Angekommen im Atom-LaLaLand
Ein Interview mit Mycle Schneider von Andrea Walter und Rıfat Yıldız
Mycle Schneider, Sie sind Herausgeber, Projektleiter und einer von 15 Autoren im Team des seit 17 Jahren jährlich erscheinenden World Nuclear Industry Status Report (WNSIR), in dem die Trends der internationalen Atomindustrie dargestellt werden. Der 2024er Bericht liegt bereits vor. Gibt es deutliche Trends in der globalen Atomindustrie?
Mycle Schneider: Es gibt eine ganze Reihe von Entwicklungen, die erstaunlich sind. Erstens hat sich der allgemeine Trend, wie wir ihn seit vielen Jahren beobachten, überhaupt nicht geändert. Während sich in der Rhetorik und bei politischen Entscheidungen in unterschiedlichen Ländern einiges tut, gibt es bei den Fakten keine Bewegung. In den letzten fünf Jahren gab es 39 Baustarts für neue AKWs (AKWs) weltweit. Von diesen ereigneten sich 26 in China. Die übrigen 13 hat die russische Atomindustrie zu Hause, in Ägypten, Indien und in der Türkei durchgeführt. Ansonsten hat sich im Rest der Welt nichts getan. Kein einziger Baustart. Wenn man kumuliert was in den zwei Jahrzehnten davor passierte, dann sind weltweit 104 AKWs vom und 102 ans Netz gegangen. 49 von diesen Betriebsaufnahmen waren in China. Netto sind damit außerhalb Chinas 51 Reaktoren mehr vom Netz gegangen, als neu hinzugekommen sind.
Schrumpft also die Atomindustrie?
Die Situation lässt sich so zusammenfassen: China baut zuhause. Russland vor allem im Ausland. Das war's.
Schaut man sich die Berichterstattung an oder hört politischen Debatten zu, entsteht aber der Eindruck, dass überall neue Projekte für Atomenergie entstehen.
Stimmt, viele haben den Eindruck, es werde überall gebaut. Das ist aber nicht der Fall. Es bleibt dagegen völlig unterbelichtet, dass weltweit die erneuerbaren Energien gigantisch zunehmen. Beispielsweise gingen in China 2022 zwei und 2023 ein AKW in Betrieb. Damit sind 2022 zwei Gigawatt und 2023 ein Gigawatt Atomkapazität dazugekommen. Gleichzeitig hat China aber allein 2023 über 200 GW Solarkapazität ans Netz gebracht.
Warum braucht die Volksrepublik dann noch AKWs?
Braucht sie nicht. China hat aber innerhalb 20 Jahren, mit sehr viel Aufwand die komplette Herstellungskette für AKWs geschaffen. Chinas Firmen können nicht nur alles bauen, sie können auch westliche Modelle in China herstellen, die nach amerikanischen Standards qualifiziert sind. Sie könnten damit diese Teile auch in die USA exportieren. Der industrielle Aufwand ist einfach gigantisch. Bis zum Unfall in Fukushima im März 2011 hat China AKWs seriell gebaut wie Brücken, Straßen und Fabriken, wie klassische Infrastrukturprojekte. Fukushima war auch für Beijing ein totaler Schock. Die chinesische Führung hat dann umgesteuert und die zweite Generation von Atomanlagen, die sie in Serie bauen wollte, komplett aufgegeben. Stattdessen wurden nur noch Reaktoren der dritten Generation gebaut, die als sicherer angesehen werden. Dazu haben sie eine ganze Generation gut Fachkräfte ausgebildet. Es gibt heute in China einfach auch eine Atomlobby. Und natürlich gibt es dort, wie in Frankreich, Russland und England die Verbindung zum Militär. China rüstet auch im militärischen Sektor auf und hat zudem Export-Interessen.
Die Exporterfolge Chinas in Sachen Anlagenbau scheinen aber nicht wirklich sichtbar.
China hat bisher nur an den Nachbarn Pakistan – wo es im zivilen und militärischen Atombereich zu Hause ist – AKWs exportiert. China versucht seit mehreren Jahren, ohne Erfolg, auch nach Südamerika und in afrikanische Länder zu exportieren. Der Grund des Misserfolges liegt vor allem darin, dass die US-Regierung beide chinesischen Schlüsselunternehmen [CGN und CNNC] geblacklistet hat. Das verschließt China das Tor zu vielen Ländern.
