in den Kommunen, auf der Straße mit Initiativen und Verbänden, in den Landesverbänden und -regierungen, im Bundestag oder eben im Europaparlament.

Ein wichtiges Ziel ist die Überwindung der konservativen und rechtsextremen geistigen und politischen Hegemonie. Dafür müssen wir rechtsextreme Strukturen auf parlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Ebene schwächen und wenn möglich zerschlagen, ihrem fortschreitenden Erstarken offensiv entgegentreten und dem Faschismus, soweit es geht, effektiv entgegenwirken. Die Mittel, die unsere Demokratie und Verfassung uns zur Abwehr faschistischer Zersetzungsprozesse an die Hand geben, sollten genutzt werden. Die Option eines Verbotes der AfD sollte vom Bundesverfassungsgericht geprüft werden. Ebenso müssen die Akteur*innen des Kapitals und der Autokratie als Antagonist*innen identifiziert und in ihrem Wirken, das kontinuierlich dem Gemeinwohl und dem Streben nach Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit schadet, ausgehebelt werden.

Dies kann uns nur gelingen, wenn wir uns nicht von Wahlergebnissen und Rückschlägen aufhalten und von Bedrohungen und bedrohlichen Szenarien einschüchtern lassen, sondern kontinuierlich weiter auf eine sozialistische, sozial gerechte und solidarische Gesellschaft hinwirken, ohne Grenzen im Denken und mit guten umsetzungsfähigen Konzepten, die marginalisierte Menschen bei der Überwindung ihrer Herausforderungen konkret unterstützen. Dieser Punkt ist leicht gesagt, wenn man nicht in einem von Landflucht betroffenen Dorf wohnt, in dem völkische Nazis die Dorfstruktur übernehmen und man für linke Einstellungen „gelyncht“ werden könnte.

 

Aufnahme des Ist-Zustands: Der gesellschaftliche Kollaps und die fragmentierte Linke – oder warum ein Personalwechsel nicht mit tiefgreifendem Wandel zu verwechseln ist

Schaue ich mir Aufzeichnungen aus der Geschichte der Linken und ihrer Vorgängerparteien an, so erkenne ich im Geschriebenen Parallelen zu den jetzigen Ereignissen. Hinfallen, Stolpern, Aufstehen. Zusammenbruch, Umbruch, Aufbruch. Wir stehen nicht zum ersten Mal vor dieser Herausforderung. Der frühere, mehrfache Bundesvorsitzende der PDS, Lothar Bisky, hat einige bedenkenswerte Aufzeichnungen und Überlegungen auch gerade zu diesen Fragen hinterlassen.[1]

Ein mieses Wahlergebnis für Die Linke bei sich gleichzeitig verbessernden Wahlergebnissen für die extreme Rechte in den Kommunen, den Ländern, im Bund und in der EU ist keine bloße Wahlschlappe: es ist eine Zäsur, eine direkte Bedrohung unserer demokratischen Gesellschaftsform und Grundrechte. Übernimmt die extreme Rechte eine Regierung, ist sie zumindest innerhalb der EU bisher auch wieder abwählbar, jedoch stößt bereits ihre bloße Existenz im parlamentarischen Parteiengefüge regressive Legitimationsprozesse und reale Entscheidungen an, die das Leben für viele schlechter machen, die ein dynamisches Eigenleben entwickeln und schwer umkehrbar sind. Für viele Menschen bedeutet dies eine konkrete, existenzielle Gefahr. Die Normalisierung rechtsextremer Strukturen, rechtsextremer Rhetorik und dazugehöriger „Remigrations“-Fantasien steigert rechtsextreme Gewalt. Nicht nur verbale und strukturelle, sondern auch physische Gewalt, die für Betroffene tödlich enden kann.

