Der Anstieg nach der Talsohle
- DIe Linke / Tim Lüddemann
- CC BY 2.0
Ein Begriff wurde häufiger genutzt rund um den Parteitag in Halle: Die Talsohle. Die sei nun durchschritten. Das wiederum bedeutet, dass es nun wieder bergauf geht. Das mag sein, auch ein bisschen: Das soll sein. Um die Metapher weiter zu bemühen, heißt ein Anstieg dann doch auch: Das ist immer auch recht anstrengend. Es geht meist recht schnell bergab, aufwärts ist recht mühsam. Es gibt also – trotz der Vorbereitungen des bisherigen Parteivorstands – etwas zu tun.
Nach einer kurzen Einschätzung zur gegenwärtigen politischen Gesamtsituation, der Faschisierung und der daraus resultierenden Notwendigkeit einer starken Linken gehe ich auf die Punkte ein, die ich für einen Aufstieg als notwendig erachte. Die Partei muss sich auf Probleme fokussieren, die für den ärmeren Teil der Gesellschaft im Alltag spürbar sind, und sie muss ihre Haltung in bestimmten Fragen klarstellen und die Position mutig vertreten, die die Gesellschaft bewegen. Ihr politisches und moralisches Handeln soll sie nicht nur in der politischen Sphäre vollziehen, sondern im Alltag, in der Gesellschaft vorleben.
Zur gesellschaftlichen Situation[1]
Die gesellschaftliche Situation ist nicht gerade erbaulich. Im Gegenteil: Die Faschisierung der Gesellschaft nimmt beängstigende Züge, beinahe endgültige Züge an.[2] Es gibt eine beinahe einmütige Tendenz immer größerer Teile der Gesellschaft, gesellschaftlichen Hass zu (re-)produzieren, Ungleichheit offensiv zu befürworten, menschliches Leben als unterschiedlich wertvoll zu bewerten[3] und zugleich die Bereitschaft, für Militarisierung und Aufrüstung alles andere zurückzustellen. Dies beweisen die Europawahlen, aber auch die Wahlen in Frankreich, bei denen eine doppelte Volksfront gebildet werden musste, um den Durchmarsch von Le Pen zu verhindern – und die nun durch Macron aufgekündigt wurde.[4] Das zeigt, dass es zwar ein links-bürgerliches Bollwerk gibt, welches vorübergehend funktionieren kann, das Problem aber nicht langfristig löst und zu keiner Gegenerzählung imstande ist. Und wie auch immer die Wahlen in den USA ausgehen: Sie werden den weltweiten Kampf der Hegemonien vorantreiben, in dem eine linke hegemoniale Kraft bislang keine Rolle spielt.
In Deutschland wie in vielen anderen Ländern entstand die Faschisierung der Gesellschaft nicht am rechten Rand, sondern in der sogenannten Mitte. Von Springers jahrzehntelanger Hetze über Sarrazins Bestseller[5] hin zu Söders ‚Asyltourismus‘ oder nun die Entscheidung der Ampel, an die Taliban abzuschieben: Der Kern der Erzählung, Leben sei ungleich und damit ungleich zu behandeln, entstand nicht rechts. Die Normalisierung der Spaltung in Arm und Reich und des Sterbens im Mittelmeer, die krasse Militarisierung der Gesellschaft, all das bildet sich nicht am rechten Rand. Die Rechte allerdings nutzte diese Erzählungen und vertiefte sie. Aus diesen Erzählungen entstand eine hegemoniale Kraft, die wiederum in politisches Handeln umgesetzt wurde – durch die jetzige Regierung wie die Vorgängerregierungen. Ob bewusst in dem Glauben, dass dies irgendwelche Probleme löse, ob als vermeintlich Getriebene, um Stimmen nicht weiter nach rechts wandern zu lassen: Damit wird rechtes Denken in die Tat umgesetzt, gestärkt und mehr und mehr in der Gesellschaft verankert.
In den letzten Jahren ist erschwerend hinzugekommen: Rechte Kräfte sind auf rechte Erzählungen der Mitte immer weniger angewiesen. Durch ihre Stärkung, vor allem durch die Bildung eigener medialer Resonanzräume, können sie reaktionäres Gedankengut und ‚alternative Wahrheiten‘ selbstständig entwickeln, verbreiten und weitertreiben.[6]
Die Zukunft ist damit doppelt düster: Denn sollten demokratische Strukturen aufgegeben werden, ist eine Rückkehr zu diesen nahezu unmöglich. Das war es früher schon, mit den heutigen technischen Möglichkeiten in einem faschisierten Staat wäre dies noch schwieriger. Zwar braucht es in verfestigten liberalen Demokratien meist länger als eine Amtsperiode für Faschist*innen und Antidemokrat*innen, um den Staat gänzlich unter ihre Kontrolle zu bekommen. Aber wenn sich eine faschistische, antidemokratische Struktur durchgesetzt hat, wird eine Auflehnung aus dem faschisierten Staat heraus nahezu unmöglich. Wenn die Faschist*innen und Antidemokrat*innen mit den heutigen Möglichkeiten von Überwachung und ‚Sicherheit‘ die Kontrolle in der Hand haben, dann können wir dem kaum mehr begegnen.[7]
Auf dem Weg dahin zeigt sich der bürgerliche Antifaschismus als vorübergehende Geste, als Kraftakt, der die Entwicklung verzögern, aber nicht grundsätzlich aufhalten kann.[8] Denn die Parteien der Mitte, die über bürgerlichen Antifaschismus nicht hinausreichen, sind eben nicht nur Mitverursacher in der Diskursverschiebung nach rechts: Sie sind – zumindest in Deutschland – auch hilflos in der Aufgabe, die Verschiebung wieder zurückzudrehen. Dies gilt auch daher, weil innerhalb der Parteien der Rechtsruck vollzogen ist: In der SPD bedroht Pistorius Scholz von rechts – bis vor kurzem undenkbar, dass rechts neben Scholz in der SPD überhaupt noch Platz ist. Die Grünen besaßen in ihrer Parteijugend noch einen linken Widerpart, der sich spätestens seit Baerbock und Habeck des zurückliegenden Kippmoments ihrer Mutterpartei bewusst geworden war. Seit dem Weggang entscheidender Teile der Grünen Jugend haben Habecks Bauchschmerzen beim Regieren schlagartig aufgehört. Gemeinsam mit Özdemir ist das Bestreben Habecks offensichtlich, die Funktion des Rollenwandels der Grünen hin zu einem Scharnier zwischen SPD und Union zu vollenden, des die FDP endgültig ablösen soll.