Bei der Weltklimakonferenz COP28 wurde zum Entsetzen vieler eine Erklärung unterschrieben, mit der sich die unterzeichnenden Länder verpflichten, “zusammenzuarbeiten, um das ehrgeizige globale Ziel einer Verdreifachung der Kernenergiekapazität von 2020 bis 2050 voranzutreiben”. Mit der Absicht, so das Klimaziel von 1,5 Grad einzuhalten. Was bedeutet das?
Das ist rein industriell gar nicht machbar. Diese Erklärung scheint eindeutig auf Drängen der US-Regierung, zusammen mit Frankreich und Großbritannien, zustande gekommen zu sein. Das Ziel war wohl, so viele Länder wie möglich unterschreiben zu lassen, also auch Staaten wie Ghana, Jamaika oder Moldawien, die nicht besonders für Atomprogramme bekannt sind. Bemerkenswert ist, dass die einzigen zwei Länder die heute Anlagen bauen, nämlich China und Russland, nicht unterzeichnet haben. Also muss man sich zumindest fragen, ob das Verdreifachungsversprechen nicht eher eine geopolitische, antichinesische und antirussische Initiative ist, die mit Klimapolitik oder Technologiepolitik nichts zu tun hat.
Kommen wir nochmal auf den WNSIR2024 zurück. Du sprachst eingangs von mehreren nun sichtbaren Trends. Was ist noch auffallend?
Dass in den letzten zwei Jahren die überwiegende Anzahl von Gigawatt nicht mehr nur von Solar- oder Windenergie kommen, sondern dass es sich neuerdings um Hybridkraftwerke handelt. Das sind neue Konzepte bei denen, zum Beispiel, eine Solaranlage kombiniert wird mit Speichern. Das erste Mal ist uns das vor zwei Jahren in Portugal aufgefallen, wo ein Unternehmen Solarstrom zu negativen Preisen verkauft hat. Es bot an, für jede produzierte Megawattstunde etwas mehr als 4€ zu zahlen, weil es den Profit aus dem Verkauf von Windstrom und Speicherung erzielt. Die Anlage wurde von Anfang an als Hybridkraftwerk geplant. Neben der Windanlage installierte die Firma auf einem Stausee schwimmende Solarpanels, was wiederum zu einer Win-Win-Situation führt, da man so die Paneele kühlt, was den Wirkungsgrad steigert, und gleichzeitig die Wasserverdunstung des Stausees verringert.
Bedeutet das eine neue Stufe der Leistungsfähigkeit von erneuerbaren Energien, vor allem im Bereich der zuverlässigen Versorgung?
Im Bereich Speicherung sind die Kosten in den letzten Jahren noch schneller gesunken als die Kosten für Photovoltaik-Paneele. In einem Jahr sind die Batteriekosten um 20 % gefallen. Damit besteht die Möglichkeit zu wettbewerbsfähigen Preisen anzubieten. Der Hybridansatz von, zum Beispiel, Solar und Speicherung ist schon heute in vielen Regionen preislich voll konkurrenzfähig mit jeder anderen Form von Stromerzeugung. Die Internationale Energieagentur der OECD schätzt, dass die Kombi Solar und Speicher bis 2030 in allen großen Märkten konkurrenzlos preiswert sein wird.
Könnte man damit der Argumentation der Grund entziehen, dass Atomstrom billiger sei.
Das ist schon lange Unsinn. Vor allem ist damit aber das simplizistische Argument hinfällig, dass der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht immer scheint. Die neuen Hybrid-Kraftwerke sind so konzipiert, dass sie von der Netzsicherheit mindestens so gut und so zuverlässig sind wie ein Gaskraftwerk und allen technischen Kriterien der Netzstabilität genügen.
In Deutschland wird immer wieder die Angst geschürt, dass es einen Blackout geben, unsere Industrie ohne Strom dastehen könnte, weil wir aus der Atomkraft ausgestiegen sind. Wäre die neue Generation von Hybrid-Kraftwerken die Antwort?
Hier ist erstens die Behauptung schon mal faktisch falsch. Man muss sich bloß angucken, was die Bundesnetzagentur jedes Jahr zur Netzsicherheit in Deutschland veröffentlicht. Die Netzsicherheit ist heute in Deutschland trotz des Anteils von inzwischen weit über 50 Prozent an Erneuerbaren sehr hoch. In Deutschland ist die Netzausfallzeit pro Kunde wesentlich geringer als etwa in Frankreich. Wir haben in der Stromdebatte nicht nur in Deutschland zunehmend das Problem, dass Fakten nicht mehr zur Kenntnis genommen werden und Propaganda den Diskurs treibt. Insbesondere beim Thema Atomenergie. Das führt die Öffentlichkeit in die Irre. Es ist sinnfrei darüber zu streiten, was gut oder schlecht ist, wenn das Objekt der Debatte auf Fantasien beruht.
