Der Bundestagswahlkampf der LINKEN – die fast finale Niederlage

Die Wahlniederlage der LINKEN im vergangenen September ist bis heute weder vollständig aufgearbeitet und noch weniger verarbeitet. Das ist zu wenig für eine Partei, die kurz vor ihrem Untergang stand. Ein Ausscheiden aus dem Bundestag hätte die Partei DIE LINKE kaum verkraftet. Dieser Text versucht, dieser Verantwortung in Bezug auf den Wahlkampf gerecht zu werden. Eine Bundestagswahl ist die zentrale politische Kampagne einer Partei mit der sie ihre Forderungen allen Menschen im Land bekannt macht. Funktioniert diese zentrale Kampagne nicht, macht eine Partei etwas grundsätzlich falsch. Der Wahlkampf mag nur für einen Bruchteil der Niederlage verantwortlich sein -  über den Zustand einer Partei lässt sich daraus viel ableiten.

Die Gründe für die Niederlage sind unbestreitbar überwiegend struktureller Natur. Dazu wurde schon viel geschrieben und gesagt – von der Kanzlerwahl bis zu den langandauernden Verlusten der LINKEN im Osten. Bloß auf die strukturellen Gründe zu verweisen, wäre aber zu bequem. Die Frage ist, welcher Teil dieser Niederlage hausgemacht ist. Das auszuwerten, ohne die strukturellen Gründe zu vergessen, gehört zur Verantwortung der linken Führung einer Partei. Meine Ausführungen beziehen sich nur auf den Wahlkampf und beanspruchen weder Vollständigkeit, noch sind sie neutral, aber sie sind getrieben von dem Wunsch nach Aufklärung dieser - fast – finalen Niederlage.

Vor der Chronologie: Die Hauptgründe für die Niederlage[i]

Auch ein noch so brillanter Wahlkampf hätte die Niederlage im vergangenen September nicht verhindern können, aber ein besserer Wahlkampf hätte sicher ein paar Nachkommastellen verbessern können. Das kann entscheidend sein bei einem Ergebnis um die 5%. Vor der Chronologie des LINKEN Wahlkampfs will ich die Hauptgründe für die Niederlage aufzählen:

Seit 2010 bestimmen soziale Themen nicht mehr die öffentliche politische Agenda. Für eine linke Partei ist das mehr als schwieriges Fahrwasser. Zudem haben sich die in den 00er Jahren offen neoliberalen Parteien SPD und Grüne etwas gewandelt und konkurrieren nun wieder mit der LINKEN in ihrem sozialen Kerngebiet um die Wählerschaft. Statt sozialer Themen dominierten im letzten Jahrzehnt Debatten um Ökologie, Migration und Identität/Emanzipation die Gesellschaft. DIE LINKE hatte als Gesamtpartei dazu nie eindeutige und häufig sogar viele verschiedene Antworten. Seit 2015 gab der Parteivorstand um die Vorsitzenden die eine Antwort und die Bundestagsfraktion mit deren Vorsitzenden eine gegenteilige.

Die Stammwählerschaft der Partei im Osten schrumpft seit Anfang 2000 fast kontinuierlich und ein Teil der vormaligen Wählerschaft aus den unteren Klassen geht nicht mehr wählen. Die PDS war ein Generationenprojekt ohne Nachwuchs und ohne Mitgliedergewinne. Nun stirbt die tragende Generation der PDS und mit ihr weite Teile der Partei im Osten. Die kurzen Aufs 2007-2009 und 2014-2017 hat die Partei jeweils wieder verspielt. Die neuen Teile der Wählerschaft aus der besseren Konjunktur 2014-2017 sind überwiegend jünger, weiblicher und aus den größeren Städten. Sie entscheiden sich anders als die alte Stammwählerschaft der PDS taktisch von Wahl zu Wahl zwischen SPD, Grünen und Linkspartei. Dieses Mal wollten diese taktischen Wählerinnen vor allem einen erneuten Kanzler der CDU verhindern. Die Nachwahlbefragungen zeigen das deutlich: Mehr als die Hälfte der SPD-Wählerschaft hat sich nur wegen der Kanzlerwahl für die Sozialdemokratie entschieden. Bei den Grüne-Wählern dominierten hingegen programmatische Gründe bei ihrer Wahlentscheidung.

