Was hilft gegen die AfD?

Leuna in Sachsen-Anhalt: Die AfD kam bei der Europawahl hier auf 36,9 Prozent

„Wir bringen eine Partei an den Start, damit all die Menschen, die auch aus Wut, aus Verzweiflung – aber eben nicht, weil sie rechts sind – jetzt darüber nachdenken, AfD zu wählen oder das auch schon gemacht haben, damit diese Menschen eine seriöse Adresse haben.“ Ob sich diese Erwartung Sahra Wagenknechts, geäußert bei der Gründung des BSW-Vereins, nun erfüllt, lässt sich nach den BSW-Wahlteilteilnahmen im Mai erstmals überprüfen.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass im Koordinatensystem der Parteien eine Lücke klafft für Parteien, die zwar linke Positionen in sozialen und wirtschaftlichen Fragen vertreten, aber konservative Ansichten zu gesellschaftlichen Themen wie Migration, Klimaschutz, Kriminalität oder LGBT-Gleichstellung vertreten. Viele Menschen mit diesen Einstellungen würden die AfD wählen, weil es kein passendes Angebot für sie gäbe.

Für die Behauptung, dass etwa eine restriktive Einwanderungspolitik rechtspopulistischen Parteien den Boden entziehen würde, führte Wagenknecht (aber auch SPD-Politiker wie Sigmar Gabriel) das Beispiel Dänemark an, wo die Sozialdemokratie alle diesbezüglichen Vorschläge der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei (DF) übernommen hatte. Bei den Parlamentswahlen 2019 halbierte sich die DF fast. Für Wagenknecht ist der Wahlkampf der dänischen Sozialdemokratie deshalb ein Beleg dafür, "dass die Linke mit einer populären und an den Wünschen der Mehrheit orientierten Strategie die Rechtsparteien erstaunlich schnell wieder kleinmachen kann."[1]

Eine Reihe von Wissenschaftler*innen ist der Meinung, dass eine links-konservative Partei wie das BSW die AfD zurückdrängen könnte. Sarah Wagner von der Queens University in Belfast, die bereits Mitte 2023 mit zwei Kollegen eine Studie zur möglichen Gründung einer neuen Partei erstellt hatte[2], kommt zu dem Schluss: „Für die AfD ist eine Wagenknecht-Partei auf jeden Fall die größte Gefahr“.[3]

Manche Umfragen in der Gründungsphase des BSW scheinen das auch zu bestätigen. Im ARD-Deutschlandstrend vom November 2023 fanden 61 Prozent der AfD-Anhänger*innen die Gründung einer Partei durch Wagenknecht gut oder sehr gut.

Eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung auf Grundlage der WSI-Erwerbspersonenbefragung vom November 2023, kommt ebenfalls zum Schluss, „dass das BSW eine bisher vakante Position im deutschen Parteiensystem besetzen könnte (…). Dadurch könnte das BSW für Personen mit links-konservativen Präferenzen interessant werden, die bisher mangels eines passenden Angebots andere Parteien – nicht zuletzt die AfD – gewählt haben.“[4] Allerdings kommt die Studie auch zu dem Schluss, dass vor allem Menschen von der Linken und besonders von der SPD zum BSW wechseln würden. Attraktiv wäre das BSW für Ostdeutsche, für Arbeiter*innen und für Menschen mit geringem Einkommen.

Die Leipziger Arbeitsgruppe um Elmar Brähler und Oliver Decker, verantwortlich für die zweijährlichen Leipziger Autoritarismusstudien, hat mit einer Umfrage zur Jahreswende 2023/24 ebenfalls versucht, der Frage nachzugehen, ob AfD-Wähler*innen zum BSW wechseln würden, und kommt zu gegenteiligen Schlüssen.[5]

In der Gesamtschau werde deutlich, „dass es sich bei BSW und AfD um unterschiedliche politische Milieus“ handele. Zwar würden die AfD-Wähler*innen „im Vergleich eine ähnliche Zusammensetzung in Bildungsgrad und Einkommen aufweisen wie die BSW-Wähler – in beiden Gruppen dominieren Menschen mit einem eher niedrigen formalen Bildungsgrad, Männer und niedrige Einkommensgruppen“, aber was Antisemitismus, Muslimfeindschaft, Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit angehe, befänden sich die Wähler*innen des BSW eher auf dem Niveau der CDU als auf dem der AfD, da sie diese Einstellungen in einem sehr viel geringeren Ausmaß als bei AfD-Wähler*innen vertreten würden. Es falle auf, dass die Anhänger des BSW mehr Gemeinsamkeiten mit den Anhängern anderer sozialdemokratischer bzw. linker Parteien hätten. Die Strategie des BSW, „auf Wirtschaftskompetenz zu setzen, dabei aber gleichzeitig Ressentiments gegen Eliten und Migranten zu schüren“ könnte erfolgreich sei, jedoch nicht auf Kosten der AfD. Die Autor*innen befürchten, dass durch die Zersplitterung der Linken die AfD eher an Boden gewinnen als verlieren würde. „Wahlentscheidend für die AfD ist der Rechtsextremismus und der unterscheidet die AfD-Anhänger sehr deutlich von BSW-Wählern.“

