Es herrscht Krieg in der Ukraine
Über viele quälende Wochen hatte der russische Autokrat Wladimir Putin die Ukraine und die Welt in Geiselhaft genommen. Trotz aller widersprüchlichen Signale der Gesprächsbereitschaft marschierte er an der Grenze der Ukraine auf russischem und weißrussischem Gebiet auf, um dann am Dienstag dieser Woche für alle erkennbar zu machen: Putin will den seit 2014 geführten hybriden und versteckten Krieg zu einem offenen Angriffskrieg eskalieren.
In einer Rede zur Anerkennung der selbsternannten ostukrainischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk gewährte er einen unverstellten Einblick in sein Weltbild der Wiederherstellung vormaliger russischer Größe und seines Kampfes gegen westliche Werte und die westliche Demokratie, die er für schwach und dekadent hält.
Putins großrussischer Imperialismus
Wer sich die Mühe macht, diese Rede zu lesen, ist zwiegespalten zwischen dem Wunsch, kopfschüttelnd abzubrechen und dem Zwang bis zu Ende zu lesen, da es notwendig ist, zu verstehen, was den russischen Präsidenten antreibt und warum sich so viele in ihm irrten, die meinten, ihn zu verstehen.
Bereits seit langer Zeit beharrt Putin auf dem ideologischen Narrativ einer russischen Gemeinschaft, die auf der Kiewer Rus gründet und durch den russisch-orthodoxen Glauben geprägt wird. Er verneint eine historische ukrainische Eigenständigkeit und argumentiert in seiner Rede, dass die Schwäche Russlands nach dem Ersten Weltkrieg die Bolschewiki unter Wladimir Iljitsch Lenin gezwungen habe, um das Überleben der jungen Sowjetmacht zu gewährleisten, den jahrhundertelang unterdrückten Völkern im vormaligen zaristischen Russland nationale Souveränität zugestehen zu müssen.
In seinem großrussischen imperialen Verständnis kann die Akzeptanz und Förderung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, für die Bolschewiki ihrer Zeit die Voraussetzung für die freie Assoziation sozialistischer Republiken, nur ein Ausdruck von Schwäche sein.
Dass dieses Selbstbestimmungsrecht, insbesondere unter Joseph Stalin, mit Füßen getreten wurde und im Hitler-Stalin-Pakt 1939 Polen verraten, okkupiert und aufgeteilt wurde, findet bei Präsident Putin kein kritisches Wort. Er wirft Stalin nur eins vor: das in der sowjetischen Verfassung niedergelegte Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht getilgt zu haben.
Denn dieser vermeintliche Fehler habe in einer Phase der erneuten Schwäche, in den 1980er und zu Beginn der 1990er-Jahre dazu geführt, dass Sowjetrepubliken, darunter die Ukraine, ihre Unabhängigkeit erklärten.
Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu führen. In den vergangenen Tagen und Wochen wurde in der deutschen Debatte vielfach die Auffassung vertreten, dass die militärische Bedrohung der Ukraine seine Ursache in einer westlichen Bedrohung Russlands habe.
Der Westen und insbesondere die NATO habe, so die Logik dieser Argumentation, Russland so oft und lange gedemütigt, dass Russland nun zwar inakzeptable aber letztlich vom Westen selbst provozierte Maßnahmen ergreife.
Halten wir deshalb fest: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dient allein dem Ziel, eine Korrektur der geschichtlichen Ereignisse der Jahre 1990 bis 1992 vorzunehmen. Die Ukraine sieht der russische Präsident nicht nur als Einflusssphäre, sondern er will die Ukraine heimholen ins russische Reich.
Dabei will Putin, wie Jens-Christian Wagner, der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald-Mittelbau Dora betont, zwar die Entwicklung der frühen 1990er rückgängig machen. Aber sein Antrieb ist (trotz KGB-Vergangenheit) offenbar nicht etwa Sowjetnostalgie, sondern er steckt ideologisch tief im nationalistischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts.
Auf der Basis dieser Erkenntnis wächst ein Verständnis für die Sorgen und Befürchtungen von Ländern wie den baltischen Staaten aber auch unserem polnischen Nachbarn vor der Unberechenbarkeit Russlands.