Betroffen sind die, die als Sündenbock für jegliche persönliche und gesellschaftliche Schieflage herhalten müssen. Betroffen kann fast jede*r sein: Seien es Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Ausbeutung, Folter und Unterdrückung im Mittelmeer ertrinken, in den Wäldern zwischen Belarus und Polen erfrieren, in der nigrischen Wüste ausgesetzt verdursten, in Lagern an den EU-Außengrenzen festgesetzt oder für ihre Flucht kriminalisiert und auf Jahrzehnte in Gefängnisse gesperrt werden. Man muss gar nicht außerhalb Europas oder an die Außengrenzen schauen: Manche unserer migrantisierten Nachbar*innen, Mitbewohner*innen, Freund*innen dürfen nicht arbeiten, nicht umziehen und sich nicht frei bewegen, leben mit der täglichen Angst vor Abschiebung, werden von einer Duldung in die nächste gedrückt, damit sie sich ja nicht in Sicherheit wägen oder gar integrieren. Manche unserer Kolleg*innen, die neben uns ihre Arbeit verrichten, sind tagtäglich rassistischen Anfeindungen ausgesetzt. FLINTA*-Personen sind immer wieder sexualisierter und/oder homophober, transfeindlicher, menschenfeindlicher Gewalt ausgesetzt. Wohnungs- und Obdachlose werden mit Vorliebe übersehen, außer es geht darum, das Stadtbild zu „säubern“. Empfänger*innen von Bürgergeld oder Zusatzleistungen müssen ebenso als Sündenböcke herhalten.

Es geht um Menschen, die immer wieder an die Grenzen ihrer Privilegien stoßen. Dabei geht es um keine kleine Minderheit, es ist die große Mehrheit: Es sind die Menschen von nebenan, Menschen in der eigenen Familie, wir selbst, Menschen, die für ihre Arbeit nicht gerecht entlohnt werden, deren kleine und mittelständische Betriebe im Wettbewerb mit den großen Konzernen nicht mithalten können. Es geht um Menschen, die eine Behinderung haben, die einen anderen Menschen pflegen, alleinerziehend sind oder andere Care-Arbeit leisten, Menschen, die von ihrer Rente nicht leben können, die mentalen Herausforderungen begegnen, die von Sexismus betroffen sind oder wegen Stellenabbaus ihre Arbeit verlieren, Menschen, die von Armut und Prekarisierung betroffen sind und sich dafür schämen, es nicht zugeben oder wahrhaben wollen, weil sie darauf getrimmt wurden, dass dieser Zustand in einer nichterbrachten Eigenleistung statt in gesellschaftlichen Zusammenhängen begründet läge. Betroffen sind auch die neuen Generationen, denen wir eine ungewisse und unbezahlbare Zukunft auf einem unbewohnbaren Planeten hinterlassen, und diejenigen, denen wir durch Ausbeutung, Naturzerstörung und unfaire Wirtschafts- und Handelspolitik schon jetzt ihre Lebensgrundlagen und ihre Gesundheit rauben.

All diese Gruppen und noch einige mehr machen den großen Teil unserer Gesellschaft aus, doch obwohl fast jede*r  auf die ein oder andere Art oder gleich auf mehrere Weisen gleichzeitig betroffen ist, sind die Gruppen ausreichend heterogen, dass sie gegeneinander aufgehetzt und ausgespielt werden können, statt sich solidarisch als große marginalisierte Klasse im Kampf gegen Ausbeutung, Armut und Kapitalismus, gegen Hass, Hetze und Rassismus, gegen Unterdrückung, Patriarchat und Faschismus zu begreifen und gemeinsam zur Wehr zu setzen.

Vor diesem Hintergrund ist eine Politik der Kürzung, des Sozialabbaus und der Übernahme rechtsextremer Forderungen und Narrative, wie sie die Regierungsparteien und die konservative Opposition betreiben, nicht nur unverantwortlich, sie ist ein explosiver Verstärker, der die Gesellschaft weiter auslaugt und in die weit geöffneten Arme der extremen Rechten treibt. Die vielbeschworene Brandmauer fällt: Die CDU/CSU grenzt sich nicht konsequent nach rechts ab, SPD und Grüne normalisieren die Forderungen der Rechten nach ausgrenzender Migrationspolitik, z.B. durch das GEAS-Abkommen, durch das sogenannte „Rückführungsverbesserungsgesetz“ und die Einführung der diskriminierenden Bezahlkarte. Und auch die Spaltungspolitik des BSW, die unterdrückte, benachteiligte Menschen gegeneinander ausspielt, schlägt in die gleiche Kerbe.