Ein Teil der Protestwählerschaft von 2005-2009 hat sich schon 2013 und spätestens 2017 unwiederbringlich zur AfD verabschiedet. Das wurde in den letzten Jahren ausführlich wissenschaftlich untersucht.[ii] 2021 spielte der Wählerwechsel zur LINKEN keine Rolle mehr und die Wählerschaft der AfD ist in ihrem Wahlverhalten mittlerweile gefestigt. Daneben verliert DIE LINKE vor allem in den unteren Klassen Wählerinnen und Wähler in das Nichtwählerlager. Neben diesen Trends kam 2020/21 die Corona-Pandemie hinzu, in der die Partei mit ihrem Drängen auf eine sozialere Ausgestaltung der Maßnahmen und eine Verbesserung der Zustände im Gesundheitssystem kaum durchdrang. Als Partei mit besonders aktiver Mitgliedschaft wurde DIE LINKE von den Beschränkungen persönlicher Kontakte in der Pandemie am härtesten von allen Parteien getroffen. Sie lebt von Kontakten, Versammlungen und Aktionen und kann nicht gleichermaßen auf die mediale Sympathie wie andere Parteien bauen.

Der Februar-Parteitag

Aufgrund der Coronasituation wurde der Bundesparteitag bereits zweimal vertagt. Der Parteivorstand war zu diesem Zeitpunkt ein Jahr länger im Amt als üblich. Um diese Amtszeit nicht noch weiter zu verlängern, fand der Parteitag erstmals Online statt. Die alten Parteivorsitzenden waren nach jahrelangen Kämpfen mit der Bundestagsfraktion und einigen Wahlniederlagen in der (Partei-)Öffentlichkeit angeschlagen. Sie hätten in der Konfliktsituation mit der Fraktion sicherlich noch einmal die Mehrheit bekommen, entschieden sich aber aus eigener Kraft für einen personellen Wechsel. Der Bundesparteitag erschien als Chance für eine Erneuerung. Der Parteivorstand erneuerte sich, neben der gewohnt starken Repräsentanz des Reformerflügels, vor allem auf dem linken Flügel. Der Wagenknechtflügel war auf dem Parteitag kaum präsent und schnitt schwach ab zugunsten vieler jüngerer KandidatInnen der Bewegungslinken.

Inhaltliche Kontroversen gab es bis auf die Nichtwahl von Matthias Höhn als Konsequenz seiner außenpolitischen Vorschläge auf dem Parteitag nicht. Der Parteitag war ganz auf eine Erneuerung durch neues Personal zugeschnitten. Der Bundesparteitag selbst wurde hervorragend organisiert, band aber erhebliche Ressourcen des Karl-Liebknecht-Hauses. Aber nacheinander.

Die neue Parteispitze und ein sehr kurzer Aufbruch

Mit Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow wählten die Delegierten die beiden profiliertesten Landespolitikerinnen der LINKEN. Mit der Neuwahl wurde ein Aufbruch ausgerufen. Vielmehr als ein kleiner Hoffnungsschimmer war dieser Aufbruch aber nicht. Bereits eine Woche nach der Wahl hatte Susanne Hennig-Wellsow einen Blackout in einem Interview mit Tilo Jung und wiederholte dies einen Monat später bei Markus Lanz. Dazu kam die Wahlniederlage bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg mit schlechten Ergebnissen. Unterdes war die Partei in den Bundesländern mit zahlreichen Listenaufstellungen beschäftigt. Der Führungswechsel wurde vor allem organisatorisch problematisch, denn er unterbrach die Wahlkampfvorbereitungen und band massiv Ressourcen. Auch die beschlossene Wahlstrategie mit ganzen 9(!) Schwerpunkten hatte noch der alte Parteivorstand verabschiedet. Entsprechend wenig Beachtung fand die Wahlstrategie im weiteren Verlauf. Der Parteivorstand musste, kaum im Amt, die Wahlniederlagen diskutieren, das Wahlprogramm miterstellen und sich um die Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl kümmern.

Mitten in den Prozess der Erstellung und Diskussion des Wahlprogramms platzte am 14. April das Buch der bekanntesten LINKEN-Politikerin Sahra Wagenknecht. Ihr Buch „Die Selbstgerechten“ reaktivierte sofort den innerparteilichen Kampf um die „richtigen und falschen Milieus“, die Stellung zu „unteilbar“, Fridays for Future und anderen emanzipatorischen Bewegungen. Die Kernthese des Buchs zielte auf die Partei DIE LINKE ab: Die Partei würde nicht mehr die Interessen der arbeitenden Menschen und ihrer vormaligen Wählerschaft vertreten. Die Partei solle sich darauf konzentrieren Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückzugewinnen. Sollten diese Thesen Wahlwerbung für die LINKE sein, ist dieser Plan mehr als gründlich gescheitert. Der Streit um das Buch beschäftigte die Partei weitere zwei Monate. In den wesentlichen gesellschaftlichen Fragen stand die Partei wieder mal als gespalten dar bzw. attestierte ihr ihre prominenteste Politikerin ein Komplettversagen in ihrem ureigensten Feld.