Einseitige Betrachtungen und linke Fehler
Aus meiner Sicht sind diese Feststellungen deshalb von so großer Bedeutung, weil ich berechtigte Kritik an westlichen Staaten und auch der NATO nicht negiere. Im Gegenteil. Die Vermeidung von Einseitigkeiten setzt voraus, das ganze Bild in den Blick zu nehmen.
Dies haben in den vergangenen Jahren Mitglieder meiner Partei, auch bedeutende Mandats- und Funktionsträger:innen nicht in ausreichender Weise getan. So konnte und sollte bei einigen von ihnen der Eindruck entstehen, sie oder sogar die Partei DIE LINKE in Gänze seien "Putin-Versteher". Dies trifft nicht zu. Ich halte diesen entstandenen Eindruck für ein schwerwiegendes Problem. In zweierlei Hinsicht:
- Der Kreml finanziert in ganz Europa rechtskonservative bis offen nationalistische, xenophobe Parteien, die all das bekämpfen, wofür DIE LINKE als sozialistische, weltoffene Bürgerrechtspartei steht. Die AfD und ihre Gesinnungsgenossen sind rechts. Wir sind links. Wir stehen auf der Seite der russischen Zivilgesellschaft. Institutionen wie Memorial, deren Arbeit verunglimpft, verunmöglicht und deren Aktivist:innen inhaftiert, vielfach auch misshandelt oder bedroht bzw ermordet werden. Unsere linke Solidarität kann und darf deshalb nicht der autokratischen Putin-Regierung gelten, sondern denjenigen, die heute den Mut hatten für den Frieden und gegen den Krieg zu demonstrieren und die deshalb Repressionen befürchten müssen.
- DIE LINKE ist eine Friedenspartei. Sie steht historisch in der Tradition derjenigen Sozialist:innen in Europa und weltweit, die vor über 100 Jahren gegen die kriegerischen Verheerungen und nationalistischen Verirrungen auftraten. In den sozialen Netzwerken, aber auch auf den spontanen Kundgebungen, die heute stattfanden, wurde denjenigen, die sich erkennbar als Mitglieder der LINKE zu erkennen gaben, der Vorwurf der Heuchelei gemacht. Kritisiert wurde, dass die Partei am Sonntag noch bei Anne Will den Eindruck erweckte, das Sprachrohr russischer Legendenbildung zu sein.
Die Waffen nieder! Humanitäre Hilfe jetzt.
Heute telefonierte ich mit einer früheren Kollegin, deren Familie und Freund:innen in der Ukraine leben. Sie erzählte mir von Menschen, die nun in Bunkern Schutz suchen, die Angst vor dem Tod haben, ihre weinenden Kinder im Arm halten, während Kampfflugzeuge über den Himmel rasen und Schüsse knallen.
Ich erinnere mich an meinen Freund und Genossen Robert, dessen Familie den Jugoslawien-Krieg erlebte und dessen Erzählungen ebenso wie diejenigen der Menschen, die ich während meiner Arbeit für die GTZ in Montenegro kennenlernte.
Diese Bilder, diese Menschen bewegen mich. Die rot-rot-grüne Thüringer Landesregierung hat heute in großer Einmütigkeit und Selbstverständlichkeit die ersten notwendigen Schritte unternommen, um für diejenigen Menschen, die vor der Aggression der russischen Panzer - in denen junge Männer sitzen, die auf Putins Befehl töten sollen und möglicherweise selbst getötet werden - fliehen oder vertrieben werden, ein sicheres Dach zu schaffen. Diese humanitäre Selbstverständlichkeit ist das Wenige, was wir in Thüringen derzeit tun können.
Jeder Krieg ist der Krieg aller, schreibt Anna Sauerbrey im Leitartikel der heute erschienen Ausgabe der ZEIT und formuliert die Erwartung, dass es den Demokratien gelingt, die Hegemonie des Militärischen zu brechen. Ihre letzten beiden Sätze umfassen meine Hoffnung: "Putin darf nicht gewinnen. Und er wird es nicht."
Der Artikel erschien zunächst auf der Website des Autors.