Nach der Abspaltung regressiver Kräfte um Sahra Wagenknecht und dem mit der Abspaltung einhergehenden „Mandate-Klau“ ist Die Linke nicht nur im Bundestag verkleinert und ihres Fraktionsstatus beraubt, auch auf Landes- und Kommunalebene wurde der Partei und den parlamentarischen Fraktionen Schaden zugefügt. Die Konsequenz des noch fortlaufenden Abspaltungsprozesses ist eine beschädigte und fragmentierte Linke, die sich in einer Art Schockstarre befindet und mit dunkler Vorahnung den kommenden Landtagswahlen und der anstehenden Bundestagswahl entgegengeht.

Nun gilt es, trotz dieser Situation die vielen nach der Abspaltung neu- und wiedereingetretenen Mitglieder willkommen zu heißen und neuen Mut zu schöpfen, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, ohne sich zu zerstreiten, inhaltliche Debatten zu führen, ohne Dogmen nachzuhängen oder in Grabenkämpfe zu verfallen, sich ohne Sektierertum und intrigante Machtspielchen im Hintergrund strategisch und personell zu formieren und Abläufe so zu koordinieren, dass die verschiedenen Ebenen der Partei gut integriert zusammenarbeiten und Kommunikationsprozesse innerparteilich transparent gestaltet sind. Gleichzeitig sollten wir Klärungsprozesse für ein eindeutiges Profil einer geeinten Linken herbeiführen, damit schwerwiegende inhaltliche Differenzen in der Partei beigelegt werden.

Das ist leicht gesagt, denn negative Muster und Abläufe, die sich teils über Jahre und Jahrzehnte festgesetzt haben, verschwinden nicht von heute auf morgen. Die Forderung nach einem Personalwechsel war schon am Tag der Europawahl, wenn nicht sogar zuvor, in innerparteilichen Chatgruppen zu vernehmen und diejenigen, die die Forderung äußerten, fühlten sich wahrscheinlich richtig radikal und provokant. Ist es aber nicht zu einfach gedacht, gerade denjenigen, die sich in einer schwierigen Situation innerhalb der Partei nach vorne stellen und Verantwortung übernehmen, eine Wahlniederlage in die Schuhe zu schieben? Was bringt ein Personalwechsel an der Spitze, wenn die Probleme tiefer sitzen, wenn die Abläufe sich nicht ändern, wenn Strippenzieher*innen im Hintergrund weiter in ihrem eigenen machtpolitischen Interesse agieren, wenn Klärungsprozesse nicht in denunziationsfreien Räumen ausgetragen werden können, wenn es kein strategisches Zentrum gibt, das sich als solches verstanden weiß, wenn die Frustration groß bleibt und neue Köpfe zwar kurzzeitig frischen Wind und mediale Aufmerksamkeit generieren, bevor sie erneut ausgetauscht werden, sich in den darunterliegenden Strukturen und Abläufen jedoch nichts grundlegend ändert?

Einen Personalwechsel zu fordern, ist die einfachste aller Antworten auf eine Krise, ein langfristiger Lösungsansatz ist sie nicht! Nicht, dass ein Personalwechsel nicht auch eine Option im Reformierungsprozess sein kann, doch man sollte sich keine Illusionen machen, dass dieser gleichzusetzen sei mit einem tiefgreifenden Wandel. Dafür bedarf es weiterer Veränderungen. Vielleicht braucht es weniger einen Personalwechsel, als dass es Zeit zur Erarbeitung und Umsetzung einer Strategie bedarf. Ein wenig mehr Wertschätzung für Geleistetes innerhalb unserer Partei würde sicherlich auch nicht schaden.

 

Wo ist sie hin, die Hegemonie?