Der Weg zur Bundestagswahl – die Nominierung der SpitzenkandidatInnen

Der massive Streit ermöglichte zumindest etwas, was der LINKEN normalerweise nicht gelingt: die gemeinsame Verständigung auf ihre SpitzenkandidatInnen. Partei- und Fraktionsspitze waren sich einig, Dietmar Bartsch und Janine Wissler ins Rennen für die Bundestagswahl zu schicken. Die Nominierung erfolgte am 10. Mai relativ geräuschlos und selbst das wurde zum Problem. Normalerweise markiert spätestens die Wahl der SpitzenkandidatInnen den Start des Wahlkampfs einer Partei. Doch nach ihrer Nominierung passierte erstmals: Nichts. In der Außenkommunikation der Partei und Fraktion spielte diese Nominierung so gut wie keine Rolle. Beide KandidatInnen waren bundesweit nicht besonders bekannt und ab ihrer Nominierung hätte die Kommunikation der Partei und Fraktion ganz auf sie zugeschnitten sein müssen. Zwar gab es einen Wahlkampf-Koordinierungsrat und einen Wahlstab seit Sommer 2020, doch spielten die SpitzenkandidatInnen scheinbar keine Rolle. Das lag sicherlich auch an der 3. Welle der Corona-Pandemie, die im Mai 2021 mit der Delta Variante im Land wütete und die mediale Berichterstattung bestimmte. Die Partei DIE LINKE drang mit ihrer Linie nach mehr sozialer Gerechtigkeit in der Pandemie auch hier nicht durch. Zudem war ein Großteil der Ressourcen des Karl-Liebknecht-Hauses mit der Organisation des Programmparteitages am 19.-20. Juni beschäftigt. In der Bundestagsfraktion bereitete ab Mai – auf Vorschlag eines Teils der Parteispitze - unterdes ein Teil der Abgeordneten mögliche Sondierungen vor (was in der Parteiöffentlichkeit erst im August bekannt wurde). Die Wahlniederlage in Sachsen-Anhalt am 6. Juni verkam da zur Randnotiz - zu sehr war die Partei mit sich selbst beschäftigt und die Niederlage war zugleich von allen Seiten erwartet worden.

Der Wahlprogrammparteitag

Das Wahlprogramm wurde in so kurzer Zeit erarbeitet wie nie zuvor. Aufgrund des Online-Parteitages Ende Februar blieben dem neuen Parteivorstand kaum zwei Monate für einen Vorschlag und die Einarbeitung der fast 1200 Änderungsanträge seitens der Mitgliedschaft. Die großen Konfliktthemen Migration und Milieus spielten hier ebenso wenig eine Rolle wie auf dem Februar-Parteitag. Stattdessen waren wieder stark ökologische Themen und Anträge in der Diskussion präsent – unter anderem weil die meisten anderen Vorschläge übernommen wurden. Das Wahlprogramm wurde dann mit nur wenigen Gegenstimmen verabschiedet. In der Pandemie setzte DIE LINKE auf eine Stärkung der Pflege, einen höheren Mindestlohn, eine Absicherung der Renten und natürlich Frieden. Alles wichtige aktuelle Themen, die in der Öffentlichkeit aber kaum eine Rolle spielten und fast ebenso in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen standen.

Medial drangen die Inhalte des Parteitages kaum nach außen. In der Berichterstattung zum Parteitag dominierte weiterhin der innerparteiliche Streit und die Auseinandersetzung um das Buch von Sahra Wagenknecht, obwohl weder Wagenknecht präsent, noch ihr Flügel auf dem Parteitag wahrnehmbar war. Zudem rief Oskar Lafontaine am 7.6.2021 zur Nichtwahl der LINKEN im Saarland auf, weil sich sein ehemaliger Mitarbeiter Thomas Lutze gegen seinen letzten Listenvorschlag durchgesetzt hatte (dieser wiederum hatte u.a. Verfahren wegen Urkundenfälschung anhängig). Während die sozialpolitischen Vorschläge medial verpufften, fand zumindest der humoristische Antrag zur Senkung der Schaumweinsteuer etwas Aufmerksamkeit in der Boulevardpresse. Ein schwacher Trost.

