Wir müssen reden
Seit einer Woche führt Putin Krieg in Europa. Seit einer Woche wird die Ukraine überfallen, um sie als souveränes Land von der Landkarte zu tilgen. Seit einer Woche sterben Menschen, weil ein Autokrat es will. Seit einer Woche will eine imperialistische, revanchistische, revisionistische Macht den Status quo verändern. Seit einer Woche werden Grundfesten der Nachkriegsordnung zerstört.
Seit einer Woche geschieht, was viele für unvorstellbar gehalten hatten. Auch ich gehöre dazu. Manche erklären jetzt leichtfertig, »alle hätten sich geirrt«, doch das stimmt nicht. Es gab Stimmen, die Putins Ambitionen und den Charakter der russischen Regierung nicht unterschätzt haben. Die gewarnt haben, dass das Unvorstellbare geschehen werde. Die nicht nur auf die Nato geschaut haben. Es gab viele, die sich nicht damit begnügt haben, den repressive Autoritarismus Putins im Inneren zu geißeln.
Sie haben sich nicht geirrt, und umso deutlicher steht nun uns vor Augen, wie groß die eigenen Illusionen waren. Illusionen, die zu verheerenden Fehleinschätzungen auch linker Politik führten. Unser Ziel einer Welt des Friedens, der Demilitarisierung und Kooperation bleibt so richtig, wie wir der schrecklichen Realität eines Angriffskrieges mitten in Europa ins Auge sehen. Ein Krieg, von dem wir wissen, dass danach »nichts mehr so sein wird wie zuvor«. Ein Krieg, der uns politische Nachdenklichkeit und persönliche Selbstkritik abverlangt.
Seit einer Woche führt Putin Krieg in Europa und dieser gebiert täglich neue Fragen. Fragen, die an unser Eingemachtes gehen, die wir uns ernsthaft, besonnen und solidarisch stellen sollten. Fragen, die wir beantworten müssen, wenn wir als Linke eine Zukunft haben wollen. Fragen, die sich nicht mit den üblichen Vorwürfen wieder vom Tisch fegen lassen, hier wolle jemand aus niederen Gründen irgendwelche Kernpositionen schleifen. Man kann nicht an »Wahrheiten« festhalten, die von Panzern und Raketen zermalmt wurden.
Die große Leistung der Rote Armee, zusammen mit den Alliierten Deutschland und Europa vom Hitlerfaschismus befreit zu haben, wird von Putins Regime in den Dreck getreten. Das Gefühl deutsch-sowjetischer Freundschaft, dass in meiner Partei tief verwurzelt war, ist bei vielen blankem Entsetzen und tiefem Schock über die Skrupellosigkeit dieser militärischen Aggression gegen die Ukraine gewichen.
Die Fragen, die wir uns neu zu stellen haben, müssen wir in einer Zeit beantworten, in der auch andere ihre Schlussfolgerungen aus diesem Krieg ziehen. Die Ampel hat einen historischen Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet, der mit enormen Militärausgaben einhergeht. Selbstverständlich muss es erlaubt sein, innezuhalten, zu fragen: Ist das richtig, hilft das dem Frieden, verbessert das wirklich die Sicherheit?
Warum steht die Bundeswehr so schlecht da, wie behauptet wird, obwohl der Verteidigungshaushalt in den letzten Jahren stark angestiegen ist? Wer hat da profitiert? Welche Folgen hat dieser Paradigmenwechsel für die ohnehin große soziale Ungleichheit in diesem Land? Warum wurden bisher für andere grundstürzende Herausforderungen wie die Klimakrise nicht ebenso historische Paradigmenwechsel eingeleitet?
Diese Fragen an andere zu richten, entbindet uns aber in keiner Weise, andere Fragen an uns selbst zu stellen.
Seit Jahren wird der Aufstieg autoritärer Regime beklagt, die in ihrem Inneren gegen freie Wahlen, Meinungsfreiheit, Menschenrechte und linke Opposition zu Felde ziehen. Die jene Kräfte im Ausland hofieren, die wie die AfD gegen alles stehen, wofür die LINKE eintritt. Die eine Front gegen Demokratie und Aufklärung bilden, in welche sich schon bald wieder ein Rechtsradikaler wie Trump als Präsident der USA einreihen könnte. Was dann?