Vieles, was aktuell in der Politik gefordert und umgesetzt wird, läuft den fortschrittlichen Errungenschaften der Vergangenheit entgegen, ist menschenrechtswidrig, ungerecht und regressiv. Vor dem Hintergrund multipler, sich überlagernder Krisen schafft die extreme Rechte es an einigen Punkten, den hegemonialen Diskurs für sich zu vereinnahmen. Progressive Ansätze werden zu oft von rechts vereinnahmt und in einen zusätzlich belastenden Unsicherheitsfaktor umgedeutet, den es zu bekämpfen gelte. So wird der dringend benötigte Klimaschutz zu einem angeblich ideologiegetriebenen Klimawahn und die Investitionskrise zu einer Wirtschaftskrise, der angeblich allein mit der Schuldenbremse zu begegnen sei. Bei der krisengeschüttelten, pandemiegebeutelten, von Ängsten und Sorgen getriebenen Bevölkerung stößt das auf Gehör. Sie verträgt keine weiteren Unsicherheiten, die progressive Politikansätze mit ihrem Veränderungswillen unterbewusst auslösen.

Dabei befürwortet die Mehrheit der Menschen im Generellen Klimaschutz und Menschenrechte und lehnt rechtsextreme und demokratiefeindliche Positionen ab. Doch Die Linke schwächelt darin, „eine integrative Perspektive zu öffnen, in der wir als Partei beispielsweise eine proletarische Klimapolitik oder eine proletarische Migrationspolitik von unten entwickelt hätten“ (Thomas Goes[2]). Wie nützt es der hochverschuldeten Landwirtin, wenn wir uns für Renaturierung einsetzen, während ihre Subventionen gestrichen werden und wir keine Konzepte im Angebot haben, die sie entlasten? Für die Landwirtin bräuchten wir zusätzliche Antworten, das wissen wir abstrakt, doch im Konkreten fehlen sie uns. 

Für viele Menschen ist Die Linke, obwohl sie durchaus schlüssige, umsetzungsfähige Konzepte bereithält, die für viele tatsächlich eine Verbesserung ihrer Situation herbeiführen könnten, in ihrer fragmentierten Form nur ein weiterer Unsicherheitsfaktor und keine Wahlalternative mehr. Wir drehen uns im Kreis. Währenddessen verlieren wir als Linke an Einfluss und Verankerung – also an Hegemonie. Viele sehen uns nur noch als zersplitterte Anti-Partei. Selbst was unser Kernthema, die soziale Gerechtigkeit, angeht, sehen nur noch 6 Prozent der Wähler*innen diese bei der Linken am besten verortet.

Was nun? In einem neulich erschienenen Text plädiert Christoph Spehr[3] dafür, den politischen Kompass zügig nachzujustieren und aus dem sicheren Terrain eines überholten Koordinatensystems herauszutreten. Für mich heißt das, wir müssen unsere Themenfelder auf veränderte gesellschaftliche Gegebenheiten einstellen und die Menschen dort abholen, wo sie konkret stehen –mit Ansätzen, die ihnen konkret etwas bringen, statt sich konsequent in veralteten Grundsätzen einzukerkern, sich überholte Dogmen immer wieder vorzubeten und an der Sache vorbei zu argumentieren.

Wird es nicht Zeit, das Erfurter Programm zu aktualisieren? Seitdem es beschlossen wurde, hatten wir Krieg in Syrien, veränderte Fluchtbewegungen seit 2015, die zugespitzte Klimakatastrophe, Trump und dessen mögliche Wiederwahl, Brexit, den Afghanistan-Abzug, die Corona-Pandemie, Putins imperialistischen Angriffskrieg, 100 Milliarden Sondervermögen für Aufrüstung, Inflation und Preissteigerungen, rasanten technologischen Wandel, LNG-Terminals im Wattenmeer, Tesla in Grünheide, Elon Musk machte aus Twitter X, 30.000 ertrunkene Menschen im Mittelmeer, in Italien, Ungarn und weiteren EU-Mitgliedstaaten übernehmen rechte Autokrat*innen die Regierungsführung, multiple Krisen verschränken und verstärken sich gegenseitig – doch das Erfurter Programm steht und steht und steht. Was muss noch kommen, damit wir uns an eine programmatische Überarbeitung wagen?

