Die Kindergrundsicherung – Ein Trauerspiel in fünf Akten
Seit 2010 stieg die Kinderarmut in Deutschland von damals 18,2 % auf 21,6 % im Jahr 2022. Das bedeutet: mehr als jedes fünfte Kind wächst aktuell in Armut auf. Die Armut von Kindern und Jugendlichen stieg damit stärker als die allgemeine Armutsquote (2010: 14,5 %; 2022: 16,7 %). Der Anstieg in der Zahl armutsbetroffener Kinder fällt in eine Zeit mit einer insgesamt positiven wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 1,5 %. Offenbar kommt von diesem Wachstum aber nicht genug bei denjenigen an, die das Geld am dringendsten benötigen.
Armut bedeutet für Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht nur, dass im Zweifel am Ende des Monats Leere im Kühlschrank herrscht. Armut bedeutet auch Ausgrenzung, mangelnde kulturelle Teilhabe und Stigmatisierung. Wir wissen auch aus zahlreichen Studien – und die Bundesregierung hat uns auch in diversen Kleinen Anfragen bestätigt, dass ihr dieser Zusammenhang bekannt ist – dass Kinder aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien häufiger von physischen als auch psychischen Problemen betroffen sind. Gleichermaßen schlecht ist es um ihre Zukunftschancen bestellt: Die soziale Mobilität ist in wenigen Ländern auf einem ähnlich niedrigen Entwicklungsstand wie in Deutschland, will heißen: Wer in eine Familie mit niedrigem sozioökonomischen Status geboren wird, hat sehr geringe Chancen, sich als Erwachsene:r aus dieser Armut zu befreien.
Um für Kinder und Jugendliche in Armut zu kämpfen, hat sich bereits 2009 das «Bündnis Kindergrundsicherung» gegründet. Diese aus inzwischen 20 Verbänden bestehende Initiative hat seit ihrem Bestehen für das Thema lobbyiert und ein eigenes Konzept vorgelegt, welches immer wieder aktualisiert wurde.
Auch wir als Partei DIE LINKE haben bereits vor einiger Zeit ein entsprechendes Konzept vorgelegt. Das Modell besteht aus insgesamt vier Säulen:
Die erste Säule ist einkommensunabhängig und liegt bei 328 Euro. Dieser Betrag entspricht dem maximalen steuerlichen Freibetrag pro Kind, womit sichergestellt ist, dass Besserverdienende nicht mehr von Kindern profitieren, als Familien mit geringem Einkommen, wie es aktuell der Fall ist. Die zweite Säule unseres Konzeptes ist sowohl vom Einkommen der Eltern, als auch vom Alter der Kinder abhängig. Mit dieser Säule werden die besonderen Bedarfe von Kindern abgebildet, deren Eltern aktuell im Bezug von Bürgergeld sind oder deren Eltern nur das eigene Existenzminimum abdecken können, die also aktuell berechtigt wären, Kinderzuschlag und Kindersofortzuschlag zu unterhalten. In dieser Säule sind beispielsweise pauschal 156 Euro für die Unterkunft enthalten. Mit Säule drei werden die tatsächlichen Wohnkosten ausgeglichen, sollten diese die Pauschale aus Säule zwei übersteigen. Mit der vierten und letzten Säule sollen einmalige Sonderbedarfe abgedeckt werden – etwa wenn Klassenfahrten, Umzüge oder außergewöhnliche Feste, wie Jugendweihe oder Konfirmation anstehen. Dieses Konzept, das sich am echten Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen orientiert, wäre wirklich geeignet, um Armut zu bekämpfen.
Erster Akt: Bekenntnis
Im November 2021 legten die Ampel-Parteien ihren Koalitionsvertrag vor. Mit enthalten ist darin das Vorhaben, eine Kindergrundsicherung einzuführen, die zum Ziel hat «mehr Kinder aus Armut zu holen», was insbesondere durch «Digitalisierung und Entbürokratisierung» erreicht werden solle. Außerdem sollte in diesem Kontext das Existenzminimum neu berechnet werden. Grundsätzlich haben wir als LINKE – wie auch viele Verbände – diese Entscheidung begrüßt, auch wenn bereits damals die Befürchtung bestand, dass die vage Formulierung noch für Streit innerhalb der Koalition sorgen würde und dass die Koalitionsparteien erheblich unterschiedliche Vorstellung davon haben würden, wie denn so eine Kindergrundsicherung aussehen soll.
Da die Kindergrundsicherung ressortübergreifende Abstimmung erforderlich macht, wurde zunächst eine interministerielle Arbeitsgruppe mit diversen Unter-AGs gebildet. Diese nahm Ende März 2022 ihre Arbeit auf. Im Mai meldeten sich die Jobcenter-Personalräte zu Wort und warnten davor, dass eine Kindergrundsicherung, wie sie in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen präsentiert wurde, für manche Konstellationen sogar eine Verschlechterung gegenüber der aktuellen Situation bedeuten würden. Dann geschah erst einmal nichts.
Zweiter Akt: Die Weihnachtsbotschaft
Am 25. Dezember 2022 ging Familienministerin Lisa Paus (Grüne) über die Presse in die Offensive – auch wenn sie wenig Neues zu verkünden hatte. Ende der Sommerpause solle ein Gesetzesentwurf vorliegen, ab 2025 die Auszahlung beginnen. Die Höhe blieb nebulös, es war nur von einem Garantiebetrag und einem einkommensabhängigen Zusatzbetrag die Rede. Zusätzlich versprach sie jedoch, dass im Januar mit den anderen beteiligten Ministerien abgestimmte Eckpunkte vorgelegt würden.