Insbesondere aus der CDU und der FDP sind Forderungen laut geworden, die abgestellten Atommeiler wieder hochzufahren und wieder auf Atomstrom zu setzen. Die AfD irrlichtert mit dem Thema besonders herum, weil es sonst keine Partei mehr im Programm hat. Ist eine Rückkehr technisch machbar?
(Lacht) Das ist so, als würde man sagen, dass das Ford Model A wieder auf die Straße gebracht werden soll. Diese Forderungen sind wirklich Unsinn. Diese Option besteht überhaupt nicht mehr. Schon weil es keine Betreiber mehr dafür gibt. Alle Unternehmen, die in Deutschland AKWs betrieben haben, haben eindeutig gesagt, dass sie dafür nicht mehr zur Verfügung stehen.
Wären denn die Betreiber, zum Beispiel RWE, nicht mit der Aussicht auf gute Profite zu ködern?
Die Vorstellung, man könnte einfach auf den Start-Knopf dieser Meiler drücken, ist einfach absurd. Das Ganze ist keine Frage von politischem Willen. Selbst mit ganz entschiedenem politischem Willen und allen denkbaren finanziellen Ressourcen hat Frankreich 17 Jahre gebraucht, ein einziges neues Atomkraftwerk zu bauen und in Betrieb zu nehmen. Denn es gibt keine Aussichten auf gute Profite, das wissen die Betreiber sehr genau. Außerdem haben sich die Unternehmen strategisch umgestellt, das Betriebspersonal ist überhaupt nicht mehr vorhanden. Es gibt auch keine Brennelemente mehr, die kann man ja nicht bei Amazon bestellen. Außerdem erlauben die ersten technischen Rückbaumaßnahmen es nicht, zeitnah wieder in den Betrieb zu gehen. Natürlich ließe sich theoretisch, wenn entstehende Kosten und die Wiederanlaufzeit völlig egal wären, ein Altkraftwerk erneut in Betrieb nehmen. Es gibt aber kein wirtschaftliches Argument dafür und schon gar kein klimapolitisches.
Vor allem die AfD propagiert Atomkraft und verteufelt die erneuerbaren Energien. Damit meint sie nicht einmal, die alten Meiler wieder hochzufahren. Sie versprechen den Bau vieler kleiner dezentraler Meiler, die sogenannten Small Modular Reactors, die SMRs. Ist das realistisch?
(Lacht) Ich sage immer das „M“ steht bei SMR für „miraculous“. Das sollen die wundersamen kleinen Reaktoren sein, die plötzlich alle Probleme der großen Reaktoren lösen. Das irrwitzige an dieser Propaganda ist, dass ja die Geschichte der Atomkraft mit kleinen Reaktoren angefangen hat. Sie wurden dann immer größer, und zwar nicht zufällig. Man versuchte mit dem Skaleneffekt möglichst viele Kilowatt in eine Anlage zu packen, um sie damit überhaupt wirtschaftlich rentabel zu machen. Wer jetzt von kleinen Reaktoren fantasiert, will die Geschichte zurückschrauben. Da geht der Skaleneffekt sofort flöten.
Laut Medienberichten sollen aber doch experimentelle SMR-Reaktoren in Rumänien und in Ruanda entstehen.
Es gibt sie nicht. Es baut niemand in Rumänien und niemand in Ruanda. Das ist Ankündigungspolitik. In der westlichen Welt gibt es heute nicht einmal ein zertifiziertes Design. Erst wenn man ein zertifiziertes Design hat, kann man einen Bauantrag stellen. Das Konzept, welches in Rumänien diskutiert wird, ist das NewScale-Design, das in der westlichen Welt am weitesten entwickelt ist. Damit wurde in den USA im Jahr 2000 begonnen. Die Kostenschätzungen wurden dann immer steiler, so dass der Designer das Modulkonzept immer größer machte. Klingt, wie schon mal gehört, oder? Da die US-Behörden es so nicht abnahmen, ging die Arbeit wieder von vorne los. Dieses Modell sollte an einen Gemeindeverband in den USA verkauft werden. Es hat sich aber herausgestellt, dass das Kilowatt wesentlich teurer würde als beim teuersten Europäischen Druckwasser-Reaktor, den man je gebaut hat. Im November 2023 ist der US-Gemeindeverband ausgestiegen und das Projekt wurde begraben. Das Design ist nirgendwo zertifiziert.
Kleine Reaktoren könnten ja eines Tages zertifiziert werden. Dann könnte man, wie China, in den seriellen und damit kostengünstigeren Bau gehen. Ist das denkbar?