 

Eine klare Ausrichtung am Beispiel der Außenpolitik

Die Friedensbewegung ist gespalten. Ostermärsche werden teils von rechten Verschwörungsgläubigen gekapert. Manche in der Linken hängen weiterhin der Nähe zum Autokraten Putin nach, obwohl die meisten von ihnen mittlerweile zum BSW gewechselt sind. Was nützt es den überfallenen Ukrainer*innen, der Demokratie und der Friedenssicherung, unerschütterlich und bis aufs Blut eine Überzeugung zu verteidigen, die ein generelles Waffenlieferungsverbot immer wieder ganz oben auf die Grundsatzliste linker Politik setzt, während täglich Waffen an autokratisch geführte Staaten – lange Zeit auch an Russland – geliefert werden, die zwar im Nebensatz miterwähnt werden, aber nur einen Bruchteil der Diskussion auslösen, die innerparteiliche Auseinandersetzungen über Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Putin und die russische Oligarchie vereinnahmen?

In der Linken findet sich niemand, die*der nicht für Frieden wäre, es gibt jedoch unterschiedliche Ansichten darüber, wie man diesen erreichen und sichern kann und in welcher Form man sich an die Seite derer stellen sollte, die gezwungen sind, ihr Leben gegen einen tödlichen Aggressor zu verteidigen. Von außen betrachtet versteht kaum jemand, warum wir uns an diesem Thema innerparteilich so zerfetzen. In den vielen Erhebungen, die dazu von Umfrageinstituten durchgeführt werden, so auch laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers vom Februar 2024[4], befürwortet die Mehrheit der Gesellschaft und mehr als die Hälfte der Linke-Anhänger*innen die Unterstützung der Ukraine auch mit Waffen und Munition. In unseren außenpolitischen Positionen verharren wir dennoch weiter in den veralteten Koordinaten und fassen das Thema nicht an, um es anhand neuer Koordinaten durchzudeklinieren und Einzelfallentscheidungen statt dogmatischem Pazifismus in Erwägung zu ziehen, weil dies innerparteilicher Sprengstoff sein könnte. So bleiben wir in unserer Ausrichtung unvollständig und widersprüchlich, aus Angst vor der Auseinandersetzung, während sich im Stillen die Fronten verhärten. Wir schweigen oder vertreten eine Linie, die niemand nachvollziehen kann, aus Sorge, wir könnten Mitglieder verlieren, während wir mitten im größten Abspaltungsprozess stecken und aus Sorge, wir könnten Wähler*innen abschrecken, während Die Linke kaum noch jemand wählt.

Natürlich wird der Krieg nicht vorrangig oder allein auf dem Schlachtfeld entschieden. Natürlich brauchen wir mehr Diplomatie, mehr Einsatz für Friedenstüchtigkeit statt für Aufrüstung. Und natürlich müssen wir die Aufrüstungsspirale stoppen, Atomwaffen verbieten und Waffenexporte grundsätzlich untersagen. Dass Rheinmetall sich mit dem größten Auftrag seiner Geschichte eine goldenen Nase am Krieg verdient, die der öffentlichen Infrastruktur, der Friedenssicherung und den Durchschnittsbürger*innen, die mit gestiegenen Kosten kämpfen, rein gar nichts bringt, ist natürlich zu kritisieren. Doch was passiert bis zum Abzug der russischen Truppen mit den Angegriffenen? Gehören wir nicht an die Seite der Überfallenen und bedeutet ein Recht auf Selbstverteidigung im Notfall nicht die Möglichkeit zur Verteidigung mit militärischen Mitteln, die man dem Angegriffenen nicht vorenthalten sollte? Für die meisten Menschen ist die Antwort auf diese Frage offensichtlich klar: Ja. Innerhalb der Linken gibt es für dieses Ja kaum einen Raum, in dem die vom Grundsatz der generellen Ablehnung militärischer Mittel abweichende Meinung nicht sofort denunziert und als Verrat an den Grundfesten der Partei deklariert würde, in dem eine dogmatische pazifistische Weltsicht nicht sogleich in nahezu religiösem Eifer den Diskurs mit heftigen Redebeiträgen vereinnahmen und jede abweichende Meinung an ihrer Verstocktheit abprallen lassen würde. Dabei wünschen sich viele innerhalb der Linken eine eindeutig solidarische Haltung gegenüber der angegriffenen Ukraine.

