Noch im Tod ausgegrenzt

Da auf dem Armenfriedhof der Insel Lesbos, speziell der Hauptstadt Mytilene, für die verstorbenen, ertrunkenen Flüchtlinge, die an den Strand gespült wurden, nicht mehr genügend Platz vorhanden war, wurde dort vor einigen Jahren ein separater Friedhof eingerichtet. Dieser Friedhof der geflüchteten Menschen soll in der Nähe des Ortes Kato Tritos sein.

Es ist das Jahr 2017 und ich reise in diesen Ort und frage zahlreiche Dorfbewohner*innen, wo denn dieser Friedhof wäre. Das wisse man nicht: „Einen solchen Friedhof gibt es hier nicht“, „davon weiß ich nichts“ waren die häufigsten Antworten. Ich suche verzweifelt weiter nach dieser Ruhestätte. Schließlich finde ich in einem Bistro des kleinen Städtchens einen Einwohner, der weiß, wo der Friedhof ist. Da er versteckt in einem Olivenhain angelegt sei, fährt er mit seinem Motorroller vor mir her, um mir den Ort zu zeigen. Der Friedhof sei allerdings abgesperrt und man dürfe nur mit einer besonderen Genehmigung dort hin.

Versteckt in einem freien Landstück, auf einem Acker, ohne Adresse und Hinweisschild, zwischen zahlreichen Olivenbäumen, sind die Grabhügel und vereinzelt marmorweiße Gedenktafeln tatsächlich zu sehen. Ich entschließe mich, mir durch ein Loch im Zaun Zutritt zu verschaffen.

Die letzte Ruhestätte der verstorbenen Menschen auf ihrer Flucht vor Gewalt und Tod ist ein lieblos gestalteter und abgelegener Ort. Ein kaputtes und verrostetes Fahrzeug bildet quasi den Eingang. Ich zähle 87 Grabhügel. Die meisten Gräber haben eine marmorweiße 20 mal 20 Zentimeter große Gedenktafel oder eine senkrecht positionierte Holzlatte. Auf etwa einem Drittel steht der Name der Verstorbenen, manchmal auch einer gesamten Familie. Dann gibt es zahlreiche Gedenktafeln mit der Inschrift: „Name unbekannt“. Und es gibt 9 neue Grabhügel, ohne Gedenktafel.

Der reguläre Friedhof des Ortes Kato Tritos liegt etwa 300 Meter entfernt. Auch jetzt sind diese verstorbenen, auf der Flucht gewesenen, Menschen noch ausgegrenzt, irgendwie weggesperrt, im Nirgendwo verscharrt. Ihre Grabstätte ist kein würdevoll und respektvoll hergerichteter Ort.

Sicherlich hat Griechenland andere Probleme und vielen Griech*innen geht es aufgrund der europäischen Austeritätspolitik im Jahre 2017 sehr schlecht. Dennoch kann man, ja muss man, einen solchen Ort anders gestalten. Er erinnert mich an einen obdachlosen rumänischen Patienten, den ich in Mainz behandelt habe, und der leider verstarb. Auch bei seiner Gedenkfeier war er selbst im Tod noch ausgegrenzt, da die Trauerfeier für die wenigen Anwesenden vor der Kapelle stattfinden musste, denn eine Feier innerhalb der Kapelle hätte Geld gekostet. Der unwürdige Umgang mit verstorbenen Menschen, die in Armut lebten, findet also auch bei uns in Deutschland statt. Mit viel Traurigkeit, Melancholie und Demut verlasse ich diesen Ort.