Dies könnte auch der Grund sein, warum die Wähler*innen rechtspopulistischer Parteien nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Flandern oder Österreich, ihrer Partei stärker verbunden sind als die anderer Parteien. Vor der Wahl sind sie diejenigen, die am wenigsten an ihrer Entscheidung zweifeln oder von Wahl zu Wahl zu anderen Parteien wechseln.

Umfragen zeigen: AfD-Verluste nicht durch BSW-Aufstieg verursacht

Der Rückgang der Umfragewerte der AfD seit Ende Januar 2024, dessen Beginn etwa mit der Gründung des BSW am 8. des Monats zusammenfiel, scheint aber die Ansichten der BSW-Gründer*innen zu bestätigen. „Es ist ja wohl nicht zu leugnen, dass seit unserer Entstehung die AfD in den Umfragen schwächer geworden ist“ erklärte ihr Spitzenkandidat für das Europaparlament Fabio De Masi in einem Interview.[6] Die AfD fiel von Maximalwerten zwischen 20 und 24 Prozent zu den Bundestagswahlen im Zeitraum Oktober 2023 bis Januar 2024 auf 15 bis 18 Prozent zum Sommerbeginn 2024. Gleichzeitig erreichte das BSW ab Mitte Januar 2024 bei manchen Instituten gleichbleibende Werte von etwa 7 Prozent. Andere begannen mit niedrigeren Werten, kamen dann aber auch auf 5 bis 9 Prozent.[7]

Als Diplom-Volkswirt weiß De Masi sicherlich, dass eine Korrelation keine Kausalität bedeuten muss. Die Verluste der AfD haben möglicherweise nichts mit der Gründung des BSW sondern mit dem „Correctiv“-Bericht vom 10.1.2024 über ein Treffen zu Plänen für „Remigration“ (ethnische Säuberungen) in Potsdam, an dem auch AfD-Funktionäre teilnahmen, zu tun. Daraus entstand Mitte Januar eine große Bewegung gegen die AfD, an deren Demonstrationen und Kundgebungen mehrere Millionen Menschen teilnahmen. Später blieb die AfD durch diverse Spionagevorwürfe gegen ihre Europawahl-Spitzenkandidaten am Pranger.

Bei näherer Betrachtung diverser Wahlumfragen aus diesem Zeitraum zeigt sich, dass weder eine Korrelation noch ein nennenswerter Zusammenhang zwischen dem Auftauchen des BSW in den Umfragen und dem Rückgang der AfD-Werte besteht.

Da die meisten Umfragen nur monatlich erhoben werden, bilden sie den genauen Zeitpunkt des Rückgangs des AfD-Einflusses oft nicht ab. Eine Ausnahme ist das ZDF-Politbarometer, das den ersten BSW-Wert (4 Prozent) bereits am 9.-11. Januar erhebt. Der AfD-Wert verbleibt aber auf dem Höchststand von 22 Prozent. Die anderen Institute weisen die ersten BSW-Werte erst aus, nachdem der prognostizierte AfD-Stimmenanteil schon gesunken war.

Ausnahmen sind die INSA-Umfragen, die zweimal pro Woche durchgeführt werden und die Entwicklung präziser nachvollziehen können.[8] Bei INSA liegt die AfD Anfang Januar bei 22 bis 23 Prozent. In den Umfragen vom 8.-12. und 12.-15. Januar sind die BSW-Werte noch unter „Sonstige“ enthalten, die dadurch um 4 Prozent über den bisherigen Anteilen liegen. Die AfD-Anteile bleiben unverändert. In einer Umfrage, die vom 15.-19. Januar nach den ersten Demos gegen die AfD und nach der BSW-Gründung erhoben wurde, werden erstmals Werte für das BSW mit 7 Prozent getrennt ausgewiesen. Aber die Umfragenprozente der AfD stagnieren weiterhin bei 22 Prozent, wie in der Woche davor, und fielen nur ein Prozent niedriger aus als das Maximum von 23 Prozent Anfang Januar. Als danach bei INSA die AfD-Werte bis Anfang Juni auf 16 Prozent absackten, blieben die BSW-Werte dennoch unverändert bei 7 bis 8 Prozent. Ab Juni stiegen die AfD-Werte wieder um 1 bis 2 Prozent ohne dass die BSW-Prozente sanken.