Auch daher rennt die Mitte den Rechten gegenwärtig hinterher wie der Hase dem Igel. Sobald GEAS beschlossen ist, sobald Grenzzäune wieder errichtet werden, sagen die Rechten: ‚Ich bin schon da.‘ – und die Mitte rennt die nächste Runde. Das Wettrennen werden Grüne und SPD immer verlieren, da die Rechten mehr und mehr fordern werden – und fordern können, weil das Regierungshandeln nicht dazu führt, ein vermeintliches Ziel zu erreichen: Denn es werden weiterhin Menschen nach Deutschland fliehen, der aufgestockte Wehretat wird nicht zu mehr Sicherheit führen. Die Linke weiß, dass diese Logik nicht funktioniert, einige bei Grünen und SPD wissen das auch, aber sie bekommen aus sich heraus das Ruder nicht mehr gedreht. Wie endgültig rechte Erzählungen funktionieren, wird an den überforderten Kommunen deutlich: Die Kommunen haben zu wenig Geld, darin sind alle einer Meinung: Die klammen Kassen rühren aber an der vor allem vom Bund zu verantwortenden Unterfinanzierung und an der Verwendung kommunaler Mittel für Aufgaben, für die sie nicht zuständig sind – wie bei der Finanzierung der klammen kommunalen Kliniken. Aber es wird nahezu einhellig auf die Geflüchteten verwiesen, die weniger werden müssten. Alle treten nach unten, wenige richten den Blick nach oben.
Ein Teil des als progressiv geltenden Milieus hat sich auf das Kampffeld der Rechten begeben, sie haben die Rechten durch den Diskurs gestärkt, und sie spielen dort ein Spiel, das sie nur verlieren können. Da sie aber rechte Themen schon umgesetzt haben und dies sogar verteidigen, gleichzeitig das Geld für soziale Belange fehlt, fällt es ihnen immer schwerer, das Spielfeld zu wechseln. Da die 100 Milliarden, die für Rüstung eingebucht sind, fehlen, da die Schuldenbremse weiter wirkt, da die Milliardär*innen nicht angetastet werden, bleibt kein Spielraum, um glaubwürdig die soziale Frage zu stellen. Und damit dreht sich der Teufelskreis weiter – ganz aktuell bei der Diskussion um den jetzigen Haushalt: Es geht um Sparen bei Kindergrundsicherung und dem Bürgergeld, nicht um die Stärkung der Schulen, Kliniken und des Nahverkehrs.
Diese Erzählung brennt sich in die Gesellschaft ein: Große Teile der Gesellschaft die Hoffnung verloren, dass sie im politischen Feld gegen ‚die da oben‘ noch etwas ausrichten können, teilweise sogar schlimmer, dass die da oben immerhin ihr geringes Auskommen sichern, da es bei uns immer noch besser ist als anderswo, als bei ‚den Anderen‘, die deswegen zu uns kämen, um von diesem „immer noch besser“ zu profitieren. Zusätzlich schafft es die Rechte im häufig als Kulturkampf bezeichneten Feld zu suggerieren, dass es eine Bedrohung durch ‚die Anderen‘ gäbe, die der sowieso schon gebeutelten Mehrheitsgesellschaft noch etwas nehmen will. Die Gesellschaft spürt die Verteuerung, sie spürt, dass immer weniger funktioniert: Kein Termin beim Arzt, die Kliniken schließen, Verspätung der Bahn, keine Kita-Plätze, Pflegemangel, alles wird teurer. Sie ist mutlos, glaubt nicht mehr daran, dass es noch einmal besser wird. Aber während sich keiner mehr traut, die da oben anzutasten, fühlen sich die Menschen noch stark genug, sich dagegen zu wehren, dass ihnen noch etwas genommen werden kann. Die Angst vor dem Abstieg – damit schafft es die Rechte, zu punkten.
Wer ihnen noch etwas nehmen kann, das suggeriert die rechte Erzählung, das sind eben ‚die Anderen‘: Wahlweise Geflüchtete, aber durchaus auch ‚woke Gender-Aktivist*innen‘ und Klimaschützer*innen. Es sind nicht ausschließlich materielle Dinge, die ‚bedroht‘ sind: Tempolimit, Fleisch, die deutsche Sprache, der Diesel. Die Rechten haben die Erzählung soweit drehen können, dass sie die ‚Normalen‘ sind und ‚die Anderen‘ diejenigen, die ihnen die Sprache verbieten wollen, diejenigen, die aufgrund von Arbeitsverbot oder trotz Arbeit noch Geld vom Staat bekommen (müssen), um sich ernähren zu können – während ‚die da oben‘, die durch Erbschaft, durch Ausbeutung oder andere legale, aber nicht legitime Möglichkeiten der öffentlichen Hand Milliarden klauen, ohne etwas geleistet zu haben.
Das ist die Situation: Hier muss Die Linke ansetzen.
Zur linken Positionierung: Fokussierung und Haltung
Damit also zu uns. Die Linke hat trotz ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Faschisierung – natürlich mit der Zivilgesellschaft, in der Parteienlandschaft jedoch als einzig verlässliche Kraft.
Die Linke befindet sich trotz einer positiven Mitgliederentwicklung und einem Parteitag, in dem viele dazu beigetragen haben, dass dieser sein bestmögliches Ziel erfüllt, in einer schwierigen Lage. Immer wieder treten auch prominente langjährige Mitglieder aus. Das alles elf Monate bis zur Bundestagswahl – wenn die Ampel das noch durchhält –, bis sich vorerst entscheidet, ob wir noch einen relevanten Einfluss in die Gesellschaft haben. Da ich davon überzeugt bin, dass weder ein höh‘res Wesen, noch, wie eben dargestellt, andere Parteien es richten werden, liegt die Handlungsmacht – und die Notwendigkeit zum Handeln – bei uns. Die Gesellschaft ist auf eine linke Kraft angewiesen, um der Faschisierung zu entgegnen und – was unser Anspruch sein muss – sogar einen Umschwung zu ermöglichen.
Die inhaltliche und die strategische Debatte hat an Fahrt aufgenommen. Sie ist seriös in der Frage, wo wir Schärfung, vielleicht eine Weiterentwicklung, wo wir eine Fokussierung brauchen – oder klassischer: Wo Einheit, wo Klarheit. Sie wird schräger in einem Zurück auf eine Benennung verschiedener Milieus, für oder gegen die wir uns zu entscheiden haben. Sie wird schlicht falsch, wenn manche nun glauben, Wagenknechts inhaltliche Rechtsentwicklung mitzugehen.