Dritter Akt: Falsch aufgezäumte Pferde verheddern sich
Eckpunkte kamen, aufeinander abgestimmt waren sie jedoch keineswegs. Einen Tag nachdem wir in der letzten Januar-Sitzungswoche einen Bericht im Ausschuss angefordert hatten, wie es denn um die Kindergrundsicherung und die Vorlage der gemeinsamen Eckpunkte bestellt sei, wurde ein Papier an die Presse durchgestochen. Dieses wurde häufig fälschlicherweise als das von Paus im Dezember angekündigte Papier verstanden – es war jedoch nicht mehr als die Position des Familienministeriums.
In der Folge begann eine beispiellose Schlammschlacht. Plötzlich standen Zahlen im Raum. Allerdings ging es dabei nicht um eine Summe, die Kinder pro Monat benötigen, um nicht in Armut aufzuwachsen, sondern es ging um die Frage, wie viel es denn insgesamt kosten würde. Paus stellte zwölf Milliarden in den Raum – Linder zwei bis drei. Zum Vergleich: Das Konzept des Bündnisses Kindergrundsicherung rechnet mit Kosten knapp über 20 Milliarden – das Konzept der LINKEN liegt bei knapp 25 Milliarden. Hier wurde aber eben zunächst die Frage beantwortet «Was brauchen Kinder und Jugendliche?» und dann wurde zusammengerechnet.
Das Familienministerium konnte auf mehrfache Nachfrage hin nicht erklären, wie sich die Zahl denn zusammensetzen würde. Das «größte sozialpolitische Vorhaben der Bundesregierung» scheint sich insbesondere an haushalterischen Vorgaben zu bemessen und nicht an dem Ziel, Kinder und Jugendliche aus Armut zu holen. Die Neuberechnung des Existenzminimums ist darüber hinaus nicht abgeschlossen und es gibt widersprüchliche Aussagen, ob dies noch rechtzeitig erfolgen wird.
Besonders aus Reihen der FDP wurde die Kindergrundsicherung als reine Zusammenführung und Digitalisierung bestehender Leistungen verstanden. Darüber hinaus wäre es sowieso viel sinnvoller in gute Bildungschancen zu investieren – was ebenfalls nicht geschieht – als Geld auszuzahlen, denn dies würde ja vermutlich von den Eltern zweckentfremdet. Eine Anfrage an den wissenschaftlichen Dienst ergab jedoch: Es gibt keinerlei Studien, die diese Behauptung untermauern, im Gegenteil. Die einzige deutsche Studie zeigt deutlich positive Effekte für die Kinder, wenn Eltern mehr Geld zur Verfügung haben. Ähnliches zeigt eine aktuellere Studie aus den USA. In dieser Zeit melden sich auch die Jobcenter-Personalräte ein zweites Mal zu Wort und ihr Urteil ist vernichtend: Die im Raum stehende Höhe ist völlig unzureichend, die Umsetzung für die Verwaltung nicht machbar.
Vierter Akt: Brieffreundschaften
Anfang Juli dann der nächste dramatische Auftritt. Paus habe sich nun mit Scholz auf Eckpunkte verständigt – der Kanzler stehe an ihrer Seite. Einen Tag später jedoch dringt durch: Scholz hat Paus einen Brief geschrieben und ihr eine Frist bis Ende der Sommerpause gesetzt, bis dahin soll sie Gesetzesentwürfe in drei Varianten vorbereiten. Ein durchaus bemerkenswerter Vorgang. In der Folge korrigiert Paus ihre Forderung nach unten, zwölf Milliarden seien wohl nicht nötig. Im Haushaltsplan für 2025 tauchen gar nur zwei Milliarden auf – lediglich ein Merkposten oder Platzhalter, wie man sich beeilt zu erklären.
Fünfter Akt: Scheitern, ohne dass wie Scheitern aussieht
Egal ob es am Ende zwei, sechs oder zwölf Milliarden werden: Eine echte Kindergrundsicherung, die tatsächlich dazu geeignet ist Kinder aus Armut zu holen, wird es ab 2025 mit großer Sicherheit nicht geben. Schon jetzt lässt sich nämlich absehen, dass Wohnkosten nur mit einer zu niedrigen Pauschale einbezogen werden, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit werden die ärmsten Familien in Zukunft zu zwei Ämtern rennen müssen, um ihr Existenzminimum zu sichern.
Aktuell geht es nur noch um die Frage, ob wir eine reine Verwaltungsreform bekommen, in der Kindergeld, Kinderzuschlag und Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zusammengelegt werden oder ob es mit einer kleinen Anpassung der Leistungen, die aber vermutlich nicht mal ein Inflationsausgleich wäre, eine «Kindergrundsicherung light» geben wird. Die Frage der Wohnkosten bleibt ungeklärt, eine Anrechnung auf weitere Leistungen wird nicht ausgeschlossen, was wiederum denen, die sowieso besonders wenig haben, das Leben zusätzlich erschwert. Davon, Kindern und Jugendlichen ihr Existenzminimum zu sichern, ist gleich gar nicht mehr zu hören.
Dass Leistungen vereinfacht ausgezahlt werden, ist sicher positiv. Aber definitiv keine Kindergrundsicherung, die diesen Namen verdient hat. Die Armut bleibt.
Der Artikel ist zuerst erschienen bei der Rosa - Luxemburg Stiftung.