Die früheren AfD-Anhänger*innen können also nur zu einem sehr geringen Teil zum BSW gewechselt sein. Das zeigen auch die Kommunalwahlen im Mai/Juni und die Europawahl.

Kaum Wählerwanderung von der AfD

Befragungen zu Wählerwanderungen liefern ähnlich Ergebnisse. Nur YouGov fragt in seinen monatlichen Erhebungen die Interviewten jedes Mal danach, wen sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt haben. Im Durchschnitt über fünf Monate wollen nur 6 Prozent der damaligen AfD-Wähler*innen BSW wählen, ebenso viele wie bei der FDP und weniger als bei der SPD wo es 8 Prozent sind. Am wenigsten hat das BSW bei CDU/CSU und Grünen zu gewinnen, das meiste bei der Linken.

Die Erhebungen zur Europawahl zeigen ein ähnliches Bild. Laut Forschungsgruppe Wahlen kommt der kleinste Anteil der Wählerstimmen des BSW von der AfD, nämlich 4 Prozent. 18 Prozent stammen von der Linken, 10 Prozent von der CDU/CSU und 9 Prozent von der SPD. Bei Infratest Dimap sind es 6 Prozent, die von der AfD kommen, fast so wenige wie von den Grünen, aber fast 20 Prozent von der Linken und fast ein Viertel von der SPD.

Jetzt ist sicherlich richtig, dass der Anteil der AfD-Wähler*innen 2019 und 2021 niedriger war als in den Umfragen im Herbst/Winter 2023. Und man könnte meinen, dass der Zuwachs der AfD auf Protestwähler*innen gegen die Politik der Ampel-Regierung zurückzuführen sei, die mangels Alternative zur AfD gewechselt wären.

Kommunalwahlen: BSW-Kandidaturen kosten AfD keine Stimmen

Allerdings lässt sich anhand der Ergebnisse der Kommunalwahlen, die parallel zur Europawahl in mehreren Bundesländern und zwei Wochen davor schon in Thüringen stattfanden, und bei denen das BSW nur stellenweise antrat, feststellen, ob die Partei  der AfD Stimmen abnahm. In Landkreisen mit BSW-Kandidatur müssten die Zuwächse der AfD geringer ausfallen als in denen ohne BSW-Kandidatur. Dies ist nicht der Fall.

Die Wahlen in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen eignen sich dafür, die Auswirkungen der BSW-Kandidaturen zu messen.

In Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg und Sachsen-Anhalt waren Vergleiche nicht möglich, weil das BSW nicht kandidierte, und in Sachsen nicht, weil das BSW in allen Landkreisen antrat.

Vergleicht man die Stimmenanteile der AfD bei den diesjährigen Wahlen mit denen von 2019 kommt man zum überraschenden Ergebnis, dass sie in allen Bundesländern leicht bessere Ergebnisse in den Kreisen erzielte, wo das BSW kandidierte als dort, wo es nicht antrat. Da dies möglicherweise auf unterschiedliche Ausgangslagen in den Kreisen mit und ohne BSW-Kandidatur zurückzuführen sein könnte, habe ich die Veränderung der Stimmenanteile zwischen 2019 und 2024 verglichen.

In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern ist der Zuwachs der AfD unwesentlich stärker in Gebieten mit BSW-Kandidatur (um 0,77 und 0,61 Prozent) während er in Rheinland-Pfalz und Saarland um 0,69 und 0,31 Prozent geringer ist. Insgesamt lässt sich damit sagen, dass die BSW-Kandidaturen keinen signifikanten Einfluss auf die AfD-Ergebnisse haben.