Man braucht hier nicht in den Chor jener einstimmen, die Freiheit, Gleichheit, unveräußerliche Menschenrechte, Demokratie und Kooperation zu »westlichen Werten« stilisieren, obwohl diese weder kulturell noch geografisch vereinnahmt werden sollten.
Man muss aber die Frage stellen, was das für die Politik der LINKEN bedeutet, wenn die Konfrontation zwischen Demokratie und rechtem Autoritarismus zum heißen Krieg wird. Es geht da nicht um kritikloses Einreihen, sondern um die Verteidigung von gesellschaftlichem Fortschritt, der für Linke so notwendig ist wie Sauerstoff zum Atmen.
Was die Gefährdungen der Demokratie im Inneren angeht, haben Linke nur selten ein Blatt vor den Mund genommen, vor allem nie einen Zweifel gelassen, dass gegen Rechtsradikale mehr getan werden muss, als Mahnungen auszusprechen. Aber wie schwer geht uns über die Lippen, von der »Wehrhaftigkeit der Demokratie« zu sprechen, wenn es um deren Schutz vor äußerer Bedrohung geht?
»Es ist nicht ganz einfach, den Friedenswunsch und den Verteidigungswillen in Einklang zu bringen. Und es ist absolut verständlich, dass sich nach vielen Generationen des Friedens die Menschen damit schwertun. Aber es ist notwendig«, hat die Historikerin Hedwig Richter dieser Tage geschrieben. Ich denke, auch für die LINKE.
In Zeiten, in denen sich große Mehrheiten der Bevölkerung große Sorgen machen, dass ein Krieg auch die Bundesrepublik erreicht, müssen wir unsere eigenen Vorstellungen von »Defensivpotenzialen« schärfen, wie sie in unserem Grundsatzprogramm heißen. Das bedeutet nicht, die Kritik an gefährlicher Aufrüstung einzustellen, es bedeutet aber wohl, der Lage angemessene konkrete Vorstellungen zu entwickeln.
Wir bestehen aus besten Gründen darauf, dass die Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte für uns nicht verhandelbar sind. Wir nennen uns sogar Partei des Völkerrechts. Aber wie setzen wir dessen Geltung durch, wenn sich große Mächte nicht darum scheren? Wie beantworten wir die Fragen, die uns alle im Angesicht des Angriffskrieges umtreiben, etwa nach wirksamen Sanktionen, welche Druck erzeugen, um Waffen schweigen zu lassen; aber auch die danach, was es denn politisch heißt, einem überfallen Land Selbstverteidigungsrecht zuzusprechen?
Es geht mir hier nicht ums unbedachte Überbordwerfen von irgendwas, sondern um Aktualisierungen linker Positionen vor dem Hintergrund eines tiefen Bruchs, um das Erreichen eines gemeinsamen Verständnis davon, wie das, was gerade passiert, sich in linken Positionen künftig widerspiegelt.
»Wir fordern die Auflösung der Nato und ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands«, heißt es in unserem Programm. Ein Russland unter Putin, das erleben gerade nicht nur die Menschen in der Ukraine, bedroht souveräne Staaten. Sagen wir weiterhin jenen, die ihre Sicherheit in der Nato suchen, dass deren Auflösung unser programmatisches Ziel ist? Was ist aktuell die Rolle der UNO und wie können die Vereinten Nationen wieder gestärkt werden? Wie kommen wir zu Diplomatie zurück, wenn Vertrauen in Gespräche und Verhandlungen zerstört wurde? Wie genau stellen wir uns nach diesem Krieg unser alternatives Sicherheitssystem vor und wie kommen wir dorthin?
Ich habe darauf noch keine Antwort, aber ich habe das starke Gefühl, dass wir uns solchen Fragen stellen müssen. Die Wirklichkeit stellt sie an uns und ich habe hier nur einige der für mich, zugegeben, schwierigsten genannt. Es dürfte sich auch über den unmittelbaren Eindruck hinaus erweisen, dass der Angriff auf die Ukraine einen tiefen Einschnitt in die Geschichte bedeutet - mit entsprechenden Konsequenzen. Diese werden das Energieregime, viele Europafragen, ganz wesentliche Aspekte der Verteilung und die demokratische Öffentlichkeit betreffen. Und noch viel mehr.