Die Aufgabe wird darin bestehen, im Kulturkampf der Rechten Haltung zu zeigen, aber gleichzeitig auf Felder zu fokussieren, wo der Kampf für die Ärmeren jeden Tag spürbar ist. Wir müssen sowohl deutlich machen, dass wir in der heftigen Situation, im krassen Rechtsruck, diejenigen sind, die keine Menschenrechte aufgeben, die stabil bleiben, und gleichzeitig die sozialen Fragen adressieren und den Menschen wieder Hoffnung geben, dass sich ihre Lage verbessern kann. Oder mit ein wenig Pathos: Wenn die Hoffnung erwacht und der Wille der gemeinsamen Klasse deutlich wird, ist ein gutes Leben für alle so einfach wie nie. Nie war die Gesamtgesellschaft so reich, nie gaben die technischen Möglichkeiten es so leicht her, dass Menschen in Würde ein gutes Leben bis ins hohe Alter führen können. Dafür müssen wir kämpfen.
Wo liegt der Fokus?
Entscheidend wird sein, dass wir es schaffen, unsere Klasse mit den zu fokussierenden Themen zu einen – zumindest, soweit wir das mit unseren gegenwärtigen Kräften können. Wir dürfen das Spiel der Spaltung unserer Klasse nicht mitspielen und uns auf diejenigen fokussieren, die wir wieder erreichen können. Diese Rolle kann nicht mehr das sein, was die PDS in den 90ern war, auch nicht mehr das Gleiche, was uns im Gründungsmoment von Die Linke ausmachte. Es muss weiterentwickelt und in vielen Bereichen durchexerzierbar sein.
Für die Fokussierung braucht es wenige Themen, aber gleichzeitig braucht es mehr als ein Thema, selbst mehr als eine Themensammlung, um als Klassen- und Mitgliederpartei zu funktionieren: Mit den Themen muss vermittelt werden, was für eine Vision, was für ein größeres Ganzes mit einer Linken des 21. Jahrhunderts verbunden wird. Aus der gesamtgesellschaftlichen Beschreibung oben, dass wir der Faschisierung der Gesellschaft entgegenstehen müssen, dürfen wir dennoch nicht in der rein antifaschistischen Haltung verbleiben. Ich hielte das in letzter Instanz für bürgerlichen Antifaschismus, woran es insbesondere bei Grünen und SPD krankt: Wir müssen neben der antifaschistischen Haltung unsere Erzählung als eine Gegenerzählung der Hoffnung und des Muts entwickeln, dass sich etwas für unsere Klasse ändern, etwas für die Gesellschaft verbessern lässt. Sie muss bei konkreten Belangen ansetzen. Es wird der Gesellschaft dann, und nur dann besser gehen, wenn wir der Ungleichheit den Kampf ansagen, wenn eine Entlastung der Mehrheit der Gesellschaft auf Kosten der da oben, die Milliarden bunkern, erreicht wird. Wenn das Leben funktioniert und der Alltag ohne Hürden möglich ist. Wir kämpfen für ein gutes Leben für alle und wagen den Kampf gegen die da oben. Damit einen wir auch die unterschiedlichen Milieus: Denn hier stehen sie auf einer Seite. Der Kampf um einen wieder funktionierenden Alltag, eine gute Struktur, eine funktionierende Daseinsvorsorge: Die Ökonomie des Alltags funktioniert nicht mehr. Was im jetzigen Zeitgeist angepackt werden kann, ist der Streit für Entlastung der Gesellschaft – gegen die Anspannung und Angst, die von der Mitte, aber auch von Rechts über Profitzwang und Kommerz vorangetrieben wird. Wir kämpfen für ein gutes Leben für alle, eine funktionierende Daseinsvorsorge für die Gesellschaft, die für alle zugänglich ist, und gegen den perversen Luxus einer erlesenen, milliardenschweren exklusiven Gemeinschaft einiger weniger.[9]
Unsere Fokussierung muss auf einem Themenkomplex liegen, der Entlastung verspricht, der eine funktionierende Gesellschaft unter Gleichen ermöglicht. Insbesondere nach dem Vorbild der KPÖ[10] in Österreich wollen einige den Fokus auf ein Thema – das Wohnen – legen. So sehr ich als Städter damit sympathisiere, reicht das auf Landes- oder Bundesebene nicht aus, um als sozialistische Partei eine wählbare Profilierung zu erlangen – übrigens auch bei der KPÖ nicht. Es ist allerdings für Kreisverbände in urbanen Gebieten ein notwendiges Thema. Wenn wir also auf bestimmte Themen fokussieren, wird Mieten & Wohnen sicherlich dabei sein. Daneben sicher der Kampf um eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge: Gesundheitsversorgung, Nahverkehr, Bildung, Schulen und Kitaplätze, Kindergrundsicherung und eine höhere Rente. Im Bereich Arbeit kann es um eine kürzere Vollzeit, generell um eine Entlastung in der Arbeitswelt gehen.[11]
Für solche entlastenden Maßnahmen für die Mehrheit der Bevölkerung braucht es eine Umverteilung, Vermögensteuer und eine solidarische Gesundheitsversicherung. Wir fokussieren aber auf Themen, die die Mehrheit spürt, von denen sie direkt profitiert. Der letzte Parteitag hat das Spektrum zusammengefasst, aus dem sich nun die zentralen Themen auch in kampagnenartigen Befragungen weiter verdichten.
Warum eint das für uns wichtige Gruppen? Alle erfahren diese krasse Anspannung, die kaputte Deutsche Bahn, das zerstörte Gesundheitssystem, die in die Höhe schnellenden Mieten. Mit diesen Forderungen erreiche ich jedoch nicht nur Menschen, die direkt betroffen sind, sondern auch die, die eventuell selbst nicht betroffen sind, aber das tägliche Problem der Betroffenen sehen und sich mit ihnen solidarisieren.
Wo braucht es eine klärende Haltung?
Die Fokussierung darf jedoch nicht verwechselt werden mit einer Sozialdemokratisierung der Partei, die nur noch das Soziale ‚macht‘. Erstens müssen die fokussierenden Themen über ein Forderungs-Klein-Klein hinausweisen, den Betroffenen die Gemeinsamkeiten ihrer jeweiligen Probleme und Kämpfe aufzeigen, und außerdem dürfen Haltungsfragen nicht aufgegeben werden. Dies, was ich als Haltung bezeichnen möchte, steht nur nicht im Fokus der Profilierung, mit der wir an die Haustüren gehen, womit wir diejenigen gewinnen, die sich von der Politik insgesamt abgewandt haben, die sogenannten ‚Abgehängten‘.