Wir müssen definieren, was es bedeutet, sich außenpolitisch vom Einfluss der USA zu emanzipieren und gleichzeitig das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft ernst zu nehmen. Wie müsste eine von den USA und Russland/China unabhängige, deeskalierende und solidarische Außenpolitik, eine gemeinsame und autonome europäische Sicherheits- und Friedenspolitik der EU in den veränderten geopolitischen Koordinaten aussehen? Die EU hat das Potenzial, eine eigenständige diplomatische Vermittlerin zu sein, doch dafür muss sie sich in ihrer geopolitischen Wirkmacht emanzipieren, eine gemeinsame Verteidigungsstrategie gegen militärische Angriffe ausarbeiten und sich kontinuierlich um eine globale Sicherheits- und Friedensstrategie auf Basis einer weiterentwickelten OSZE bemühen.

Weltweit darf es zu keiner weiteren Zusammenarbeit mit Autokrat*innen kommen. Die Grenzschutzagentur Frontex zur Sicherung einer Festung Europa, die immer wieder in illegale und tödliche Push-backs und menschenrechtswidrige Kooperationen, zum Beispiel mit lybischen Milizen, verwickelt ist, muss abgewickelt werden. Wir brauchen eine humane Flucht- und Migrationspolitik, legale Fluchtwege, ein europäisch koordiniertes Seenotrettungsprogramm, Investitionen in kommunale Unterstützung und Teilhabeprojekte für Geflüchtete und eine gut ausgestaltete Zuwanderungspolitik, die Menschen, die zu uns kommen, die Arbeitsaufnahme und eine Integration überhaupt erst ermöglicht, statt Internierungslager an den Außengrenzen, teure Deals zur Migrationsabwehr mit unsicheren Drittländern und immer mehr Abschiebungen. Linker Antisemitismus ist ein weiteres Thema, das wir nicht weiter auf die lange Bank schieben dürfen und bei dem wir uns klar positionieren müssen.

In Fragen zur Außenpolitik und anderen ungeklärten Inhalten müssen wir den Finger in die Wunde legen, so schwer es uns fällt, und es als „eine politische Aufgabe ersten Ranges“ sehen, eine „denunziationsfreie kritische Diskussionsatmosphäre“ (Bisky 1998[5]) zu schaffen. Das Netzwerk Progressive Linke hat hier einen Schritt in diese Richtung gewagt, den ich für richtig und wichtig halte und der weiterverfolgt werden sollte.

Die sozialistische Idee ist die der Internationalen Solidarität und des Antifaschismus im Kampf zur Verteidigung der Menschenrechte. Miteinander zu diskutieren, heißt Widersprüche innerhalb der Partei zu benennen und gemeinsam aufzulösen. Die Linke braucht ein klares Profil und Reformalternativen von unten, die von den Menschen verstanden und angenommen werden. Widersprüchlichkeiten sollten in einer pluralen Partei zwar ausgehalten werden können, doch irgendwann sollte Schluss sein mit dem Kreistanz um heikle Themen: Wir sollten wieder in Bewegung kommen, offen miteinander diskutieren und uns klar positionieren.

 

Niedersachsen

Noch ein paar Worte zum Europawahl-Ergebnis von 2,1 Prozent in meinem Landesverband Niedersachsen und zu meinem Kreisverband Lüneburg, in dem ich seit 2021 die Geschäftsführerin der Kreistagsgruppe, und seit 2023 Vorsitzende unserer Gruppe im Stadtrat bin. In einigen Wahllokalen im Innenstadtbereich Lüneburgs konnten wir mit Ergebnissen von 8 bis 12 Prozent ein gutes Wahlergebnis für Die Linke einfahren. Auch in den Stadtteilen, die vor sozio-ökonomischen Herausforderungen stehen, liegen wir in den Wahllokalen bei etwa 6 Prozent, was möglicherweise unserer kontinuierlichen Präsenz dort mit einem Infotisch auf dem Stadtteilmarktplatz, mit Flyern, Haustürgesprächen, mit der engen Zusammenarbeit mit einer Mieter*inneninitiative gegen Konzerne wie Vonovia und mit einem kleinen, einmal im Jahr von uns organisierten Stadtteilfest zuzuschreiben ist. Ich bin seit vielen Jahren in der Geflüchtetenunterstützung aktiv und kenne Bewohner*innen persönlich. Zwei unserer Ratsmitglieder leben direkt in den Quartieren und sind dort lokal bekannt. In der Peripherie franst das Wahlergebnis aus, in den ländlichen Gemeinden ebenso.