Wir haben nach der Bundestagswahl viel über die Gründe für unser miserables Abschneiden als Partei diskutiert. Obgleich die soziale Frage stets im Zentrum stand, hat das nicht gezogen - stellen, sprechen, beantworten wir sie noch richtig und vor allem so, dass es bei den Menschen in ihren vielfältigen Lebenswirklichkeiten ankommt? Warum haben wir trotz unzähliger Forderungskataloge für den Osten dort an Zustimmung verloren - sehen wir die Veränderungen dort hinreichend, haben sich Ungleichheiten nicht eher innerhalb des Ostens verstärkt, und was heißt das alles für unsere Politik?
Wir haben einen Prozess begonnen, in dem Fehleranalyse, inhaltliche Weiterentwicklung und Parteireform so ineinandergreifen sollen, dass die LINKE ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wieder gerecht werden kann: eine politische Kraft zu sein, die alles daran setzt, Verhältnisse zu erreichen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Wir werden diese Diskussionen weiterführen, aber die Zäsur des Krieges schreibt uns neue Themen auf die innerparteiliche Agenda - oder lässt schon bekannte Themen in einem neuen Licht erscheinen.
Seit längerem schon hat die LINKE von einem Epochenbruch gesprochen. Damit sollte das Neue aber auch die Herausforderung beschrieben werden, wie linke Ziele - Freiheit, Gleichheit, Kooperation - unter Bedingungen einer sich immer weiter zuspitzenden Klimakrise, also unter kapitalistisch gestörten Naturverhältnissen erreicht werden können. Unseren alternativen Ausweg haben wir als »sozial-ökologische Transformation« ausbuchstabiert. Vor dem Hintergrund des Krieges und seiner Konsequenzen werden sich Zeitregime, Gegenkräfte, Durchsetzungschancen und vieles andere verändern. Auch auf diesem so wichtigen Feld, werden wir nicht umhin kommen, unsere bisherigen Antworten noch einmal einer Prüfung zu unterziehen.
Aufgrund der Folgen eines Angriffskrieges, der vom fossilen Kapital finanziert wird, wächst die Dringlichkeit eines radikalen energie- und mobilitätspolitischen Umsteuerns. Das ist auch eine friedenspolitische Frage, denn abermals erweist sich, wie eng internationale Konflikte und fossile Märkte verbunden sind. Nur: Die Widerstände und Probleme, mit denen eine sozial-ökologische Transformation konfrontiert ist, werden nicht geringer. Die Menschen in den Regionen, die jetzt schon mitten drin im Strukturwandel sind, etwa die Kohlereviere, fallen abermals in Unsicherheit. Während wir unter Bedingungen, die bremsend wirken, eine Beschleunigung der gerechten und sozial ausgestalteten Transformation fordern, werden wir uns auch stärker als bisher der sozialen Adaption an die schon eintretenden Folgen der Klimakrise zuwenden müssen.
Seit einer Woche führt Putin Krieg in Europa und dieser gebiert täglich neue Fragen. Fragen, die an unseren politischen Selbstverständnissen als einzelne mit ihren unterschiedlichen Biografien rütteln. Fragen, die uns bedrücken, die jeder und jedem von uns ein Stück weit den Boden unter den Füßen weggezogen haben.
Ich habe geweint, als der Überfall auf die Ukraine begann, in tiefer Sorge um die Menschen dort und um meinen kleinen Sohn. Die Tränen, die wir uns alle zugestehen sollten, drücken auch Gefühle der Verunsicherung, Ratlosigkeit und Verzweiflung aus. Sind das gute Ratgeber in der Politik? Bessere jedenfalls, als in einer solchen Situation vermeintliche Gewissheiten nur umso lauter zu postulieren.
Lasst uns miteinander reden, nicht nur übereinander. Lasst uns gestatten, uns angesichts dieses Krieges auch einmal in den Arm zu nehmen, gerade und trotz unserer Differenzen in bestimmten Fragen. Lasst uns der Unmenschlichkeit des Krieges mit Menschlichkeit begegnen. Und lasst uns linke Antworten finden, die Fragen haben nicht nur wir selbst.