Wege aus der Krise

Der Partei Die Linke geht es nicht gut. Nach dem schlechten und deprimierenden Ausgang der EU-Wahlen und dem noch schlechteren Abschneiden bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist diese Diagnose vom Allgemeinzustand der immer noch zu den mitgliederstärksten linken Parteien in Europa zählenden Linken weitgehend unstrittig. In zahlreichen Beiträgen und Diskussionstreffen wird seitdem über Wege aus der umfassenden Krise gestritten. Die Leitungsgremien auf Bundes- und Landesebene befassen sich damit im Dauerbetrieb. Es ist eine Existenzkrise für ein die letzten zwei Jahrzehnte die „große Politik“ mitbestimmendes Parteiprojekt, mit dem aber auch zahlreiche persönliche, berufliche und institutionelle Existenzen verbunden sind.

Ein vollständiges Verschwinden der Linken wird aufgrund dieses materiellen Gewichts in jedem Fall ein zäher und länger andauernder Prozess, in dem immer wieder auch kleinere neue Ansätze linker Aktivität entspringen können. Aber die Zukunft als gemeinsames, politisch Hoffnung spendendes und charismatisches linkes Projekt, das sowohl bei Wahlen als auch in der gesellschaftlichen politischen Praxis einflussreich ist, ist hochgradig gefährdet.

Am Sonntag, 18. August, haben die derzeitigen Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan erklärt, nicht erneut für den Parteivorsitz zu kandidieren. In ihren Erklärungen gehen sie leider wenig auf die Ursachen der existenzbedrohenden Krise der Partei ein, sondern meinen, vieles richtig gemacht zu haben.  Ihre Entscheidung ist richtig, aber es ist damit nicht die „Parteiführung“ abgetreten, wie von vielen Seiten gefordert. Die Partei wird viel stärker von Personen im Apparat und vor allen in den Fraktionen geführt, die gar nicht oder nicht ausreichend in der Mitgliedschaft legitimiert sind. Der Wechsel in der Führung der Partei muss tiefer gehen und nicht nur einzelne Köpfe auswechseln.

Die AKL hat in den letzten Jahren beständig die Probleme der Linken analysiert und Vorschläge für alternative Entwicklungswege gemacht. Wir sind leider in der Minderheit geblieben. Die Analysen der AKL wurden dabei trotzdem immer wieder – oft zu spät, nachträglich und oft halbgar – von anderen aufgegriffen. Unsere zentralen Kritikpunkte waren:

  • Die Linken macht zu sehr (parlamentarisch und auch außerhalb) Stellvertreter:innenpolitik. Eine Politik „in der ersten Person“, die die realen 60 Tausend Mitglieder, deren gesellschaftliche Verankerung und deren politischen Interessen im Mittelpunkt sieht, findet zu wenig statt. Die Linke hat den Aufbau von Gegenmacht mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft aus den Augen verloren. Die Linke „kann nicht Krise“. Immer dort und immer dann, wo die kapitalistische Realität selbst die „Systemfrage“ stellt, verliert die Partei den Mut und fällt hinter die Forderungen sozialer Bewegungen und Proteste zurück, spielt in schlechter sozialdemokratischer Tradition den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus.
  • Die Linke sieht bisher nicht den Effekt der „Dialektik der partiellen Errungenschaften“. Es ist eben nicht der Misserfolg auf kommunaler oder parlamentarischer Ebene, der am Anfang der Krise steht, sondern eher ein erfolgreicher Aufbau von parlamentarischen Vertretungen, Parteibüros und politisch Hauptamtlichen. Aber diese Erfolge sind – wie so häufig zuvor bei linken und progressiven Parteien – in strukturkonservative Bremsfaktoren umgeschlagen, die einer weiteren Radikalisierung und Erfolgsgeschichte wegen persönlicher und Karriere bedingten Bedenken im Wege stehen. Personeller Stillstand und programmatische Faulheit geben sich dann die Hände und das erste Opfer ist die parteiinterne Demokratie.

In der kritischen Würdigung des Wahlprogramms zur EU-Wahl und der Bilanz der Partei nach diesen Wahlen haben wir unsere Kritik auf drei Komplexe zusammengefasst. Die Linke befindet sich in einer dreifachen Krise: Einer strukturellen Krise, einer strategischen Krise und einer programmatischen Krise. Schon jede einzelne dieser Krisen wiegt schwer, bleibt es bei allen drei, wird die Linke nicht überleben. Wir registrieren aber, dass bisher beim Parteivorstand und den hier Mitdiskutierenden höchstens immer nur zwei dieser Krisen in den Fokus geraten, oft nur eine.