Das beschlossene Wahlprogramm brauchte dann noch mal über einen Monat bis es veröffentlicht wurde. Das machte aber nichts, denn es spielte im weiteren Wahlkampf ebenso wenig eine Rolle wie die Wahlstrategie (jenseits der Wahlplakate). Bis zum Wahltag war unklar wie DIE LINKE mit ihren sozialen Kernbotschaften durchdringen sollte. Die SPD und die Grünen traten mit dem sozialsten Programm seit 20 Jahren an. In der Nachwahlbefragung bewerteten die Wählerinnen und Wähler soziale Gerechtigkeit als Hauptgrund für ihre Wahlentscheidung. Offenbar verknüpften sie das aber kaum mit der LINKEN oder trauten die Durchsetzung eher Grünen und SPD zu. Im Wahlkampf spielten diese Themen medial nur leider kaum eine Rolle. Ohne beständige, kampagnenartige Wiederholung pointierter Schwerpunkte und ohne klaren Zuschnitt auf das Spitzenkandidatenduo war - so lässt es sich zumindest im Rückblick klar sagen - keine Chance auf Wahrnehmbarkeit zu erwarten. Die neuen ökologischen Programmvorschläge drangen nicht durch. Die ökologische Kompetenz wurde von den Wählerinnen eindeutig den Grünen zugeschrieben. Das linke Wahlprogramm war hier bedeutungslos. Ohne eigenes Wording und das Setzen von einfachen und verständlichen Frames hatte es auch von vornerein keine Chance. Zu keinem Zeitpunkt wurde versucht das Programm in wenige greifbare Sätze zu übersetzen. Formulierungen wie „sozialökologischer Umbau“ oder „soziale Frage“ sind Parteisprech und für den Wahlkampf untauglich. So blieben SPD und Grüne links im medialen Fokus – was natürlich auch an ihren aussichtsreichen KanzlerkandidatInnen lag.

Letzte Wahlkampfvorbereitungen

Ein übergeordnetes Kampagnenteam, dass die komplette Verantwortung für den Wahlkampf trug, gab es nicht. Neben dem Wahlstab und dem Wahlkampfkoordinierungsrat (kurz WaKoRa) entschied vor allem die „Sechserrunde“ aus Partei- und Fraktionsvorsitzenden sowie den jeweiligen Geschäftsführern viele wesentliche Fragen auf ihren regelmäßigen Besprechungen. Das Fehlen eines strategischen Zentrums, das im Fall der Fälle das Vertrauen der gesamten Partei hat, machte sich hier besonders schmerzlich bemerkbar. Der Wahlkampf blieb so vielfach Stückwerk. Die Partei, die Landesverbände und die Fraktion wurstelten sich zur Bundestagswahl. Im Wahlkampfabschlussbericht der Bundesgeschäftsstelle heißt es dazu lapidar: Die Zusammenarbeit funktionierte „mit einigen Landesverbänden gut“.

Erst ab dem 20. Juli nahm der Wahlkampf auf den Social-Media-Seiten der Partei langsam Fahrt auf. Ein wichtiger Beitrag war die schon am 6. Juni gestartete sogenannte „Einhornfabrik“ der linken Öffentlichkeitsabteilung, die die Reichweite von Posts verstärken sollte. Wichtiger aber: Die Koordination mit der langjährigen Agentur für den Wahlkampf funktionierte schlecht. Mit dem Anbieter für Großflächen gab es ebenso vielfältige Probleme. Die Plakate und Materialien waren vielfach zu spät in den Landes- und Kreisverbänden. Manche Materialien kamen erst Anfang September vor Ort an. Wegen Corona kam der Kandierendenservice für die Kandidatinnen und Kandidaten der Partei viel zu spät in Gang. Auf neuen Plattformen wie TikTok war die Partei aufgrund der Unterbesetzung im Öffentlichkeitsarbeitsbereich jedoch nicht vertreten. Immerhin bei den Haustürgesprächen schaffte die Partei mit 221.000 Haustüren einen neuen Rekord. Während über dieses effektivste Wahlkampfmittel in der Partei noch gestritten wurde, stellte die SPD mit 3 Millionen-Haustürbesuchen pragmatisch einen Rekord auf. Mit wenig Schwung und vielen Problemen startete DIE LINKE in den Schlussspurt, der üblicherweise als „Wahlkampf“ bezeichnet wird.