In Niedersachsen konnten die Städte Göttingen mit 6 Prozent und Lüneburg mit 5,23 Prozent ein relativ gutes Ergebnis halten. Dafür, dass in Oldenburg sämtliche Stadtratsmandate vom BSW „mitgenommen“ wurden, ist auch dort das Wahlergebnis weiterhin gut. Ansonsten schneiden wir in den übrigen Städten des großen Flächenlandes eher gemäß dem Europawahl-Gesamtergebnis ab. Das umfasst auch die Regionen um Wolfenbüttel/Braunschweig und Osnabrück. Der ländliche Raum Niedersachsens und auch die kleineren Städte sowie die Fläche in Ostfriesland und der Küstenregion strafen uns mit einem unterdurchschnittlichen Wahlergebnis ab. Hier haben wir sowohl in der Kommunalpolitik als auch als Landesverband und Landesvorstand, dem ich seit März 2023 angehöre, eine sehr geringe Resonanzfläche und sind kaum erkennbar.

Die Kreisverbände in Niedersachsen stehen vor der Herausforderung, dass durch die BSW-Abspaltung einige Mandate und Mitglieder die Seiten gewechselt haben. Eine Reihe von Kreisverbänden wurde dadurch löchrig, das heißt, sie sind entweder klein, mit wenigen aktiven Mitgliedern, oder bestehen überwiegend aus Neumitgliedern. Dies führt zur Überforderung vieler Mitglieder, wenn es darum geht, über Treffen und Aufgaben des Kreisvorstandes und Mitgliederversammlungen hinaus, zusätzliche Partei-Aktivitäten und Aufgaben zu organisieren und auszuführen, z.B. das Plakatieren und Flyern im Wahlkampf (im ländlichen Raum sehr schwierig), das Angebot von Sozialberatung und Aktiventreffen und die Einbindung von Neumitgliedern.

Auch in den Kreistags-, Stadt- und Gemeinderäten sind unsere Kapazitäten begrenzt und es ist kaum möglich, mit der vorhandenen Personaldecke alle Aufgaben und Ausschuss- und Gremientreffen abzudecken. Die Kreisverbände und Mandatsträger*innen sind mit ihren Aufgaben größtenteils alleingelassen. Es bräuchte eine Art Best-Practice-Netzwerk, in dem gute Arbeit, Initiativen, Aktionsformen und Anträge gesichert und geteilt werden können, so dass es zu mehr Austausch kommt, voneinander gelernt und sich gegenseitig unterstützt werden kann. Auch für gute Öffentlichkeitsarbeit bräuchte es Unterstützung.

Der Landesvorstand in Niedersachsen ist für die Wähler*innen weitestgehend unsichtbar, eine Landtagsfraktion, über die Sichtbarkeit generiert werden könnte, ist nicht vorhanden. Der Landesgeschäftsführer ist kontinuierlich bestrebt, Kreisverbände aufzubauen und Unterstützungsarbeit zu leisten, was in einem großen Flächenland wie Niedersachsen eine Mammutaufgabe ist. Während des Wahlkampfes bin ich in eine Reihe von Kreisverbänden gefahren, um dort über linke Europapolitik und unseren Umgang mit der Rechtsverschiebung, die auch in Niedersachsen deutlich spürbar ist, zu diskutieren. Diese Gesprächsrunden wurden gut angenommen und sind ausbaufähig.