Was bedeutet Haltung, und was ist inhaltlich zu debattieren? Themen, in denen es weitgehende Einigkeit gibt – Antifaschismus, Klimagerechtigkeit – sollten wir weiterhin im Blick haben, hier sollten wir klar Haltung beziehen, dort benötigen wir aber meines Wissens nach keine weiteren klärenden Debatten. Dort muss unser Umfeld wissen, dass wir stabil stehen. Wir müssen nur dort inhaltlich diskutieren, was wir bis 2025 als wahlentscheidende Themen antizipieren und wo wir bislang nicht mit einer Stimme sprechen. Wenn wir etwas nicht als wahlentscheidend begreifen, dann ist ein Korridor völlig ausreichend, den wir zumindest bis nach der Wahl nicht ausfechten müssen.[12]
Klärende Haltungen scheinen mir am ehesten bei den Fragen Migrationspolitik und Antimilitarismus nötig zu sein. Zwar glaube ich auch hier nicht, dass unsere bisherigen Positionen unrealistischer sind als die anderer Parteien.[13] Nicht zuletzt die ständigen Einwürfe aus der eigenen Partei haben jedoch dazu geführt, dass wir uns verständigen müssen.[14]
Zur Migration: Es ist schon rein taktisch absurd, hier ein Alleinstellungsmerkmal als menschen- und migrationsfreundliche Partei aufzugeben. Alle anderen Parteien haben den Rechtsruck vollzogen. Wir müssen das nicht auch noch tun. Außerdem, wie erwähnt: Wenn vermeintlich linke Parteien in Frage von Migration und Einwanderung die Position wechseln, laufen sie immer den rechten hinterher und bereiten ihnen das Feld. Aber diese werden immer unmoralischer, menschenfeindlicher auftreten, und deren vermeintliche Lösungsvorschläge sind niemals die Lösung. Denn erstens gibt es Kriege, es gibt Klimawandel, es gibt Armut: Also gibt es Migration und Flucht. Die Menschen kommen. Wenn wir das schleifen, wenn wir Mauern wollen, dann kommen die Menschen dennoch. Je größer die Hürden, desto mehr sterben, aber sie werden weiter kommen. Das kann und darf nicht die Lösung sein. Im Gegenteil: Wir bleiben die Partei der Menschlichkeit, wir kippen nicht.
Wir können es jedoch offensiv umdrehen: Wir bieten allen Menschen, die fliehen, Schutz – und wir helfen ihnen, an der Gesellschaft zu partizipieren. Wir bieten ihnen Aus- und Fortbildungen, schnellen Zugang zur Arbeit, erhöhen Sprachkurse und ‚investieren‘ damit in die die Zukunft von ihnen und uns allen. Denn neben der Frage der Menschlichkeit, die immer Vorrang haben sollte, braucht diese Gesellschaft Einwanderung. Der Mangel war noch nie so offensichtlich wie jetzt, in der die sogenannte Boomergeneration in Rente geht. Es fehlen Fachkräfte, es fehlen Arbeitskräfte: Wir brauchen Menschen nicht in anderen Ländern anzuwerben, sondern wir müssen die Menschen in Arbeit bringen, die hierher fliehen – und zwar unabhängig davon, warum sie fliehen.[15]
Etwas schwieriger gestaltet sich das Thema Krieg und Frieden, insbesondere in der Positionierung nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine[16]. Wir werden hier keine einfache Profilierung schaffen, denn die Positionen der anderen sind einfacher, billiger, zwar nicht richtiger, aber populistischer: Koalition und Union rufen nach mehr Waffen zur Konfliktlösung. BSW und AfD, die von der russischen Propaganda gestützt werden, stützen autokratische Muster, argumentieren Völkerrecht weg und reden einem Standortnationalismus den Mund. Das hat aber zur Folge, dass wir mit unserer differenzierteren Haltung als dritter Pol schlechter durchdringen.
Wir brauchen hier aber dennoch eine gemeinsame Positionierung, weil die Debatte an Fahrt gewinnt – und weil die Konfliktlagen zunehmen, eskalieren, nach linken Lösungen rufen. Das macht die Wahl von der Leyens und der Blick darauf deutlich, wer sie gewählt hat. Da von Grünen bis zur Union ein geeinter imperialistischer Blick auf Europa droht, AfD, aber auch BSW diese Strategie von rechts, nach autokratischem Muster kritisieren werden, wird den linken Kräften in Europa eine zentrale Rolle zukommen, ein friedliches Europa der Völker als Gegenbild zu Imperialismus und Militarisierung einerseits und Faschisierung andererseits darzustellen. Es muss ein Europa der Abrüstung und der friedlichen Konfliktlösung sein. Es darf kein Europa sein, was sich Autokrat*innen andient, sondern wirtschaftliche Zusammenarbeit unter gleichen fördert.
Kurz: Antizipieren wir, dass ein Thema bis 2025 an Virulenz gewinnt und haben wir dort eine weitgehend einmütige und zudem noch eine von anderen Parteien unterscheidbare Position: Dann legen wir darauf unseren Fokus und gehen damit raus. Wird es bis 2025 wichtig, ist sich jedoch Mitglied und Wähler*innenschaft nicht unbedingt einig, halte ich es für entscheidend, dass wir – im Gegensatz zu bisherigen Strategie – dort eine klare bzw. zu klärende Haltung durchexerzieren können und sie überall klar und mutig vertreten, wo wir gefragt werden.
Ich bin offen, wenn aus von mir als Haltungsfragen eingeordnete Themen als zu fokussierende eingeordnet werden sollten oder andersherum. Zwar befürworte ich eine Fokussierung rund um den Alltag der Menschen, der wieder zu funktionieren hat. Aber es wäre theoretisch möglich, auf Migration und Menschlichkeit fokussieren – oder zum Beispiel aus der Wehrpflichtdebatte ein Hauptthema für uns machen. Wenn wir davon ausgehen, hier stehen die für uns relevanten Schichten hinter uns, wenn dies sogar zur Erzählung passt, das Leben im Land leichter und wieder funktionabel zu machen, dann ist das eine mögliche Entscheidung: Dies entscheiden letztlich die Parteitage.