Der Wahlkampfbeginn und die realen Forderungen

6 Wochen vor der Wahl eröffneten Janine Wissler und Dietmar Bartsch den Wahlkampf der Partei DIE LINKE offiziell mit der Enthüllung der Plakate. Schon dieser Wahlkampfauftakt ging medial unter. Bis heute lassen sich die Berichte darüber nur mit Mühe und Not finden. Die Plakate waren zumindest solide und kommunizierten die altbekannten Forderungen der Partei. „Neu“ war lediglich ein Plakat für einen besseren und kostenlosen ÖPNV (und damit zum zweiten Mal ein zentrales Plakat mit ökologischer Forderung). Statt dem beschlossenen Wahlprogramm mit sozialökologischem Fokus, beschränkte sich der Wahlkampf meist ganz auf soziale Motive und Gerechtigkeitsthemen. In Zeiten der Parteikrise sollten die alten Evergreens der Partei soziale Gerechtigkeit, Mindestlohn, Rente und Frieden zumindest die Verluste in Grenzen halten. Nur überzeugte das offenbar weder die Stammwählerschaft, noch die taktischen WählerInnen.

Das (Wahl-)Programm bzw. seine Vermittlung überzeugte lediglich 1-3% derjenigen SPD-Wähler und Grünen-Wählerinnen, die sich insgesamt vorstellen konnten DIE LINKE zu wählen. Selbst unter den LINKE-WählerInnen überzeugte das Wahlprogramm nur 45% und damit weniger als die Hälfte. Es schien schlicht unklar, warum DIE LINKE bei dieser Wahl gewählt werden sollte (jenseits der schrumpfenden Stammwählerschaft). Die Kernthemen begeisterten zu wenige, die Partei wurde nicht als Kraft wahrgenommen, die sie durchsetzen kann. Zu zerstritten und unmotiviert wirkte DIE LINKE insgesamt. Weder die alten, noch die neuen Botschaften wurden gezielt und kampagnenmäßig vermittelt. Wozu es angesichts dieser Umsetzung einen aufwendigen Wahlprogrammprozess brauchte, bleibt erklärungsbedürftig.

Die öffentlichen Botschaften in der Endphase des Wahlkampfs von Partei und Fraktion waren auch noch kaum abgestimmt. Teils kommunizierten die SpitzenkandidatInnen, Fraktions- und Parteivorsitzende sogar gegenteilig – etwa in der Außenpolitik. Immerhin die öffentlichen Veranstaltungen wurden solide bespielt. Ein wenig Aufatmen im Wahlkampf brachte der öffentlich zelebrierte Waffenstillstand am 25. August zwischen Wagenknecht/Lafontaine und Susanne Hennig-Wellsow bei einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt in Weimar. Durch diese von Hennig-Wellsow initiierte Veranstaltung gab es zumindest während der letzten Wahlkampfwochen keine Querschüsse aus der Partei mehr (bis auf ein Interview des Frankfurter Bürgermeisters kurz vor der Wahl). Und zumindest bei Janine Wissler waren die öffentlichen Veranstaltungen der Partei deutlich besser besucht als erwartet. Eine, der wenigen positiven Ausnahmen des Wahlkampfes, neben ihrem unbestreitbaren medialen Talent.

Der Wahlkampf lief vielerorts schwer an. Im Osten war die tragende Generation kaum mehr in der Lage flächendeckend den Wahlkampf zu organisieren - vor allem aus Altersgründen. Insgesamt war die freiwillige Beteiligung am Wahlkampf deutlich niedriger als sonst. Es gab weit weniger Freiwillige und selbst auf der Aktiven- und Funktionärsebene herrschte meist Dienst nach Vorschrift. Die wichtigsten Zutaten zum Wahlkampf fehlten: Vertrauen in die eigene Sache, Motivation und Teamgeist. Das Fehlen dieser Kernvorausvoraussetzungen war von oben bis in den Aktivenkörper der Partei verbreitet – bis auf wenige Ausnahmen. Der Kommunalwahltermin in Niedersachsen 2 Wochen vor der Wahl spielte im Kampagnenplan der Partei – anders als etwa bei den Grünen, die ihren Wahlkampfauftakt direkt nach Niedersachsen verlegten – keine Rolle.

Vom Triell zum unerwarteten Favoriten.