Dann kommt als nächstes die Frage, wer denn bauen soll. In der Welt gibt es nur eine Handvoll Unternehmen, die überhaupt in den letzten Jahrzehnten gebaut haben, eben vor allem aus China und Russland. Die Schweden haben den Bau des letzten Atomkraftwerkes 1980 begonnen und 1985 in Betrieb genommen. Seitdem haben sie nie wieder was gebaut. In Frankreich gab es acht Jahre lang eine Baupause. 25 Jahre lang ist kein neues AKW in Betrieb gegangen. Man sieht dort, wie schwer es fällt, nach langen Unterbrechungen wieder zu bauen. Und dann kommt noch die Frage des Atommülls. Wissenschaftler haben in einem akademischen Papier vorgerechnet, dass SMRs noch mehr Müll produzieren würden. Viele kleine Anlagen kontaminieren mehr als eine große, nämlich pro Energieeinheit bis zu über 30mal mehr Volumen Abfallmenge als große Kraftwerke. Das macht das Ganze noch unattraktiver.
Wenn Atomenergie so unrentabel ist, was bringt denn AfD und Teile der CDU dazu, diese Forderungen aufzustellen?
Polarisierung kann nur funktionieren, wenn man sich extrem positioniert. Und diese extreme Positionierung macht dann den Unterschied aus zu anderen. Geopolitisch scheint das zunächst zu verfangen. Die Propagandisten können sagen, das machen doch jetzt alle anderen auch. Schweden will wieder einsteigen, die Niederlande, Tschechien auch. Ungarn will jetzt ein Rosatom Kraftwerk mitten in Europa bauen. Dieser falsche Eindruck auf Grund von Absichtserklärungen, es werde überall gebaut, den kann man ausnutzen. Für den globalen Trend ist es schlicht irrelevant, ob Ungarn ein neues AKW baut oder nicht. In der Zwischenzeit gehen hunderte Male mehr Kapazität in Solar, Wind und Speicherkapazität in Bau.
Es wird von interessierter Seite auch behauptet, es gäbe neue Technologien, die erlauben, den Atommüll einfach wieder zu verwerten. Stimmt das?
Das ist auch so ein Beispiel dafür, wie weit wir im atomaren La-La-Land gelandet sind. Selbst seriöse Zeitungen schreiben, es gäbe jetzt AKWs, die mit Atommüll laufen. Dahinter steckt die Idee der Schnellen Brüter – so alt wie die Atomkraftnutzung[1] – die letzten Endes gescheitert ist. Die schnellen Brüter sind gescheitert, weil das System gescheitert ist. Was wir in den Medien lesen, nämlich, die kleinen Reaktoren würden Atommüll fressen, ist völliger Humbug. Das physikalische Grundprinzip funktioniert. Wie bei der Fusion. Aber zu sagen, dass man damit intelligent, nachhaltig großtechnisch, dauerhaft Strom erzeugen kann, ist Quatsch. Man hat es mit Wiederaufarbeitungsanlagen in Karlsruhe und La Hague in der Normandie und Brütern in Kalkar und Creys-Malville versucht, aber das System ist u.a. deshalb gescheitert, weil Uran, das durch teures Plutonium ersetzt werden sollte, nie knapp oder besonders teuer geworden ist. Und es ist großer Unsinn zu behaupten, es gebe jetzt AKWs, die keinen Müll erzeugen oder ihn sogar fressen. Übrigens, ein Großteil des Mülls, den wir haben, wurde wieder aufgearbeitet oder anderweitig konditioniert. Das heißt, es gibt einen großen Anteil von Restmüll, über den kein Mensch mehr redet. Es wird nur über abgebrannte Brennelemente geredet. Aber ein großer Anteil des Mülls, der in Deutschland gelagert wird, ist nicht einmal theoretisch wiederverwertbar. Und diese kleinen AKWs, die vermeintlich den Müll fressen, würden zusätzlichen Müll produzieren, den man nicht wieder benutzen kann.
Kann es sein, dass viele Länder AKWs im Grunde genommen aus militärischen Gründen unbedingt haben wollen, aber das nicht öffentlich aussprechen können.
Wenn der Neubau von AKWs keinen klima- oder energiepolitischen Sinn ergibt, wirtschaftlich eine Katastrophe und industriell eine Riesenherausforderung ist, aber man es trotzdem macht, muss es andere Treiber geben. Es liegt nahe, dass für manche Länder die militärische Variante ein Treiber ist. Da gibt es keinen Zweifel. Ich warne nur davor, eine schnelle und allgemein gültige Erklärung zu suchen. Denn jedes Projekt ist in sich einzigartig.