Die meisten anderen Parteien erleiden jedoch Einbußen. Addiert man die Zahlen für die vier Bundesländer (ohne Gewichtung nach den absoluten Stimmenzahlen), kommt man zu folgenden Ergebnissen: Der Stimmenanteil der Linken sinkt um 2,3 Prozent stärker in Kreisen wo das BSW kandidiert, die CDU büßt 1,8 Prozent ein, die SPD 1,4, die FDP 0,4 und die Grünen sind mit -0,1 Prozent fast unverändert. Die Linke verliert ein Viertel ihrer Stimmen, wo das BSW kandidiert, die FDP 12 Prozent und CDU und SPD jeweils 6 Prozent. In Kreisen, wo das BSW kandidierte, hat die Wahlbeteiligung nur in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern stärker zugenommen als in den anderen, nämlich um 0,5 bzw. 0,9 Prozent.

Auch wenn man die Ergebnisse der gleichzeitigen Kommunalwahlen mit denen der EU-Wahl vergleicht, sind wesentlich schlechtere Ergebnisse der AFD in Landkreisen, wo das BSW kandidierte, nicht festzustellen. Im Saarland liegt die AfD bei den Kreistagswahlen um 0,4 bis 2,1 Prozent unter denen bei der Europawahl. In den beiden Landkreisen mit BSW-Beteiligung sind die AfD-Werte um 1,5 bzw. 1,6 Prozent niedriger. In Mecklenburg-Vorpommern liegt die AFD zwischen 1,2 und 5,1 Prozent unter ihren EU-Ergebnissen. In Landkreisen mit BSW-Kandidatur sind die AFD-Ergebnisse 3,7 Prozent unter denen bei Europa-Wahl, in denen ohne BSW sind es 3,0. Auch hier liegen die BSW-bedingten Veränderungen der AfD-Ergebnisse unter einem Prozent.

Was hilft gegen die extreme Rechte?

Das Beispiel des BSW zeigt einmal mehr, dass bei Übernahme von rechtspopulistischen Positionen durch Parteien, die Menschen lieber das Original wählen.

Werner Krause, Denis Cohen und Tarik Abou-Chadi haben auf Grundlage von Wahlergebnissen und Umfragen der letzten 50 Jahre aus 12 westeuropäischen Staaten belegt, dass eine Anpassung an den Rechtspopulismus diesen nicht schwächt. „Wenn Mainstream-Parteien Themen der radikalen Rechten aufgreifen, dann riskieren sie eher den radikal rechten Diskurs zu legitimieren und zu normalisieren und die radikale Rechte über kurz oder lang zu stärken.“ [9]

Der Niederländer Cas Mudde, ein weltweit angesehener Populismus-Experte, kommt in einem Beitrag im britischen The Guardian zu dem gleichen Ergebnis, zumindest solange sozio-kulturelle Themen wie die Flüchtlinspolitik derart im Vordergrund stehen: „Wagenknechts ‚anti-Einwanderungs-’ und ‚anti-woke-’Diskurs wird nur dazu beitragen, dass die rechtsextremen Standpunkte zur vorherrschenden Meinung werden.“[10]

Dies gilt umso mehr, da Wagenknecht nicht nur, wie im BSW-Programm festgelegt, Zuwanderung erlauben will, „solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert“, sondern sie sich aktiv am Anheizen der Hysterie gegen Zuwanderung beteiligt. Im Programm wird denen, „die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen“ mitgeteilt, dass sie für übermäßige Zuwanderung den Preis niedriger Löhne und des Mangels an bezahlbarem Wohnraum zahlen müssten. Im Januar behauptete Wagenknecht, „nur ein Prozent hat tatsächlich Anspruch auf Asyl, aber nahezu alle bleiben". Tatsächlich wurde 69 Prozent der Antragsteller*innen einen Schutzstatus zugesprochen. Nach dem Polizistenmord in Mannheim behauptete sie, islamistische Täter hätten "einen erheblichen Anteil" am Anstieg der Gewaltverbrechen der vergangenen Jahre.[11] Laut neuestem Verfassungsschutzbericht lag die Zahl der politisch motivierten Gewaltverbrechen 2023 bei 3.561, wovon 2,0 Prozent religiös motiviert waren, gegenüber 3.754 und 1,6 Prozent im Jahr 2017, als die religiös motivierte (meist islamistische) Kriminalität erstmals ausgewiesen wurde.