Der Wahlkampf versprach spannend zu werden. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik konkurrierten drei Kandidatinnen um das Amt des Bundeskanzlers. Lange war ein Kopf an Kopf-Duell von CDU und Grünen erwartet worden, aber die Grünen schieden wegen individueller Fehler von Annalena Baerbock und einer gegen sie gerichteten Medienkampagne konservativer Medien bereits im Frühsommer aus dem engeren Kanzlerrennen aus. Daran konnte auch das Hochwasser im Ahrtal nichts mehr ändern. Das Klima war ein wichtiges, aber kein bestimmendes Thema der Bundestagswahl. Das Hochwasser wurde unerwartet für den CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet zum Schicksalsereignis. Ein Lachen im Hintergrund besiegelte seine Ambitionen auf das Kanzleramt. Damit war das lange erwartete Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und Grünen perdu. Relativ unerwartet wurde der medial blasse und links ungeliebte Kandidat Olaf Scholz zum Favoriten. Scholz entschied sich für eine Nichtkommunikation. Er wich allen Fragen von Journalist*innen aus und setzte darauf, Solidität, Stabilität und Ruhe auszustrahlen. Wie Angela Merkel versuchte er als Favorit im Kanzlerrennen jegliche Zuspitzung zu vermeiden, um keine Angriffsfläche zu bieten.

Plötzlich wurde damit wieder ein Rot-Rot-Grünes Bündnis möglich. Der angehende Kanzler Olaf Scholz schloss ein solches Bündnis aber intern aus. Auf die veränderte Situation reagierte in der LINKEN nur die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow, indem sie offensiv auf einen Lagerwahlkampf für eine rot-rot-grüne Regierung setzte. Im Wahlkampfbericht der Partei heißt es dazu: „Insbesondere konnte unsere Partei die aus der Gesellschaft an sie gerichtete Frage nicht plausibel genug klären, ob und gegebenenfalls welche Rolle sie in einem solchen Modell eines Politikwechsels spielen kann, wenn sich Fragen sozialer Gerechtigkeit mit ökologischen und Fragen der kulturellen Modernisierung der Gesellschaft verbinden.“ Am Ende gewann „das linke Lager“ ohne DIE LINKE. Während Teile des Reformerlagers der LINKEN einer Regierung entgegen sehnte, bereiteten SPD und Grüne ihre mediale Kampagne gegen DIE LINKE vor, um eine ebensolche Regierung zu verhindern. Das ist auch für SPD und Grüne heikel gewesen, denn in ihrer Wählerschaft ist eine rot-rot-grüne Regierung durchaus beliebt. Beide Parteien suchten sich für ihren Angriff auf DIE LINKE die Außenpolitik aus – unerwartet rückte sie in den Mittelpunkt ab Mitte August.

Ein Wahlkampfgeschenk, dass vom Segen zum Fluch wurde

Nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan waren die Taliban seit dem Frühjahr auf dem Vormarsch und besetzten ab dem Frühsommer eine wichtige Provinz nach der anderen. Nach 20 Jahren standen die Taliban wieder da, wo sie vor der Intervention in Afghanistan 2001 waren: an der Macht. Das unterstrich noch einmal die völlige Sinnlosigkeit des Afghanistan-Einsatzes. Der Krieg kostete abertausende Menschenleben, Verletzte und verschlang Unsummen an Geld. DIE LINKE war die einzige Partei, die immer gegen diesen Krieg bestimmt hat. Trotzdem geriet die letzte Mandatierung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan nur für DIE LINKE zum Fiasko.

Das letzte Afghanistan-Mandat für die Bundeswehr sollte – eher – nachträglich die Evakuierung afghanischer Ortskräfte legitimieren. Der Einsatz war am 25. August schon fast abgeschlossen. Real umfasste das Mandat aber mehr als nur die Evakuierung durch die Bundeswehr. Es schloss auch die Möglichkeit eines KSK-Einsatzes in Afghanistan, und nicht nur am Flughafen in Kabul, ein. Das wurde medial und öffentlich nicht so kommuniziert. DIE LINKE-Bundestagsfraktion hatte bereits im Juni beantragt die Evakuierung durchzuführen, wurde aber von der Großen Koalition überstimmt.