Wir haben an dieser Analyse im Vorfeld eines Parteitages der Linken, der wichtige Entscheidungen fällen muss, nichts zurückzunehmen, sondern präsentieren hier unsere To-Do-Liste. Maßnahmen, die sofort machbar wären, die gerne einzeln abgearbeitet werden können, und an deren Ende ein hohes Maß an frischer Luft durch die Partei weht, ohne die es keine Zukunft geben wird.

Die strukturelle Krise

Zu viel Stellvertreter:innenpolitik, zu viel Gewicht auf parlamentarischer Arbeit im Verhältnis zur realen Verankerung in der Gesellschaft, zu viel Ämterhäufung, zu lange Amtszeiten ohne Befristungen, zu wenig Kontrolle der materiellen Privilegien, zu wenig Rotation, zu wenig Trennung von Amt und Mandat.

Wir schlagen vor:

  1. Befristung der parlamentarischen Amtszeiten auf maximal zwei Legislaturperioden beginnend auf EU, Bundes- und Länderebene, analog zu der in der Linke-Satzung geregelten acht Jahre Befristung für Parteiämter.
  2. Trennung von Parteiamt und parlamentarischen Mandaten; maximal 25 Prozent von Parteivorständen dürfen Abgeordnete, deren Mitarbeiter:innen oder hauptamtliche Parteifunktionär:innen sein.
  3. Insbesondere die beiden Parteivorsitzenden dürfen keine Parlamentarier in Bund, Land oder EU, sondern sollten hauptamtlich von der Partei bezahlt sein und nur für die Partei da.
  4. Größtmögliche Transparenz und Sicherung des maximalen Einflusses der Partei bei der Verwendung aller materiellen Zuwendungen und Privilegien durch die parlamentarische Arbeit. Aufbau von durch die Partei kontrollierte Solidaritätsfonds. Das persönliche Einkommen unserer Abgeordneten sollte nicht mehr als ein Durchschnittsfacharbeitereinkommen betragen.
  5. Verpflichtung zu politischer Basisarbeit im Kreisverband für alle Abgeordneten und Pflicht zu Rechenschaftsberichten.
  6. Aufbau eines Pools von Mitarbeiter:innen, aus denen so viel wie möglich zu verschiedenen Abgeordneten und Fachgebieten rotiert werden kann.
  7. Entwicklung einer basisnahen, egalitären parlamentarischen Arbeitsweise, der die von Parlamentsordnungen und anderen vorgesehenen Hierarchien bewusst durchbricht, keine Vorsitzenden- und sonstigen Dünkel.
  8. Größtmögliche Vermeidung von Ämterhäufung, breite Streuung der Verantwortlichkeiten und Transparenz über Inhalt und Grenzen der jeweiligen Aufgabe.
  9. Verlagerung des Schwerpunktes der Kreisverbände auf außerparlamentarische kommunale Verankerung. Mitarbeit in sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Verbänden. Aufbau von Parteistrukturen im Stadtteil und, wo möglich, in den Betrieben, in denen die Mitglieder arbeiten.

Die strategische Krise

Wer soll das alles wie und mit wem durchsetzen? Auf diese Frage hat die Linke immer weniger eine Antwort gefunden. Gleichwohl wurden ihre Programme immer detaillierter und umfangreicher. Sie verloren dadurch kaum etwas an Radikalität, aber die radikalen Teile wurden erschlagen von angeblich „realistischeren“ Unmengen an Kleinpunkten, so dass sich jede und jeder pragmatisch das aussuchen konnte, was gerade für das politische Umfeld passte. Unpolitischer Pragmatismus ist die Vorstufe zur Beliebigkeit und Prinzipienlosigkeit – die Linke hat diese Vorstufe schon fast hinter sich gelassen.

Als einzige „Strategie“hat die Linke das gemeinsame Regieren mit SPD und Grünen angeboten. Diese „Strategie“ blamiert sich auch heute noch jeden Tag durch die konkrete Politik dieser gewünschten Koalitionspartner und sie verärgert gleichermaßen all diejenigen, die bei der Gründung der Linken oder in den Jahren danach frustriert SPD und Grüne verlassen haben und in der Linken etwas Neues erhofften. Stattdessen wurde ihnen „R2G“, „SPD 2.0“ oder „Befreiung der SPD aus dem Gefängnis bei der CDU“ versprochen.