Die dänischen Wahlen von 2019 waren übrigens nicht, wie behauptet, ein Erfolg der Sozialdemokratie, denn sie verlor stärker an die einwanderungsfreundlichere linke Konkurrenz als sie von den Rechtspopulist*innen hinzugewann. Diese gaben vor allem Stimmen an die liberalen und konservativen Parteien ab. Und wie Forscher festgestellt haben, gewann die Sozialdemokratie die wenigen Prozente von rechts aufgrund ihrer linkeren sozialpolitischen Vorschläge und nicht wegen ihrer restriktiven Einwanderungspolitik. Die dänischen Rechtspopulist*innen büssten zwar viele von den Stimmen ein, die sie 2015 dank der Flüchtlinkskrise dazu gewonnen hatten, aber zur Europawahl brachten es nun zwei rechte Parteien auf fast 14 Prozent. Die „erfolgreiche“ Sozialdemokratie ist auf 15,6 Prozent gefallen, ihr schlechtestes Ergebnis seit 1898.

Auch wenn das BSW noch erfolgsversprechend ist – wenn auch nicht auf Kosten der AfD – muss das nicht so bleiben. Cas Mudde verweist auf die Sozialistische Partei der Niederlande, die in vieler Hinsicht dem BSW ähnelt. Bei den Parlamentswahlen 2023 führte sie ihren Wahlkampf „mit einem ‚alt-linken’ Programm, das traditionelle linke wirtschafspolitische Positionen, zum Beispiel zum Gesundheitswesen, mit Forderungen nach einen temporären Stopp für Arbeitsimmigration kombinierte und mit ihrer populären Parteichefin Lilian Marijnissen, die ‚Identitätspolitik’ verurteilte.“ Während die extreme Rechte zusammengenommen das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte, fiel die SP weiter auf 3 Prozent.

Die SP ist eine 30.000 Mitglieder-Partei, die 2006 fast 17 Prozent der Stimmen erzielt hatte. Sie ähnelt dem BSW insofern, dass sie stets kritisch gegenüber Einwanderung war, sich auf sozialpolitische Themen konzentrierte und linksliberale mied. Während andere Parteien der radikalen Linken in Europa vor allem in Groß- und Universitätsstädten punkten können, ist es der SP gelungen, in Stadt und Land ein etwa gleiches Niveau zu erreichen: Bei der Europawahl waren es überall 2 Prozent.

Frankreichs Linke machtlos gegen rechten Vormarsch

Das beste Beispiel, dass die Anpassung an die Rechtspopulisten diese nicht schwächt, liefert seit Jahren Frankreich. Die Verharmlosung des Nationalen Sammlung (RN, früher Nationale Front, FN) Marine Le Pens durch die immer weiter nach rechts rückenden Medien, die Annäherung der bürgerlichen Rechten und teilweise auch des Macron-Lagers an Le Pen sowie die Verteufelung von Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise (LFI) als „Islamo-Linke“ und Antisemiten haben dazu geführt, dass alle rechtsextremen Parteien bei den Europa-Wahlen über 40 Prozent der Stimmen gewannen. Die Konservativen, die sich nur noch wenig von ihnen unterscheiden, werden immer stärker vom RN absorbiert. Eine Fraktion kandidierte im Bündnis mit dem RN bei den Parlamentswahlen. Die RN wird mittlerweile in den meisten Meinungsumfragen positiver bewertet als LFI.

Ein Schlaglicht auf die Atmosphäre in Frankreich wirft der Aufruf der bekannten Nazi-Jäger*innen Serge und Beate Klarsfeld, letztere Bundespräsidentschaftskandidatin der deutschen Linken 2012, in einer Stichwahl mit LFI den RN zu wählen, da LFI im Gegensatz zur Le Pen-Partei antisemitisch sei.

Die gelungene „Entdämonisierung“ des RN hat auch zur Folge, dass die „republikanische Front“ gegen die extreme Rechte nur noch lückenhaft funktioniert. War es früher üblich, dass bei Stichwahlen mit rechtsextremer Präsenz, alle anderen Parteien – von den Kommunisten bis zu den Konservativen – zur Wahl der Gegenkandidat*innen aufriefen, war das 2022 nur noch bei einigen der unterlegenen Kandidat*innen sowohl aus dem bürgerlichen als auch aus dem linken Lager der Fall. Die Konfrontation zwischen der Linken und der Macron-Regierung führte dazu, dass bei den Stichwahlen mit dem FN die Hälfte der Wähler*innen der ausgeschiedenen Kandidat*innen aus beiden Lagern den Urnen fern bleiben und von den anderen bis zur Hälfte FN wählten.