Bis dato hatte DIE LINKE nie einem Bundeswehr-Mandat zugestimmt. Parteivorstand und Fraktion waren sich der Brisanz bewusst und riefen sofort Sitzungen ein. In der LINKEN-Wählerschaft ist eben diese Frage einer der umstrittensten. Genauso stark wie DIE LINKE-Wählerschaft für Frieden ist, so sehr ist sie auch für Rettungsmissionen. Die Frage des Abstimmungsverhalten war für DIE LINKE unmittelbar vor der Bundestagswahl besonders heikel. Der Parteivorstand verständigte sich in seiner Beratung auf eine Enthaltung, weil es sowohl Ja-Stimmen als auch Nein-Stimmen gab. Mit der Enthaltung sollte ausgedrückt werden, dass DIE LINKE weder das Evakuierungsdebakel noch das Mandat zum Kampfeinsatz goutieren wollte. Die Abstimmung des Parteivorstandes wurde auf Bitten der Fraktionsvorsitzenden nicht kommuniziert, um eine möglichst geschlossene Abstimmung in der Fraktion nicht zu gefährden. Dem folgte der Parteivorstand. In der Fraktionssitzung kündigten dann mehrere Abgeordnete an trotzdem mit Nein zu stimmen und andere mit Ja. Wieder einmal traten die Partei und ihre Abgeordneten in einer zentralen Frage nicht geschlossen auf. Die mehrheitliche Enthaltung der Bundestagsabgeordneten versuchte die Fraktion anschließend öffentlich zu verstecken. Der Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidat Dietmar Bartsch griff die Große Koalition für ihr Versagen in Afghanistan zwar richtigerweise frontal an, begründete das Abstimmungsverhalten der eigenen Fraktion aber überhaupt nicht.[iii] Im Gegenteil, er versuchte das Abstimmungsverhalten in seiner Rede erst gar nicht zu thematisieren. In der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktion wurde das Ergebnis anschließend ebenso versteckt. Das Ergebnis war ein Kommunikationsgau. In den Augen der Öffentlichkeit hatte DIE LINKE sich gegen die Evakuierung ausgesprochen. Die SPD und die Grünen nutzten die Steilvorlage und schossen sich auf die Unzuverlässigkeit der LINKEN in außenpolitischen Fragen ein.

So stieß das gesamte Vorgehen allen Teilen der linken Wählerschaft vor den Kopf: 1. der Mehrheit ihrer Wählerschaft, die für Rettungsmissionen ist, 2. besonders den älteren, akademischen Stammwählern der Linken im Osten, weil sie grundsätzlich gegen Kampfeinsätze der NATO sind und 3. wurde den unteren Klassen im linken Wählersegment, die dort unpopuläre Haltung der LINKEN zur NATO noch einmal bewusst gemacht. Ihre Unentschiedenheit und Unentschlossenheit kostete der LINKEN so Stimmen in allen Bereichen. Die Partei hätte sich entweder für den Rettungseinsatz entscheiden sollen, weil das Mandat größtenteils eine nachträgliche öffentliche Legitimierung des Einsatzes am Flughafen Kabul war. Oder aber die Partei stellt sich in dieser wichtigen Entscheidungssituation gegen den Mainstream. Auch das war möglich, nur hätte es eine doppelte und gemeinsame Kraftanstrengung in der Außenkommunikation erfordert, um die Entscheidung zu erklären und zu popularisieren. Für den Wahlkampf wären wohl alle Varianten besser gewesen als diese.

Fazit: Die Niederlage verarbeiten

Am Wahltag ist DIE LINKE knapp der Katastrophe entronnen. Der politische Trend der letzten Jahre arbeitete der LINKEN nicht unbedingt zu. Gegen den Trend kann DIE LINKE aus eigener Kraft heraus dagegen keine Wunder wirken, aber sie muss die Punkte angehen, die sie real beeinflussen kann.

Wenn eine Partei gehört werden will, muss sie mit einer Stimme sprechen. Das gilt für eine 4,9%- noch mehr als für eine 9,2%-Partei. Entscheidende politische Fragen müssen geklärt werden und sei es durch schmerzhafte Kompromisse. Das Gegeneinander zwischen Partei und Fraktion muss aufhören. Die zentralen Aussagen der Partei zu den wichtigsten Themen vom Klimawandel bis zum Mindestlohn müssen klar sein. Gesellschaftlich ist es uninteressant, welche 5 unterschiedlichen Positionen eine 4,9%-Partei hat. Dazu gehört auch, Programmprozesse lange anzulegen und die Mitglieder einzubeziehen. Inhaltliche Beschlüsse und Programme müssen gelten, sonst kann man sich den riesigen Programmprozess sparen. Ein detailliertes Programm ersetzt allerdings nicht seine Bewerbung und Popularisierung. Alles Gerede vom sozialökologischen Umbau nützt nichts, wenn es nicht mal die eigenen Mitglieder verstehen. Politisches Framing, also ein politisches Erzählungs- und Deutungsmuster, ist unerlässlich und dazu braucht es eine kampagnenmäßige Kommunikation.