Zum Parteiaufbau: Weder reine Ostpartei, noch ausschließliche Weststrategie
Potenziale erkennen, Handlungsfähigkeit gewährleisten
Zentral für uns als linke Partei bleiben die Mitglieder und ihre Aktivitäten. Wir werden langfristig als Partei nur Erfolg haben, wenn unsere Mitgliederzahl sich vervielfacht. Die Gewinnung der Mitglieder unterscheidet sich etwas von der Gewinnung von Stimmen für die Wahl. Dabei braucht Die Linke keine Identitätspolitik nach Himmelsrichtungen. Wer zurück zur reinen Ostpartei will, hat die Zahlen der Bevölkerungsentwicklung ebenso verpasst wie die Wahlergebnisse des BSW. Außerdem wird vergessen, dass sich die guten Wahlergebnisse nicht (mehr nur) im Osten feststellen lassen, sondern vor allem in urbanen Regionen. Wer eine reine Weststrategie will, der verkennt, dass auch in meinen kühnsten Träumen die Revolution nicht aus meinem wunderschönen Rosenheimer Wahlkreis ausgehen wird.
Es ist weitaus banaler. Wir müssen dort unsere wenigen Ressourcen einsetzen, wo das meiste Potential zu heben ist, wo unsere Erzählung am besten funktioniert und wir am schnellsten Menschen erreichen, die sich vorstellen können, zu uns zu kommen und uns zu wählen. Da liegt das größte zu erreichende Potential in der Metropolregion Rhein-Ruhr in Nordrhein-Westfalen – insgesamt in den urbaneren Regionen.[17] Es wäre jedoch falsch, die Parole auszurufen: Alles in die Metropolen – nicht nur, weil das Potential auch dann nicht ausreicht. Es muss gleichzeitig eine Entscheidung geben, was flächendeckend gewährleistet werden muss, um als Mitgliederpartei zu funktionieren: Welche Grundstrukturen müssen geschaffen/erhalten werden? Hier ist entscheidend, dass jede Struktur eine Erreichbarkeit für Menschen gewährleistet, die sich für uns interessieren: Wir müssen flächendeckend ansprechbar sein – auch und gerade für jüngere Menschen auf dem Weg ihrer Politisierung, insbesondere für die politische Bildung und Aktivierung.
Darüber hinaus müssen wir Stück für Stück erarbeiten, wo am meisten Potential zu heben und daher eine (hauptamtliche) Unterstützung mobilisiert werden muss. Hierzu zählt vor allem Nordrhein-Westfalen, weil insbesondere dort enorm viele Menschen leben, die von unserer politischen Arbeit profitieren und weil insbesondere nach dem Abgang von BSW Aufbaupotential besteht – und weil die Kommunalwahlen 2025 dort ein langfristiges Fundament ermöglichen. Selbstverständlich leben auch in anderen Großstädten wie Berlin, Hamburg, Leipzig und Bremen enorm viele Menschen, die wir erreichen müssen. Hier funktionieren unsere Strukturen jedoch besser. Auch sind hier die Potentiale sicher nicht ausgereizt, aber auf einer Ebene, auf der zumindest die Bundesstruktur nicht viel zu Verbesserung beitragen kann.
Die Gewinnung neuer Mitglieder ist ein Baustein zur Gewinnung von Menschen, die sich bei der Wahl für uns entscheiden: Es ist aber nicht das gleiche. Das wird offensichtlich bei den von mir als Fokussierung und Haltung eingeordneten Themen. Gegenwärtig gewinnen wir Mitglieder aufgrund unserer Haltung: Stimmen werden wir aber aufgrund unserer Fokussierung gewinnen, teilweise sind viele gar nicht einverstanden mit allen Punkten, in denen wir Haltung bewahren sollten. Die Menschen, die wir als Mitglieder gewinnen, wollen ein umfassenderes Projekt unterstützen. Bei Wahlen erreichen wir Menschen, die wir bei ihren zentralen Interessen ansprechen müssen. Und diese Gruppen sind nicht immer an den gleichen Orten – sichtbar ist dies seit Jahren insbesondere in größeren Städten: Während die Mitglieder nicht ausschließlich in den ärmeren Gegenden der Städte wohnen, müssen wir bei Wahlen vor allem diese gewinnen. Und damit nicht nur bei Wahlen präsent sein – die vielfach als abgehängte Regionen oder soziale Brennpunkte bezeichnet werden.
In den nächsten Schritten wird es also darum gehen, erstens im ganzen Land eine Basisstruktur und Sichtbarkeit zu etablieren/zu halten, in der wir ansprechbar sind und eine Anbindung zu gewährleisten, in denen Menschen aktiv werden können, zweitens zu unterscheiden zwischen Strukturen, in denen der Bundesverband mit hauptamtlichen Einsatz unterstützen kann, und solchen, die vor Ort bereits in einem Zustand sind, in denen die Bundesebene nicht viel unterstützen kann.
Bündnisarbeit und Vernetzung
Neben dem Parteiaufbau an der Basis braucht es eine andere Art der Ansprache und Vernetzung nach außen, einer Vorfeldarbeit auf den anderen Ebenen, in den Ländern und im Bund. Wir werden uns nicht an den eigenen Haaren aus dem Schlamm ziehen können. Dafür braucht es Hilfe Dritter: Unterstützung von Personen aus Kultur und Wissenschaft, von Gewerkschafter*innen und Influencer*innen, von Jugendgruppen, Klimaaktivist*innen und aus dem Bereich der Geflüchtetenhilfe, die eine Partei links der sogenannten Sozialdemokratie für wichtig erachten. Es gibt sie, sie sind zahlreich. Sollte meine anfängliche Analyse auch nur ansatzweise aufgehen, werden sie sich sammeln müssen, um den gesellschaftlichen Konsequenzen zu begegnen, da sie in SPD und Grüne keine Heimat mehr finden. Dafür braucht es eine Anlaufstelle im Karl-Liebknecht-Haus, die die Vernetzungsarbeit angeht. An dessen Ende soll nicht mehr nur ein Wahlaufruf stehen, sondern eine Bewegung, Kandidat*innen, ganze neue Mitgliedsgruppen, deren politisch-parlamentarischer Arm Die Linke ist.