Bei der diesjährigen Wahl war die Situation dramatischer als 2022, weil durchaus eine Mehrheit für die RN möglich schien. Die linken Parteien zogen fast überall ihre Kandidat*innen zurück, wo die bürgerliche Konkurrenz größere Chancen hatte, in den Stichwahlen gegen die RN zu gewinnen. Aber bei den Macron-Parteien, die RN und LFI auf eine Stufe stellen, war man sich nicht einig, ob man auch Kandidaturen aufgeben sollte, wenn die LFI besser plaziert war. Die Konservativen, von denen ein Teil bereits mit dem RN im Bündnis kandidierte, waren nur zu vier Kandidaturverzichten bereit.

Im Ergebnis haben über 70 Prozent der linken Wähler*innen für Kandidat*innen der Macron-Parteien oder der Konservativen gestimmt, die mit dem RN in einer Stichwahl waren. Umgekehrt erhielten die LFI-Kandidat*innen nur 43 Prozent der Stimmen der Macron-Parteien, andere linke Kandidat*innen 54 Prozent. Die Wähler*innen der Konservativen stimmten bei den Stichwahlen mit zwischen dem RN und der Linken sogar mehrheitlich für die RN-Kandidat*innen.

Im Ergebnis verloren die Linken (darunter besonders LFI) 41 Prozent ihrer 152 Stichwahlen mit dem RN, die Macron-Parteien und die Konservativen aber nur 18 Prozent ihrer 128 bzw. 39 Duelle. Weitere 10 Sitze verlor die Linke an den RN weil die bürgerlichen Parteien sich weigerten, ihre schlechter platzierten Kandidat*innen für den zweiten Wahlgang zurückzuziehen.[12]

Dass die linken Parteien bei der Parlamentswahl die meisten Sitze errungen haben, verstellt denn Blick darauf, dass sie seit fast 10 Jahren bei einem Drittel der Stimmen stagnieren und dem rechten Vormarsch wenig entgegenzusetzen haben. Bei der Parlamentswahl stimmten 57 Prozent der Arbeiter*innen und 44 Prozent der Angestellten, die sich an der Wahl beteiligten, für die RN-Kandidat*innen.

Die Anstrengungen von LFI, die „Fachés pas fachos“ (die Erbosten, nicht die Faschisten), die den RN wählen, aus dem rechten Lager zu holen, sind bisher gescheitert. Weder der Versuch, mit dem rechten Milieu ins Gespräch zu kommen und migrationsfreundliche Positionen in den Hintergrund zu stellen, noch eine konfrontative Politik gegen den RN haben Erfolg gehabt.[13]

Ist die KPÖ auch gegen die FPÖ erfolgreich?

Zum Erfolgsrezept der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) gehört, Themen, die wie die „Zuwanderung“ in der potentiellen Wählerschaft kontrovers sind und die FPÖ aufwerten würden, in ihren Wahlprogrammen überhaupt nicht zu erwähnen. Das hat zum großen Erfolg der KPÖ in Graz und Salzburg beigetragen. Ihre Protagonist*innen führen die schlechten Ergebnisse der FPÖ in Graz, Salzburg oder Innsbruck auf ihre Politik zurück. Linke Medien wie Jacobin übernehmen diese Erzählung gerne. Aber eine merkliche Dämpfung der FPÖ-Ergebnisse ist bei näherer Betrachtung kaum festzustellen.

Der relative Einfluss der FPÖ hat, unabhängig von dem der KPÖ, in allen größeren Städten nachgelassen. Wie die rechtspopulistischen Parteien in Deutschland und Frankreich ist auch die FPÖ vor allem auf dem Land und in den Kleinstädten stark. Bei der EU-Wahl erzielte die FPÖ landesweit 25,5 Prozent. In den größten Städten Wien, Graz, Innsbruck und Salzburg kam sie nur noch auf etwas mehr als 18 Prozent, in Linz auf 21 Prozent.

Vergleicht man die Ergebnisse mit der ersten EU-Wahl in Österreich 1996, sind die FPÖ-Stimmanteile am stärksten in Innsbruck und Salzburg zurückgegangen(um 44 und 45 Prozent), in Graz um 40 Prozent. Dass der Rückgang in Salzburg wenig mit dem KPÖ-Erfolg bei den Landtags- und Kommunalwahlen 2023/24 zu haben kann, belegt das Ergebnis von 2019, als die Salzburger FPÖ 60 Prozent unter ihrem Ergebnis von 1996 lag. Da hatte es KPÖ-Kandidat Kay-Michael Dankl gerade mal als einziger Kommunist in den Gemeinderat geschafft.