Ich fasse schließlich den Entschluss, alles Mögliche zu versuchen, um hier etwas in Richtung Würde und Respekt zu verändern. Im Jahr 2019 traf ich Fabiola Velasquez von der Organisation „Earth Medicine“, mit der unser Verein Armut und Gesundheit in Deutschland eine Kooperation eingegangen war, um die Versorgung von insbesondere körperbehinderten Menschen, die geflohen sind und in Lesbos in verschiedenen Lagern untergebracht wurden, zu verbessern. Wir intensivierten die Bemühungen, eine Genehmigung für eine würdevolle Gestaltung des Friedhofes von den griechischen Behörden zu erhalten. Alle Anstrengungen in den folgenden Monaten und Jahren sind jedoch erfolglos. Zwei Hauptargumente werden uns immer wieder vermittelt. Man wolle keinen Ort der „Wallfahrt“ schaffen, zu dem geflüchtete Menschen kommen würden, um die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen zu besuchen. Zweites Argument: Man möchte mit dieser anonymen, nicht öffentlichen Ruhestätte auch verhindern, dass Neonazis diesen Ort schänden.

Wir geben nicht auf und Fabiola unternimmt zusammen mit anderen Aktivist*innen weitere Anläufe. Insbesondere die juristische Hilfsorganisation Fenix auf Lesbos versucht immer wieder, auf die Behörden einzuwirken. Auch eine schwedische Organisation bemüht sich. Schließlich tritt das Wunder ein, auf das wir kaum noch hoffen konnten. Bei meinem Besuch im März 2022 zeigt mir Fabiola ein Genehmigungsschreiben der Friedhofsbehörde von Lesbos. Und am 24. März haben wir noch einen „Anhörungstermin“ bei der entsprechenden Stelle. Das Gespräch verläuft erfolgreich. Einige Bedingungen werden uns aber noch vermittelt:

  1. Es dürfen für die griechischen Behörden keine Unkosten entstehen.
  2. Es darf dort keine Moschee gebaut werden, denn nicht alle Verstorbenen seien Muslime und das würde ja die christlichen Verstorbenen quasi diskriminieren.
  3. Wir müssen einen neuen Zaun um das Grabfeld bauen.
  4. Wir müssen einen Plan unserer Aktivitäten erstellen.

Wir sichern zu, dass wir uns an die Auflagen halten werden. Damit haben wir endlich die Genehmigung, den Friedhof von verstorbenen geflüchteten Menschen würdevoll zu gestalten. Man braucht also in Europa eine Erlaubnis, Menschen würdevoll zu gedenken. Irgendwie unfassbar! Aber dennoch bin ich erleichtert, dies jetzt in Angriff nehmen zu dürfen!

Zu früh gefreut! Es dauert und dauert. Die Genehmigung wird wieder zurückgenommen, mit unklarer Begründung. Im Januar 2023 fliege ich wieder nach Lesbos, um mit Fabiola bei den zuständigen Behördenvertreter*innen um die Erlaubnis einer menschenwürdigen Gestaltung des Friedhofes zu bitten. Das Gespräch ist ein sehr kurzes: Man sagt uns zu, dass wir uns bald um den Friedhof kümmern dürfen. Und doch dauert es wieder Monate, bis wir Ende Juni 2023 von Fabiola die Nachricht erhalten, jetzt wäre endlich die offizielle Genehmigung erteilt worden und wir könnten starten.

Es werden aber auch zusätzliche administrative Hürden genannt. Das gesamte Grabfeld müsste vermessen, jedes Grab dokumentiert und ebenfalls ausgemessen werden, erst dann dürften wir mit unseren Arbeiten beginnen.

Im Oktober 2023 kommt jetzt erneut von Fabiola die Nachricht, dass wir anfangen könnten. Am 9.10.2023 fliege ich nach Lesbos. Am 12.10.2023 beginnen wir damit, die Gräber zu identifizieren und das wuchernde Gras, Disteln, Blumen und Abfall zu entfernen, damit vier Tage später mit der Fotodokumentation und Ausmessung begonnen werden kann. Es ist für mich ein hochemotionaler Moment, gemeinsam mit vier aus Afghanistan geflüchteten Männern mit den Arbeiten zu beginnen. Ich empfinde Scham und Demut, Solidarität und auch Freude, dies nun endlich realisieren zu dürfen.