Zur Aufarbeitung der Niederlage gehört es, dass politische Handwerkzeug neu zu justieren. Wer Wahlkämpfe gewinnen will, muss sich langfristig vorbereiten – von der richtigen Auswahl der Agentur bis zum Großflächenanbieter, den Etats und der Lieferung der Plakate. Das Coronajahr und die beiden Bundesparteitage haben den Wahlkampf handwerklich extrem schwierig gemacht. Diese Prozesse müssen zukünftig länger angelegt werden.

Zu parlamentarischen Wahlen gehört meist auch die Teilnahme an Sondierungsgesprächen nach der Wahl. Die Vorbereitung von Sondierungen sind essentiell – unabhängig vom Parteiflügel. Eine der wichtigsten Lehren aus dem Syriza-Debakel 2015 war die Erkenntnis, dass eine mangelnde Vorbereitung der Sondierungen die Niederlage vertieft. Die abstrakte Debatte über das Für und Wider von Sondierungen ersetzt die konkrete Vorbereitung auf die Situation nach der Wahl nicht. Darauf weist nicht etwa das rot-rot-grüne Thinktank ISM hin, sondern die durchaus regierungsskeptischen Granden des US-Marxismus Leo Panitch und Sam Gindin (in ihrer Auswertung der linken Niederlagen der letzten Jahre).[iv] Dazu braucht es aber eine demokratische Debatte und klare Beschlüsse weit vor dem eigentlichen Wahlkampf. Statt sich ohne Kenntnisse und Vorbereitung auf ein Schlachtfeld zu begeben, braucht es klare Zielvorstellungen und eine klare Kenntnis des Terrains. Kennt man das Terrain, kann man immer noch beschließen das Schlachtfeld zu verlassen oder zu wechseln.

Im Wahlkampfjahr braucht es ein Mindestmaß an Einigkeit. Wer diese Parteidisziplin nicht aufweist, schadet der Partei. Diskussion und Streit sind für eine linke Partei Lebenselixier, Querschüsse während der zentralen Kampagne der Partei sind aber nichts weniger als Sabotage. Das kann sich keine Partei gefallen lassen. Das gilt für alle und jeden – egal von welchem Flügel, welcher Position oder Strömung. Dasselbe gilt für wichtige Abstimmungen. Eine Partei und ihre Fraktion sind kein anarchistisches Plenum mit Lizenz zum Halligalli. Führungspositionen und Mandate sind mit Prestige, hohen Gehältern und vielem mehr verbunden. Im Umkehrschluss können die Mitglieder einer Partei dafür ein Handeln zum Wohle ihrer Partei von allen ihren VertreterInnen erwarten. In Zeiten amerikanisierter Wahlkämpfe braucht es eine verstärkte Zuspitzung auf Personen und ihre Botschaften. Die SpitzenkandidatInnen sind die Sprachrohre der Partei und so müssen sie auch aufgestellt und dargestellt werden. Sind die KandidatInnen zu unbekannt, gilt das umso mehr.

Und zu guter Letzt: Ein Wahlkampf kann noch so gut geplant sein, wenn es keine legitimierten Entscheidungsstrukturen im Wahlkampf gibt, nützen alle Pläne nichts. Klare Verantwortungs- und Entscheidungsstrukturen sind das A und O. Die Vorbereitung der Europawahl 2024 und der Bundestagswahl 2025 beginnt jetzt. DIE LINKE sitzt für Jahre auf Bewährung im Bundestag und muss ihre Wahl durch gute Oppositionsarbeit rechtfertigen. Alle unangenehmen und kontroversen Klärungsprozesse im Vorlauf dieser nächsten großen Wahlen muss die Partei so früh wie möglich angehen um sich gut aufzustellen – politisch und handwerklich.

 

[i] Auf alle Gründe kann ich hier nicht eingehen. Ausführlicher habe ich es hier aufgeschrieben: Merkel 2.0 – Kampf um die Mitte « Zeitschrift LuXemburg (zeitschrift-luxemburg.de)

[ii] Dazu gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen und Daten u.a. von Tarik Abdou-Chabdi 2021, Biskamp 2020, Kahrs 2020, Kitschelt 2021

[iii] Rede Dietmar Bartsch im Bundestag 20 Jahre Krieg gegen den Terror sind gescheitert - YouTube

[iv] Panitch/Gindin mit Stephen Maher (2020)„The socialist challenge today. Syriza, Corbyn, Sanders.“