Eine Zeitlang, auch heute noch, wird als alternative Strategie mehr Bewegungsorientierung und „verbindende Klassenpolitik“ vorgeschlagen. Das ist im Grundsatz viel besser, aber es fehlt bis dato eine Präzisierung, was das denn konkret bedeutet. Gerade die „Reformer:innen“ und „Regierungssozialist:innen“ in der Linken haben diese Losung zumal gern auch als „klassenverbindende Politik“ missverstanden und auf Bündnisse mit bürgerlichen Kräften orientiert. Diese Verwechslung wurde in der Rechtsabspaltung BSW dann noch einmal getoppt und zur Parteilinie erklärt.

Wir schlagen vor:

  1. Die Linke erklärt sich als demokratische, sozialistische Mitgliederpartei, die anderes will, anders arbeitet und von anderen Menschen getragen wird als alle anderen Parteien.
  2. Es gibt für unsere Ziele und Tagesforderungen heute keine prädestinierten Bündnisparteien für Regierungskoalitionen. Wir stehen für die Sanierung des Kapitalismus auf Kosten der Mehrheit der Menschen und durch Unterordnung unter angebliche Sachzwänge nicht zur Verfügung.
  3. Wir kämpfen überall dort, wo wir leben und arbeiten, für veränderte politische Kräfteverhältnisse und um die Mehrheit.
  4. Es gibt keine parlamentarische Lösung für die großen Krisen der kapitalistischen Gesellschaft. Radikale Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse, mehr Macht für die Gesellschaft gegenüber den Privaten können nur von Unten erkämpft werden.
  5. Wir werden uns auf eine längere Periode von Minderheitsregierungen einstellen, in denen die Linke nur zu den Maßnahmen Ja sagt, die ihrem Programm und Zielen entsprechen. Keine Koalition und keine vertraglich abgesicherte „Duldung“ von Regierungen mit anderen Parteien.
  6. Keine Unterstützung von Parteien, die aufrüsten, den Krieg vorbereiten, Kriege durch Auslandseinsätze und Waffenlieferungen befördern, den Krieg gegen Geflüchtete betreiben und deutsch-nationale Sonderinteressen propagieren. Gegen jede Doppelmoral.
  7. Unser Ausgangspunkt ist und bleibt die Opposition zum Kapitalismus. Wir stärken alle Ansätze gesellschaftlicher Gegenmacht, Kämpfe um Wiederaneignung und Vergesellschaftung. Die Zeit der Bescheidenheit muss ein Ende haben, es ist Zeit für radikale, revolutionäre Brüche mit dem Kapitalismus.
  8. Aber wir spielen nicht Teilkämpfe gegeneinander aus. Die großen Fragen der Gegenwart – Soziale, weltweite Gerechtigkeit, soziale Rechte für alle, Verhinderung der Kriege, Stopp der Klimazerstörung, humanitäre Flüchtlingspolitik und umfassende, inklusive demokratischen Rechte für alle – gehören zusammen und es ist die vornehmste Aufgabe einer linken Partei, sie zusammenzuführen: Das ist die Grundessenz unseres Anti-Kapitalismus.

Die programmatische Krise

Die Welt hat sich seit Gründung der Linken verändert, aber nicht in Richtung „Unsere Einschätzung war falsch“, sondern in Richtung „Die Linke hat schneller recht bekommen als sie erwartet hat“. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, die Grundbedürfnisse der Menschen zu sichern. Hunger, Wassermangel, und Gefahren durch Massenkrankheiten nehmen wieder zu. Die Ungerechtigkeit und Unterdrückung wachsen, insbesondere gegenüber Mädchen und Frauen. Das Klima wird trotz aller internationaler Abkommen und Konferenzen schneller und stärker zerstört als bisher angenommen. Immer mehr Millionen von Menschen werden vertrieben und müssen fliehen. Und am schlimmsten: Der Krieg als die Politik fortsetzendes Mittel rückt von der Peripherie ins Zentrum und treibt die Großmächte in die nächste globale Auseinandersetzung.