Niedersachsen ist traditionell SPD-Land und wird aktuell von einer rot-grünen Koalition geführt. Es ist nicht leicht, den professionellen Strukturen großer konkurrierender Parteien etwas entgegenzusetzen, wenn es an der eigenen Mitgliederzahl und Professionalisierung an allen Ecken und Enden hapert. Dabei gibt es auch in Niedersachsen ausreichend Themenfelder, die von links bearbeitet werden müssen. Die zerstörende Wirkung der BSW-Abspalter*innen auf die regionalen Strukturen, die bereits lange vor der offiziellen Abspaltung wirksam war, darf für die aktuelle Arbeit nicht unterschätzt werden. Hannover als größtes städtisches Ballungszentrum, in dem Die Linke ein gutes Wähler*innenpotenzial hat, war über lange Zeit stark von zersetzenden Strukturen betroffen und braucht Zeit, um sich zu regenerieren. Mit der Aufstellung eines neuen Kreisvorstandes wurde dieser Regenerierungsprozess bereits angeschoben.

Statt vieler schlauer Papiere bräuchten wir sicherlich mehr Aktion. Wir müssten das, was in den Papieren steht, umsetzen, unsere Bündnisse aufbauen, stärken und ausweiten, Anknüpfungspunkte an gesellschaftlich relevante Themen konkret mit Bündnispartner*innen bearbeiten, um unser Zusammenleben als Gesellschaft zu verändern und zu verbessern. Es ist einfacher, dies im Kämmerchen aufzuschreiben, als sich in die konkrete Umsetzung zu begeben. Dabei schaue ich vor allem auch kritisch auf mich selbst.

Die Linke steht vor großen Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns innerparteilich um Klärungsprozesse bemühen und nach außen geeint auftreten.   

 

 

 

[1] Bisky L (1996) Rede des Bundesvorsitzenden auf der 2. Tagung des 4. Parteitages der PDS am 27. Januar 1996 in Magdeburg „Kommunen stärken – Gesellschaft von unten verändern. Zur politischen Situation und zur Strategie der PDS bis 1998“, in: Falkner T (Hrsg) Lothar Bisky, Ein politischer Mensch. 1941 – 2013 Lebensweg. Dokumente, Rosa Luxemburg Stiftung, Manuskripte, 2. Auflage, S. 47. Online unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Manuskripte/Manuskripte_34_Bisky_web.pdf [zuletzt abgerufen am 4.7.2024].

[1] Eine Zusammenstellung findet sich in den Manuskripten der Rosa Luxemburg Stiftung, herausgegeben von Falkner T (Hrsg) Lothar Bisky, Ein politischer Mensch. 1941 – 2013 Lebensweg. Dokumente, Rosa Luxemburg Stiftung, Manuskripte, 2. Auflage. Online unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Manuskripte/Manuskripte_34_Bisky_web.pdf [zuletzt abgerufen am 4.7.2024].

[2] Goes T (2024) Stolpern, hinfallen und aufstehen, linksbewegt. Das Online-Magazin der LINKEN. Online unter: https://www.links-bewegt.de/de/article/875.stolpern-hinfallen-und-aufstehen.html [zuletzt abgerufen am 4.7.2024].

[3] Spehr C (2024) Die Kämpfe führen, die geführt werden, Meinungspapiere. Netzwerk Progressive Linke. Online unter: https://progressive-linke.org/meinungspapiere/die-kaempfe-fuehren-die-gefuehrt-werden/ [zuletzt abgerufen am 4.7.2024].

[4] ZDF-Politbarometer (2024) Sollen die europäischen Staaten mehr Waffen und Munition an die Ukraine liefern? (Anteil der Befürwortenden; nach Parteipräferenz). Statista, Februar 2024. Online unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1453051/umfrage/umfrage-zu-waffenlieferungen-europaeischer-staaten-an-ukraine-nach-parteien/ [zuletzt abgerufen am 4.7.2024].

[5] Bisky L (1998) Kulturelle Identität und Kommunikationsprobleme in der PDS, Manuskript vom 22. März 1998, in: Falkner T (Hrsg) Lothar Bisky, Ein politischer Mensch. 1941 – 2013 Lebensweg. Dokumente, Rosa Luxemburg Stiftung, Manuskripte, 2. Auflage. Dokument 8, S. 168. Online unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Manuskripte/Manuskripte_34_Bisky_web.pdf [zuletzt abgerufen am 4.7.2023].