Wir nennen diese Arbeit, die wir als respektvollen und würdevollen Akt und als eine selbstverständliche, verantwortliche Maßnahme als Mitmenschen und als Europäer*innen auffassen, „Memorial to Humanity“. Wir haben ein entsprechendes Banner in Mainz herstellen lassen, das wir in den nächsten Tagen dort aufgestellt haben. Unter dieser Überschrift steht in Englisch, Griechisch, Arabisch, Farsi und Deutsch: „Mahnmal für die Menschlichkeit – Begräbnisstätte für Geflüchtete / An diesem Ort sind Menschen begraben, die auf der Flucht ihr Leben verloren haben. Mögen sie in Frieden ruhen.“

Wir arbeiten bei glühender Hitze, das ist uns allen aber egal – die Erkenntnis „Wir sind dies den Verstorbenen schuldig!“ liegt unausgesprochen in der Luft. Immer mehr Gräber treten beim Entfernen des wild wuchernden Grases und vieler Disteln hervor. Zahlreiche Gräber, deren Standort ich aus der Vergangenheit noch kenne, sind aber mittlerweile verschwunden. Entweder sind sie eingefallen oder die Beerdigung anderer Verstorbener und die Arbeiten für deren Beisetzung hat die Gräber zusammengedrückt. Ich kann 177 Gräber identifizieren, es sind sehr wahrscheinlich aber noch mehr. Beim Wiedererkennen und wieder Sichtbarmachen zahlreicher weißer Steintafeln erscheint es so, als ob die Verstorbenen geflüchteten Menschen damit wieder ein Gesicht bekämen. Ihr Tod, ihr Sterben, wird plötzlich wieder sichtbar.

Ein Grab berührt mich immer wieder besonders. Ich hatte es vor eineinhalb Jahren kurz nach der Beisetzung dieses verstorbenen Menschen schon gesehen: Es ist das Grab eines Kleinkindes. Was tun gerade wir Europäer*innen diesen Menschen, diesen Kindern an, die aufgrund von Krieg, Umweltkatastrophen und existentiell bedrohlicher Armut fliehen müssen und viel zu oft aufgrund fehlender Hilfe, Ignoranz und Arroganz auf ihrem Fluchtweg sterben?

Es werden Sand, kleine Steine und Zement geliefert. Die Arbeiten werden durch das Team unter Leitung von Sohrab, einem aus Afghanistan geflüchteten jungen Mann, dessen Asylantrag mittlerweile anerkannt wurde und der in Griechenland eine Ausbildung zum LKW-Fahrer macht, durchgeführt. Jedes Grab soll mit einer dünnen Zementschicht, die den Grabhügel dann bedecken wird, umschlossen werden. Diese Maßnahme dient insbesondere dazu, dass kein Unkraut, keine Gräser und Disteln dort wuchern können. Denn eine regelmäßige Grabpflege wird es nach unserer Maßnahme nicht geben können. Keine ästhetisch schöne Lösung, aber eine sehr praktische, den Gegebenheiten vor Ort geschuldet.

Ich verlasse den Ort mit sehr viel Demut und Trauer im Herzen. Und zugleich mit der Hoffnung verbunden, dass dieses „Memorial to humanity“ den Angehörigen helfen wird, ihren Verstorbenen würdevoll gedenken zu können und bei allen anderen das Bewusstsein für die Ausgrenzung von geflüchteten Menschen – im Leben und im Tod – erhöhen wird.

Anfang Dezember 2023 mailt mir Sohrab Fotos und Videos zum Fortschreiten der Gestaltungsarbeiten zu. Beeindruckend, was sein Team, bestehend aus Menschen, die selbst geflüchtet sind und derzeit im Moria 2.0 Camp leben, dort schafft. Ein gutes und wichtiges Zeichen der Solidarität – religions-, kultur- und einwanderungsstatusübergreifend!

Am 17. April 2024 konnten wir endlich den neugestalteten Friedhof in einer bewegenden „Gedenkfeier“ einweihen. Mittlerweile zähle ich 199 Gräber.