Es kann sein, dass die FPÖ bei der Kommunalwahl in Salzburg im März dieses Jahres mit 10,8 Prozent unter ihren Erwartungen blieb, aber auch landesweit erreichten die Rechtsextremen nur 13,3 Prozent. Das liegt nicht an der KPÖ. Seit der Jahrtausendwende ist die FPÖ bei Kommunalwahlen weder in der Stadt noch im ganzen Land über 13 Prozent hinausgekommen.

Belgischer Lichtblick?

Die Belgische Partei der Arbeit (PTB), die mit der niederländischen SP vor allem aufgrund ihrer gemeinsamen maoistischen Vergangenheit enge Beziehungen unterhält, macht keine Zugeständnisse an die Rechtspopulisten, rückt aber, ähnlich wie die KPÖ, alle Themen in den Hintergrund, die die eigene Wählerschaft spalten oder die Wasser auf die Mühlen der Rechten wären – wie z.B. Migration und Asyl. Obwohl die PTB in Flandern bei den EU- und Parlamentswahlen zugelegt hat, konnte sie den rechtsextremen Vlaams Belang (VB) nicht stoppen und ihm Stimmen abjagen.

Allerdings zeigt Belgien auch, dass es gelingen kann, die Rechtsradikalen aufzuhalten. In Wallonien, dem französischsprachigen Teil Belgiens, konnten die Rechtspopulisten bei den nationalen Parlamentswahlen am 9. Juni gerade mal 3 Prozent erringen, noch weniger als bei früheren Wahlen. Dabei gäbe es in diesem Landesteil, der an die französischen Hochburgen des RN grenzt, durchaus Grund für eine Protestwahl, da die Löhne niedriger und die Arbeitslosigkeit höher sind als in Flandern. Und außerdem leben hier mehr Menschen mit Migrationshintergrund als in Flandern.

Manche Wissenschaftler führen den Misserfolg der Rechtsextremen auf den Einfluss der PTB zurück. Aber es existiert auch ein funktionierender „cordon sanitaire“, eine Brandmauer, gegen die Rechten. Sie werden nicht nur von allen Parteien ausgegrenzt, sondern auch von den Medien boykottiert.

Dies bedingt offenbar auch, dass die Themen der Rechtspopulisten nicht im Vordergrund stehen. Während „Einwanderung“ im April 2024 bei den befragten Wähler*innen in Flandern als Thema an erster Stelle stand, kam es in Wallonien erst auf Platz 7.

Rechte Propaganda auf Augenhöhe entlarven

Mehrere Studien haben gezeigt, dass Menschen, die sich sozialpolitisch links aber gesellschafspolitisch rechts positionieren und die das BSW laut Eigendarstellung vertreten will, in der Regel links wählen, es sei denn Themen wie die Zuwanderung erlangen überragende Bedeutung. Dann wählen zumindest diejenigen mit rassistischen und autoritären Vorstellungen rechtsextreme Parteien.

Die Gründe für den Vormarsch von Rechtspopulist*innen sind also der Rassismus und die Vorherrschaft ihrer Themen. Beides ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde erfolgreich verbreitet. Daran sind nicht nur die sozialen Medien, in denen die AfD und ihr Umfeld führend aktiv sind, sondern Teile der etablierten Medienlandschaft beteiligt, die zunehmend die rechten Themen in den Vordergrund stellen. Während Wagenknecht sich wiederholt gegen die „Belehrung“ der Mehrheit durch die Linksliberalen ausspricht, beteiligt sie sich wie schon Politiker*innen von CDU/CSU und anderen Parteien an der rechten Belehrung der Bevölkerung, um auf den Zug der AfD aufzuspringen.

Anders ist nicht zu erklären, dass oft völlig realitätsferne Einstellungen in der Bevölkerung vorherrschen. So sorgten sich 74 der Befragten von Infratest-Dimap zur Europawahl, dass die „Kriminalität massiv zunimmt“ und 61 Prozent, dass der Islam in Deutschland zu stark würde. Diese Ängste waren mit 96 und 94 Prozent besonders verbreitet bei AfD- und mit jeweils 79 Prozent bei BSW-Wähler*innen. Dabei liegt die Kriminalität trotz Anstieg in den beiden letzten Jahren unter anderem wegen „wirtschaftlicher und sozialer Belastungen“ durch den Kaufkraftverlust (Bundeskriminalamt) und nach dem Rückgang wegen Corona unter dem langjährigen Niveau. Und beide Parteien sind in den östlichen Bundesländern am stärksten, wo die wenigsten der 5 Millionen Muslime Deutschlands leben, nämlich nur 3,5 Prozent. Aber dennoch meinen in Sachsen 54 Prozent der Befragen: „durch die vielen Moslems in Deutschland fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.“[14]

Offenbar waren die AFD und das rechtsextreme Milieu durch ihre Aktivitäten in den sozialen und andere Medien erfolgreich, ihre Botschaften in den Köpfen zu verankern, die dann durch CDU/CSU- und BSW-Politiker*innen bestätigt werden. Ähnlich ist es auch in den USA, wo ein knappes Drittel glaubt, dass Wahlbetrug die letzten Präsidentschaftswahlen entschieden habe, nur weil Donald Trump das behauptet.