Und wir müssen die organisierende Vernetzung innerhalb der Partei weiterdenken. Was wir mit den Gesundheitsarbeiter*innen langsam begonnen haben, sollte nach und nach mit allen größeren Branchen passieren: die horizontale Vernetzung anhand von bestimmten Interessen weiter fortführen und hiernach die Arbeitsgemeinschaften funktionabel machen. Eine digital leicht machbare Vernetzung zu ähnlichen Interessen – nicht nur thematischer Natur, sondern eben in den Branchen, in denen man tätig ist. Dieser organisierende Ansatz muss weitergedacht werden. Wir müssen Projekte unterstützen, Schnittpunkte schaffen zwischen Mitgliedern und Menschen in den Nachbarschaften, neue Mitglieder in Projekte einbinden, die nicht die Kreisverbandssitzung sind, Mieten-Inis gründen zusätzlich zur Mietenberatung, ansetzend an der Erkenntnis, dass die ärmeren Menschen zwar von der Politik ‚da oben‘ nicht viel erwarten, aber konkrete Vorstellungen haben, was sich in ihrem Leben ändern soll. Wer erlebt, dass mit anderen zusammen was erreicht werden kann, ändert auch den Blick auf die Welt.
Linkes Handeln: Anders sein als die anderen – aber wie?
Die Idee, wie wir als Partei, als Menschen anders auftreten als die anderen Parteien, ist nicht marginal. Sie ist entscheidend in einer Zeit, in der ‚die Politik‘ als ganzes als unglaubwürdig erlebt wird. Wir treffen auf eine Gesellschaft, die zwischen vermeintlicher Individualität und geheuchelter Normalität schwankt. Diese beiden Erscheinungen sind zutiefst widersprüchlich und verlogen. Seit Jahrzehnten heuchelt das Mode-Marketing völlig individuelle Gleichmacherei einerseits: ‚Dieser Fetzen ist nur für dich gemacht, obwohl er von Kinderhand für Millionen Kund*innen gewerkelt wurde. Du bist dann ganz besonders, wenn du dich genauso kleidest, wie es Hunderttausende andere auch schon getan haben.‘ Andererseits streiten die Konservativen und reaktionären Kräfte von Union, BSW und AfD mehr und mehr für ‚Normalität‘ – und setzen sich für die ‚Normalen‘ ein. Dieser Eifer für das vermeintlich Normale geht von Menschen aus, die das Gegenteil dessen sind: Auf die Spitze getrieben sicherlich Donald Trump, ein korrupter Milliardär, der sich an keine moralischen Regeln hält. Dies ist durchaus übertragbar auf konservative Politikerkasten hier, die für das vermeintlich ‚Normale‘ eintreten: Millionär*innen wie Merz und Wagenknecht, die sich über moralische Normen hinwegsetzen und dafür gefeiert werden, die sich beim Hummer oder im Privatjet über die ‚Abgehobenheit‘ echauffieren, dass nun gegendert werden müsste und der Migrant den Normalen den Arzttermin wegnähme.
Aus dieser Widersprüchlichkeit müssen wir als Partei raus: Andersartigkeit zulassen und anerkennen, selbst jedoch mehr als Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Ich möchte es einfach als moralische Handlungsweise begreifen. Das tun, was wir fordern – zumindest soweit es möglich ist. Wie? Darüber diskutieren wir schon länger, eigentlich seit dem Punkt, an dem wir dem Status der Protestpartei entwachsen waren, wollen und sollen wir (wieder) anders sein als die anderen Politiker*innen, normal wie die Menschen, mit denen wir Verbesserungen erstreiten wollen. Aber wir sind uns nicht einig darin, wie wir anders, besser sein sollen. Kümmererpartei waren wir schon, heißt es. Sozialhilfe machen wir schon, heißt es. Unternehmensspenden und Großspenden nehmen wir schon jetzt nicht, heißt es. Unsere Mandatsträger*innen geben schon genug ab, heißt es.
Dies hilft nicht weiter: Selbstverständlich waren und sind wir anders: Aber wir waren das zu unpointiert, zu unkoordiniert – und insbesondere diejenigen, die nun zum BSW gegangen sind, verweigerten sich jeglicher Moral. Nach ihrem Weggang können wir das durchdeklinieren und damit in die Offensive gehen! Wir müssen deutlich machen, dass es uns nicht um das Erreichen von Mandaten geht, sondern wir schon mit dem Mandat die einbeziehen, die benachteiligt sind. Denn das unterscheidet uns von allen anderen Parteien.[18]
Mandatsträger*innenabgaben: Unsere ehemalige Parteivorsitzende Janine Wissler machte den Aufschlag, als sie bekannt machte, dass sie weitaus weniger verdiene als ein Facharbeiter.[19] Unsere jetzigen Parteivorsitzenden geben ein Teil ihres Gehalts weiter. Gegenwärtig geben Mandatsträger*innen, die über Die Linke in Bayern in den Bundestag eingezogen sind, ca. 25 % an Abgaben vom Brutto an die Partei oder an ein parteinahes Umfeld. In Absprache mit den von mir betreuten Kreisverbänden will ich weitere 10 % für direkte Hilfe bei der Sozialberatung zur Verfügung stellen. Schon davor lag der ungefähre Nettostundenlohn – die Stunden, die ich politisch arbeite – unter dem meiner Beschäftigten. Das muss nicht verpflichtend sein, aber es wäre ein großer Schritt, wenn wir deutlich machen, dass wir als Mandatsträgerinnen und Mandatsträger unsere Einkünfte in den Dienst der Sache stellen.[20]
Mandatszeitbegrenzung: Nicht alle Abgeordneten lassen sich von der Zeit im Parlament korrumpieren. Ich kenne viele in unserer Gruppe, die lange dabei sind und dennoch ihre Bodenhaftung nie verloren haben. Allerdings bedroht das parlamentarische System, die Vorzüge, die du als Abgeordnete*r genießt, und die Zugänge, die du als Mandatsträger*in hast, deinen Blick auf dich und die Gesellschaft – Das Sein bestimmt eben das Bewusstsein: Daher debattiert Die Linke über eine Mandatszeitbegrenzung schon seit Jahren. Eine harte Mandatszeitbegrenzung halte ich für falsch, aber wir müssen darüber nachdenken, wie das funktionieren kann: Niemand sollte sein Leben im Mandat verbringen.[21]
Parteispenden: Die Linke sollte weiterhin keine Unternehmensspenden annehmen und Großspenden von Einzelpersonen zurückweisen. Im engeren Sinne zweckgebunden dürfen Spenden sowieso nicht sein, aber Unternehmens- und Großspenden erfolgen ausschließlich aus Zweckgebundenheit. Ein Unternehmen spendet nur, wenn es sich davon langfristig Vorteile davon erhofft. Daher kann man an den Sponsorings der Parteitage jeweils ablesen, welche Politik die jeweiligen Parteien unterstützen werden.