Ist es denn einfach, zivile Atomanlagen zu militarisieren?
Die indische Bombe ist so entstanden. Dazu wird das AKW einfach anders gefahren. Man kann einen normalen Reaktor missbrauchen, um Plutonium für Waffenzwecke zu produzieren. Das wird nur sofort auffallen, weil dann der Reaktor nicht zur Optimierung für Stromerzeugung, sondern ganz anders gefahren wird. Der militärische Hintergrund ist sicher einer der Treiber für mehrere Länder, vor allem für die Atomwaffenländer. Es gibt heute eine klare Motivation für die Atomwaffenstaaten, die zivile Atomindustrie am Leben zu erhalten, weil sie sich ganz erheblich aus zivilen Budgets speist und die Querfinanzierung für die Militärs unabdingbar erscheint. Man muss sich mal vorstellen: wenn in einem Land mit Nuklearwaffen alle AKWs abgestellt werden, wer bezahlt dann die Ausbildung von Atomphysikern, von Atomingenieuren, von Technikern? Wer bezahlt die ganzen Forschungseinrichtungen? Wer bezahlt die Entwicklungseinrichtungen? In Frankreich oder England wird das alles über das zivile Budget und die Strompreise finanziert. Die Querfinanzierung ist eindeutig eine Motivation für die Weiterführung „ziviler“ Atomprogramme.
Wenn alle Fakten gegen Atomkraft sprechen, wie erklärst du es, dass diese Idee in der Bevölkerung verfängt?
Meine These ist, dass sehr viel Allgemeinwissen um die Atomkraft verloren gegangen ist. Es hat einen gesellschaftlichen Bruch in der Allgemeinbildung gegeben. Die jüngere Generation hat keine Vorstellung der verschiedenen Dimensionen der Atomenergienutzung mehr. Das heißt, wir fangen auch in der öffentlichen Debatte wieder bei Null an, weswegen es diesen Propagandisten leichtfällt, auch mit frei erfundenen, fantastischen Märchen Zuhörerschaft zu gewinnen. Klar, Atomkraft ist nicht das einzige Phänomen dieser Art. Entscheidungen in diesem Bereich haben aber besonders teure, einschneidende und langlebige Konsequenzen.
Um nochmal alle Fakten zu sammeln. Wo stehen wir? Was ist der Status quo in Deutschlands Energie-Mix?
Ein Vergleich des Vorausstiegsjahres 2010 mit 2023 lässt erkennen, dass nicht nur die Atomkrafterzeugung durch den Ausstieg weggefallen ist. Zeitgleich ist die Erzeugung von Strom mit Steinkohle, Braunkohle oder Gas rückläufig.[2] Es sind in diesen Bereichen insgesamt mehr Kilowattstunden eingespart worden, als Kilowattstunden aus Atomkraft weggefallen sind. Das geht, weil die Erneuerbaren massiv ausgebaut wurden und weil Strom insgesamt eingespart wird. Natürlich auch, weil der industrielle Verbrauch in den letzten Jahren zurück gegangen ist. Hier komme ich nochmal auf die neuen Hybridkraftwerke zu sprechen. Die sind keine Wundermittel, sondern es bedarf insgesamt einer besseren Energiepolitik. Wenn wir über Hybridanlagen reden, müssen wir über Netzumbau reden. Wir brauchen nicht unbedingt mehr Stromtrassen, aber andere Netze. Denn wenn wir uns etwa wünschen, dass Millionen Elektroautos herumfahren, dann müssen wir dafür die Infrastruktur schaffen. Wir haben heute dafür einfach nicht die richtigen Netze.
Der WNSIR ist ein kollektives Werk und wird von Expertinnen und Experten rund um die Welt erstellt –2024 von interdisziplinären Fachleuten aus neun Ländern und vier Kontinenten, von Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen in Vancouver, Kanada, bis Nagasaki, Japan, von Johannesburg, Südafrika, bis Berlin, London und Paris. Der WNISR2024 stellt auf 513 Seiten umfassend den Stand und die Trends der internationalen Atomindustrie dar. Der WNISR wird seit 2007 jährlich veröffentlicht und seit 2012 von Mycle Schneider Consulting in Paris herausgegeben.
[1] Das erste Atomkraftwerk, das je Strom erzeugte (für ein paar Glühbirnen), war der Experimental Breeder Reactor (EBR-1) in den USA, ein Brüter.
[2] Laut Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen (AGEB) ist die Produktion zwischen 2010 und 2023 von Strom durch Braunkohle um 40%, Steinkohle um 65% und Erdgas um 12% gesunken.