Deshalb wird es nicht reichen, die AfD in die Nazi-Ecke zu stellen, ihre Erfolgsthemen nicht anzusprechen und auf soziale und anti-neoliberale Forderungen zu setzen, um sie politisch zu besiegen. Die Politik und die Medien müssten, ähnlich wie in Wallonien, aufhören, rassistische Einstellungen zu bestätigen und die AfD-Themen aufzuwerten. Und die Linke im weitesten Sinn muss den Fake News der rechten Milieus und der AfD mit gleicher Intensität und Mitteleinsatz begegnen, in einer Sprache und mit Methoden, mit denen man alle Menschen erreichen kann.

 

[1] Müller, Albrecht, Sahra Wagenknecht – die beliebteste Politikerin. „Was ist das wert? Was machen Sie aus diesem Potenzial?“, 25. November 2019, in: https://www.nachdenkseiten.de/?p=56623

[2] Wagner, Sarah, Wurthmann, L. Constantin und Thomeczek, ·Jan Philipp, Bridging Left and Right? How Sahra Wagenknecht Could Change the German Party Landscape, in: Politische Vierteljahreschrift, Juni 2023, https://link.springer.com/article/10.1007/s11615-023-00481-3

[3] Palzer, Kerstin, Wagenknecht-Partei. Das Wundermittel gegen die AfD?, 8.1.2024, in tageschau, https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wagenknecht-partei-104.html

[4] Emmler, Helge; Seikel, Daniel: Wer wählt "Bündnis Sahra Wagenknecht"?, WSI Report Nr. 94, Juni 2024, Düsseldorf, https://www.wsi.de/fpdf/HBS-008875/p_wsi_report_94_2024.pdf

[5] Siehe: Decker, Oliver, Kalkstein, Fiona, Dilling, Marius, Celik, Kazim, Hellweg, Nele und Brähler, Elmar, Besteht eine Chance für eine neue Partei? AfD-Anhänger und die Aussicht für eine Alternaive links der Mitte. FJSB+plus, Forschungsjournal Soziale Bwegeungen, 2/2024. 37. Jg., https://forschungsjournal.de/fjsb/wp-content/uploads/fjsb-plus_2024-2_decker.pdf

[6] Henrik Jonathan Zinn und Mandy Buchholz, Europawahl: BSW-Spitzenkandidat De Masi: „Große AfD-Nähe im politischen Establishment“, in: Der Westen, 26.5.2024, https://www.derwesten.de/politik/europawahl-bsw-afd-de-masi-a-id300970959.html

[7] Siehe: https://www.wahlrecht.de/umfragen/

[8] Siehe: https://www.wahlrecht.de/umfragen/insa.htm

[9] Krause, Werner/ Cohen, Denis/Abou-Chadi, Tarik, Does accommodation work? Mainstream party strategies and the success of radical right parties, in: Political Science Research and Methods (2023), 11, 172–179

[10] „Wagenknecht’s “anti-immigrant” and “anti-woke” discourse will only strengthen the mainstreaming of far-right talking points.“ Cas Mudde, Can Europe’s new ‘conservative left’ persuade voters to abandon the far right?, in: The Guardian, 16.1.2024.

[11] Gespräch mit Pinar Atalay auf RTL direkt am 5.6.2024.

[12] Siehe: Législatives 2024 : comment les reports de voix du "front républicain" ont joué contre le RN, selon notre sondage, in FranceInfo, 7.7.2024, https://www.francetvinfo.fr/elections/legislatives/legislatives-2024-comment-les-reports-de-voix-du-front-republicain-ont-joue-contre-le-rn-selon-notre-sondage_6652164.html

[13] Vgl. Manuel Cervera-Marzal, Le populisme de gauche. Sociologie de la France Insoumise, Paris 2021, S. 254 ff.

[14] dimap, Ergebnisbericht Sachsenmonitor für die Sächsische Staatskanzlei, Bonn 2023, S. 33