Zum Umgang – zur Moral von der Geschicht‘: Moralisches Handeln spielt im politischen Diskurs nur in instrumenteller Weise eine Rolle. Auch wenn wir nicht frei von Fehlern sind und auch wenn vieles den Eindruck erweckt, dass in diesem System nur der besteht, der unmoralisch agiert, hoffe ich, dass wir innerhalb der Partei nach dem Abgang von Wagenknecht und Co. andere Handlungsweisen an den Tag legen. So korrumpierbar höhere Ebenen politischen Handelns sind und so sicher es ist, dass alle moralische Fehler gemacht haben und machen werden, halte ich das für unabdingbar. Nach der Abspaltung des BSW ist zumindest ein großer Teil derjenigen gegangen, denen ein moralischer Kompass völlig abgeht.[22] Nach dieser Abspaltung ist es einfacher möglich, für ein besseres Miteinander zu werben. Diese Partei wird nur bestehen, wenn wir das, was wir als Handlungen postulieren, weitestgehend versuchen, auch zu produzieren. Das fällt aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, die sich eben nicht an demokratischen Wegen orientiert, nicht leicht, meist ist sogar das Gegenteil der Fall. Man gewinnt an medialer Aufmerksamkeit, wenn man sich nicht an innerparteiliche Vertraulichkeit hält. Dies können wir nicht alles in Satzungen festhalten und werden auch in Zukunft den schwer ahnden können, wer ausschließlich zum persönlichen Vorteil agiert. So bleibt vor allem ein Appell, aber dabei hilft sicher, dass es sich finanziell weniger lohnen sollte, eine politische Karriere anzustreben.
Linke Vision: Für einen Blick weit über die Wahlen hinaus
Nach den drei Wahlen im nächsten Jahr, wo wir die gesamte Partei mobilisieren müssen, wird eine programmatische Debatte stehen. Die bisherige Planung geht darüber nicht hinaus. Das ist falsch. Wir müssen langfristig denken. Fünf Landtagswahlen und Kommunalwahlen in zwei weiteren Ländern folgen 2026. Der langfristige Strukturaufbau ist der Garant, langfristig in der Gesellschaft wirksam zu sein.
Es braucht aber auch einen utopischen Überschuss: Wo wollen wir 2029 sein? Oder weiter: Die Menschen, die jetzt geboren werden, erleben aller Voraussicht nach das 22. Jahrhundert. Für immer wichtiger scheint mir also nach 2025 die Entwicklung eines neuen Grundsatzprogramms, um als sozialistische Partei auf der Höhe der Zeit zu bleiben und zu bestehen. Da sollten sich insbesondere als links verstehenden Kräfte innerhalb der Partei, zu denen ich mich auch zähle, keine Scheu haben: Orthodoxes Denken und Berufen auf unveränderliche Schriften sollten wir den Religionen überlassen. Das heißt nicht, alles über Bord werfen zu müssen. Vieles aus unserem Programm bleibt gültig. Es geht auch um das Visionäre darüber hinaus, was uns als Partei im Hier und Jetzt neue Kraft gibt: Und es geht darum, die Partei in ihrer veränderten Gänze, mit einem Anteil von über 30 Prozent, die in den letzten drei Jahren zu uns gekommen sind, an dieser Partei teilhaben zu lassen.
Die Talsohle ist eventuell durchschritten, der Aufstieg bleibt aber anstrengend. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Partei wieder erfolgreich wird – dass sie es muss, um gegen die Faschisierung der Gesellschaft zu bestehen, davon bin ich überzeugt.
[1] Eine Kurzfassung dieses Kapitels findet sich in der Frankfurter Rundschau: https://www.fr.de/politik/die-linke-sahra-wagenknecht-afd-ampel-hoecke-cdu-spd-93290341.html
[2] Seit ich Klaus Webers Text Resonanzverhältnisse: Zur Faschisierung Deutschlands - Politisches Tagebuch 2018 lesen durfte, wurde mir die Relevanz des Begriffs deutlich. Faschismus nicht als einen festen Zustand, sondern als Prozess zu begreifen, half in der Analyse der Zustände ungemein.
[3] Der Kampf der Regierung um Fachkräftegewinnung aus allen Teilen der Welt einerseits und das Arbeitsverbot für Geflüchtete andererseits ist an Perfidität nicht zu überbieten. Das ist schlicht kein gleichwertiges Menschenbild.
[4] Zunächst erfolgte die schnelle und erfolgreiche Einigung mit allem, was irgendwie als links gilt, dann waren Absprachen mit denjenigen erfolgreich, die als neoliberal und marktradikal, aber eben nicht als reaktionär und faschistoid gelten können. Das war ein vorübergehender Erfolg, den nun Macron mit der Ernennung Barniers als Premierminister aufkündigte. Einmal mehr brach die marktradikale ‚Mitte‘ das Bündnis gegen Rechts.
[5] Mit Wagenknechts Büchern kamen Stichwortgeberinnen auch aus dem vermeintlich linken Lager. Allerdings ist die Definition von Wagenknecht als links seit Jahren – spätestens seit ihrer Verteidigung von Ludwig Erhard – obsolet. Sie bekam vielmehr die Aufmerksamkeit von der bürgerlichen Mitte als eine vermeintlich linke Kronzeugin, die gegen linkes Denken auftritt, vergleichbar zu Palmer und eben Sarrazin.
[6] Das widerspricht nicht der Tatsache, dass es insbesondere in den letzten Jahren auch einige progressive Entwicklungen gegeben hat, beispielsweise im Bereich der Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Beziehung, Herabsetzung des Wahlalters etc. Es gab auch in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen immer wieder wirkliche Erfolge. Die große hegemoniale Erzählung ist jedoch nicht progressiv. Das lässt sich nicht nur an den Stimmungen, der Entwicklung der Umfragen, sondern auch im Rechtsruck der Parteien ablesen im Vergleich zu dem, was in Wahlversprechen und Koalitionsvereinbarungen versprochen wurde: Progressive Versprechen wurden höchstens abgeschwächt eingelöst, während reaktionäre Gesetze geschaffen wurden, die gar nicht Teil von Koalitionsvereinbarungen waren.
[7] Dass ein Sieg von David gegen Goliath immer unwahrscheinlicher wird, zeigen undemokratisch geführte Nationen in allen Teilen der Welt. Das bringt – neben der Frage, wohin man im Zweifel auswandern kann, um Widerstand zu organisieren –, den Gedanken in den Vordergrund, wie die Macht des staatlichen Leviathans begrenzt werden kann. Es darf weder eine Macht geben – demokratisch oder nicht –, die die Möglichkeiten besitzt, die Welt zu zerstören, noch eine, die die Gesellschaft im eigenen Land in Gänze kontrollieren kann. Das gilt für Russland und die USA ebenso wie für China und die europäischen Staaten.