All das verlangt nach klaren Alternativen zum Kapitalismus, der die Ursache für all diese Zustände ist. Ein ökologisch nachhaltiger Sozialismus oder Barbarei – das muss die Überschrift einer Aktualisierung des Programms der Linken sein. Klares Ergreifen von Partei, statt Rumeiern und Wegducken, Sagen, was ist – das ist auch heute die erste Aufgabe der Sozialist:innen

Wir schlagen vor:

  1. Wenn sich das kapitalistische System selbst in Frage stellt, dann geben wir die Systemantwort. Es geht nicht um „Demokratie versus Autokratie“, um „Vernunft versus Unvernunft“, um „Staatsversagen“ und all die Nebelbomben, die heute von den Regierungen und regierungstreuen Parteien abgeworfen werden. Es geht um Eigentums- und Machtverhältnisse, es geht um Klassenkämpfe.
  2. „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“. So ist es, und deshalb kann und muss die Linke die Kriege der Welt, von dem in der Ukraine, im Sudan, im Kongo, in Kaschmir, im Jemen bis zu dem in Gaza, als Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise erklären. Wer die Kriege stoppen will, muss die Macht des Kapitals brechen.
  3. Nicht der „Frieden“ beendet die Kriege, sondern eine zielgerichtete Antikriegspolitik und -bewegung. Unsere Mittel sind nicht mehr Waffen, sondern politische Aufklärung; Boykott und Streiks gegen die Rüstungsindustrie, Blockade von Kasernen und Raketenstützpunkten. Solidarität mit den Opfern der Kriege, Recht auf Desertion und internationale gemeinsame Anti-Kriegsdemonstrationen. Keine Diplomatie auf Kosten der Menschen.
  4. Wir sind für Waffenstillstand und einen Friedensvertrag Russlands mit der Ukraine und gegen den Stellvertreterkrieg der Nato, gegen Putin und gegen Selenskij. Wir lehnen das Kriegsbündnis NATO ab und sind gegen imperialistische Kriege. Wir sind gegen Krieg und Besatzung der israelischen Armee und Regierung in Gaza und im Westjordanland. Wir sind für das Recht der palästinensischen Bevölkerung, sich gegen die Besatzung und Unterdrückung mit allen erforderlichen Mitteln zu wehren. Wir lehnen terroristische und militärische Gewalt gegen zivile Ziele in allen Fällen ab.
  5. Wir beteiligen uns auch nicht an dem furchtbaren Krieg gegen die Flüchtlinge und an dem Abschotten von Deutschland und Europa, wir sind für die Auflösung der Frontex-Armee. Es gibt keine kapitalistische Lösung der Flüchtlingsfrage, deshalb organisieren wir den Widerstand gegen alle angeblichen „Lösungen“, die immer nur in Nationalismus und Rassismus enden. Geflüchtete sind nicht Objekte, nicht Krisenfaktor, sondern Menschen und Teil der internationalen Arbeiter:innenklasse, deren Interessen wir vertreten und deren Widerstand wir organisieren und unterstützen.
  6. Alle „neutralen“ Wissenschaftler:innen, die Klimagerechtigkeitsbewegung ohnehin, sprechen nur noch  von schnellen, radikalen, revolutionären Maßnahmen, um das Klima zu retten. Nur die Linke bleibt genügsam, weil sie nicht besonders auffallen will. Das muss sich ändern. Die Linke stellt sich an die Spitze einer revolutionären Umweltbewegung und sie bringt ihre gewerkschaftliche Verankerung ein, um die Bewegung zu stärken.
  7. Gleichzeitig muss es die Linke sein, die das politische, gesamtgesellschaftliche Mandat der Gewerkschaftsbewegung zum Thema macht und die ökologischen Forderungen, auch eine ökologische Tarifpolitik, in die Betriebe und die Gewerkschaften trägt.

Neue Parteikulture und -diskurse

Die drei Krisen der Linken werden nicht durch den lieben Gott oder eine Vorlage aus dem Parteivorstand behoben. Wir benötigen die breiteste Einbeziehung der Mitgliedschaft, kleine Neugründungsparteitage in jedem Ort. „Macht euch die Partei zu eigen“, das ist unsere Aufforderung an alle alten und neuen Mitglieder.

Wir schlagen vor:

  1. Schluss mit der Harmoniesucht und langweiligen Einheitssoße, Mut zu Widersprüchen und Entscheidungen mit Mehrheit und Minderheit zu den wichtigen Fragen. Stärkung der Minderheitenrechte nach Abstimmungen, aber Disziplin im Handeln nach Außen.
  2. Abstimmungen über Gesamttexte in der „generellen Linie“ statt Kleinkrieg um Halbsätze und Worte.
  3. Rückkehr zu einem größeren, repräsentativeren Parteivorstand.
  4. Stärkung des Bundesausschusses durch Wahl der Mitglieder in den Ländern und Zusammenschlüssen.
  5. Befreiung der Parteitage von allen nur für die Medien organisierten Spektakel, sondern Arbeitsparteitage von und für die Mitglieder.
  6. Aufbau der Linken in Deutschland als zukunftsfähiges Modell für andere europäische Staaten und ein entsprechender Neubeginn für die Europäische Linke.