[8] Hier lässt sich auch die Prüfung eines AFD-Verbotsantrags einordnen. Er ist richtig, ermöglicht aber nur eine vorübergehende Verschnaufpause.
[9] Horst Kahrs und andere nutzen den Begriff Gleichheit, dem ich auch einiges abgewinnen kann und der nahezu alles umfasst, was uns als Partei ausmacht. Und er kann dazu führen, dass andere sich an uns abarbeiten. Mich überzeugt an dem Begriff nicht, dass er trotz seiner alten linken Tradition bislang mit wenig Emotion verbunden ist. Vgl. Kahrs, Horst: Einige Thesen zur Erneuerung fortschrittlicher Politik in der Linken. 2024.
[10] In der parteiinternen Debatte werden Vorbilder in anderen europäischen Ländern gesucht, z.B. bei den skandinavischen Linken, in Frankreich, Belgien oder eben Österreich. Auch hier wird sich mit Übertragungsmöglichkeiten zu leicht gemacht.
[11] Übrigens nicht nur bei der Jugend. Der politische Gegner hat auch schon feststellen müssen, dass der Kampf um Entlastung über alle Altersgruppen hinweg von entscheidender Bedeutung ist, so im IW-Kurzbericht, vgl.: Hammermann, Andrea; Schäfer, Holger: Arbeitszeitwünsche von jungen Beschäftigten, 2024.
[12] Nach den Bundestagswahlen hat der Parteitag eine Programmdebatte beschlossen – mit der Entwicklung von Leitlinien bis 2027. Ich halte das nach knapp 15 Jahren für eine gute Idee. Denn eines kann irgendwann nicht mehr der Maßstab sein: Als Begründung reicht nicht mehr aus, dass das schon 2011 im Programm stand. Wir müssen zumindest wissen, warum wir das damals dort festgeschrieben haben und ob wir für eine bestimmte Position immer noch gute Argumente haben. Bis dahin reichen Korridore aus. Ich sehe gute Chancen, dass nach der Abspaltung diese Korridore auch eingehalten werden. Wo ein solcher Korridor übrigens ausreicht, und was auch der Parteitag jüngst beschlossen hat, war bei der Debatte Grundeinkommen vs. Grundsicherung. Hier eine Entscheidung zu erzwingen, war unnötig.
[13] Die Maßstäbe an uns sind meist ungleich höher als an andere Parteien. Das gilt bei der Migrationspolitik, bei der Außenpolitik, das einfachste Beispiel ist die Haushaltspolitik – und zwar bei der Union: Diese fordern gegenwärtig in nahezu allen Ressorts eine Erhöhung der Ausgaben, wollen aber bislang weder die Schuldenbremse abschaffen noch eine Vermögensteuer einführen. Dass diese Partei, die völlig frei ist von wirtschafts- und sozialpolitischer Kenntnis, gegenwärtig am meisten Zustimmung erfährt und in dem Bereich sogar als kompetent wahrgenommen wird, ist schon traurig.
[14] An dieser Stelle sehr deutlich: Die Partei wäre nicht mehr meine Partei, wenn sie sich in der Migrationsfrage in Richtung Wagenknecht und in der Frage von Antimilitarismus und Krieg in Richtung Hofreiter bewegen würde. Aber selbst wenn wir Beschlüsse gefasst haben, können wir uns einer Debatte nicht erwehren, wenn sie immer wieder von prominenten Mitgliedern der Partei selbst aufgemacht wird.
[15] Die Linke muss immer aufpassen, dass dies nicht in Nützlichkeitsrassismus umschwenkt. Daher gilt für uns die Frage nach Asyl als Menschenrecht immer und überall. Gleichzeitig wehren wir uns gegen reaktionäres UND wirtschaftsfeindliches Arbeitsverbot: Alle dürfen, ja sollen eine Ausbildung erhalten, um an der Gesellschaft partizipieren zu können. Dafür müssen auch die Gewerkschaften gestärkt werden, damit die Beschäftigten nicht einmal mehr gegeneinander ausgespielt werden.
[16] Insbesondere innerparteilich ist auch die Positionierung im Nahen Osten schwierig, wie die jüngsten Austritte zeigen: Aber hier halte ich die Positionierung des Bundesparteitages für gut und richtig. Das ist ein Korridor, den wir als Partei gehen können.
[17] Hier lasse ich bewusst die Fokussierung auf direkt zu gewinnende Wahlkreise unberücksichtigt. Dort gibt es eigene Analysen.
[18] Die Freien Wähler haben so lange damit geworben, keine Unternehmensspenden anzunehmen, bis sie in Bayern regierten. Dann erhielten sie 110000 Euro von der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie. Noch spannender ist das BSW. Darin vereinigen sich diejenigen Mandatsträger*innen in der ehemaligen Linken, die für ihre Auslandsreisen und ihren Kampf gegen satzungsgemäße Mandatsträgerabgaben bekannt waren.
[19] Buchsteiner, Rasmus: Weshalb Janine Wissler netto so viel hat wie ein Durchschnittsverdiener. 2024. Link
[20] Es ist schwer, dies für alle Mandatsträger*innen verpflichtend darzustellen, da sich auch hier die Bedingungen bei allen unterscheiden. Wenn dies zu einer guten Regelung kommt, was ich sehr begrüßen würde, sollten die Fraktionsvereine eine Rolle spielen.
[21] Ich tendierte immer zu einer ‚weichen‘ Mandatszeitbegrenzung. Eine harte Mandatszeitbegrenzung halte ich daher für falsch, weil damit der Apparat – also die Beschäftigten in der Fraktion – über Hoheitswissen verfügen. Sie sind dann am längsten im Parlament tätig. Eine weiche Begrenzung könnte beispielsweise so funktionieren, dass die Mandatsträgerabgaben von Jahr zur Jahr steigen. Spätestens ab der vierten Mandatszeit sollte es sich finanziell nicht mehr rentieren, im Parlament zu sein. Dann muss man sich für eine*n ganz besondere*n Abgeordnete*n halten, wenn man das dennoch macht.
[22] Die instrumentelle Haltung zur Politik ist beim BSW offensichtlicher als bei vielen anderen Parteien. Mit welcher Geschwindigkeit jeder moralische Kompass weit über Bord geworfen wurde, das könnte Bücher füllen. Es mag genügen, dass jetzige Mitglieder des BSW uns in vielen Fragen von links kritisiert haben, viele dieser Punkte aber nun selbst aufgegeben haben.