Nachruf

Rebell, Forscher, Genosse, Kollege, Lehrer

Dr. Harald Werner (* 13.8.1940 † Dezember 2023)

Mit Harald Werner ist ein bedeutender Vordenker der Linken von uns gegangenen. Viele Jahre bis 2012 war er Mitglied im Parteivorstand der Linken. Claudia Gohde und Matthias W. Birkwald, zwei enge Weggefährten von Harald Werner, schreiben über einen besonderen Genossen.

Von Claudia Gohde

Harald Werner kannte sich in fast allem aus und war in sehr vielen Dingen Autodidakt. Er war gelernter Stahlbauschlosser und konnte Häuser sanieren und bauen. Er verstand viel vom Zeitungsmachen und hat lange im Journalismus gearbeitet. Auf dem zweiten Bildungsweg hat er Abitur gemacht und sich dann verschiedene Disziplinen erschlossen: Maschinenbau, Grafik- und Buchgewerbe, Psychologie, Soziologie, letzteres mit Promotion. Die Oldenburger Uni, an der er später auch Lehrbeauftragter war, hat er mitgegründet und war – in einer kurzen wilden Phase, wo so was möglich war - als Studierender sogar deren Prorektor. Harald war ungemein belesen, er wusste viel über Sozialpsychologie, über Kunst, über Pädagogik. Er war Mitglied der IG Metall,  von ver.di und der DKP, was ihm den 80ern Berufsverbot bekam und eine Karriere als Hochschullehrer versperrte. 1990 gründete er zusammen mit anderen in Hamburg die Linke Liste/PDS, wurde später Mitarbeiter der PDS im Bundestag. Nach Gründung der LINKEN war er Mitglied in deren Parteivorstand und legte die Grundsteine für die Politische Bildung.

Ich lernte Harald und Heidi 1990 kennen. Sie waren einige von den leider nur wenigen Erneuer*innen aus der DKP, die in Westdeutschland die PDS mitbegründeten. In ihrem Bremer Haus war das erste Bremer PDS-Büro, und es gab immer Betten und ein gutes Frühstück für Übernachtungsgäste. Harald schrieb, gestaltete, organisierte, plakatierte und diskutierte. 1995 fand ein – zumindest für mich - legendärer Bürgerschaftswahlkampf in Bremen statt. Der Wahlkampf wurde zum Großprojekt der Partei ausgerufen. Aber dann zog beim ersten Konflikt der vom Parteivorstand eingesetzte Wahlkampfleiter die Reißleine und ich wurde in ein Dreier-Kollektiv nach Bremen entsandt. Mengen von Genossinnen und Genossen aus allen Regionen kamen nach Bremen, um zu helfen. Heidi und Harald immer dabei. Harald organisierte die Agentur. Das Ergebnis blieb wie immer in dieser Zeit hinter den Erwartungen. Wir waren wie so oft in den 90ern im Zwiespalt, dass wir im Gegensatz zum Osten wahlpolitisch keinen Schritt vorankamen, aber politisch überzeugende Argumente hatten, wie die Partei agieren sollte. Das wurde uns oft als Großmäuligkeit ausgelegt und untergrub unsere Motivation. Wir hatten in den 90er Jahren endlose Debatten über die geeignete Kommunikation in Wahlkämpfen, über die richtige Setzung von Themen und die Gestaltung von Plakaten. Wenn es ihm zu voluntaristisch wurde, dann sagte Harald: „Kunst kommt von Können und nicht von Wollen. Denn sonst hieße es ja Wunst…“

In den 90ern freundeten wir uns mehr an und fuhren zusammen in den Urlaub. Haralds Begeisterung für die Berge war ansteckend. Durch Harald und Heidi kam ich zum Klettersteig-Gehen und zum Klettern. Mit ihnen habe ich die ersten Skitouren gemacht. Mich beeindruckte die organische Verbindung von politischen Debatten, Bergsport und gutem Essen. Man konnte mit ihm aber auch wunderbar durch alle Themen der Weltgeschichte plaudern. Überhaupt war er unglaublich breit interessiert, las in alle Richtungen und integrierte neue Erkenntnisse in die politische Analyse.

Als Mitarbeiter der PDS-Fraktion arbeitete er Anträge zur Erstellung eines Armuts- und Reichtumsberichtes aus, die bis Ende der 90Jahre regelmäßig abgelehnt wurden – und heute Gesetz sind. So lange stellte er selbst Zahlen über die ungerechte Reichtumsverteilung zusammen. Er war in der sehr großen Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft engagiert. Anfang der der 00er Jahre erfand er (ja, das ist der richtige Begriff) die Mindestlohnkampagne der PDS, die als erste richtige Kampagne der PDS zu einem Markenzeichen wurde. Hier arbeiteten wir eng zusammen. Harald hatte aus der Gewerkschaftsarbeit gute Kenntnisse über Kampagnengestaltung. Wir hatten großartige Workshops, konnten neue Mitglieder aktivieren und erstmals den Kampagnengedanken in der Partei etablieren.

Nach der Gründung der LINKEN arbeiteten wir dann an der Fundierung der Politischen Bildung der neuen Partei. Viele Jahre war Harald Mitglied der Kommission Politische Bildung. Wieder konzipierte und schrieb er, ärgerte sich nicht selten über die Missachtung seiner Ratschläge und entwickelte das erste ein E-Learning-Programm der Partei. Bis 2012 war er im Parteivorstand der LINKEN, zeitweise als gewerkschaftspolitischer Sprecher und als Zuständiger für die Politische Bildung.

Harald war ein enthusiastischer Gründer und ein ebenso scharfer Kritiker vermeintlicher oder tatsächlicher Fehlentwicklungen. Dass er in wirklich allen Fragen kompetent mitreden konnte, ging manchen auf den Wecker und verhinderte vielleicht die Anerkennung und Würdigung, die er verdient gehabt hätte. Auf seiner Website www.harald-werner-online.de lohnt sich noch immer das Stöbern. Ich bin dankbar, dass ich ihn erleben konnte.

 

Von Matthias W. Birkwald

Zum Jahresende 2023 hat die politische Linke in Deutschland einen ihrer wichtigsten Denker, Bildner, Hintergrundarbeiter und Marathonläufer verloren. Dr. Harald Werner, geboren auf den Tag genau 21 Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1940, also am selben Tag wie Karl Liebknecht und Fidel Castro, bezeichnete er sich in einem seiner – wie immer lesenswerten – autobiographischen und zugleich politischen Texte, selbst als „Kriegskind“. Seine frühesten Erinnerungen waren gefüllt von dem, was in seinen Worten „nur Kriegskinder erleben und überleben können. Bombennächte, Evakuierung, Flucht, Zusammenbruch, mit Ruhr und Typhus gerade noch einmal davongekommen und mit fünf Jahren so ausgezehrt, dass die Mutter mich im Kinderwagen durch die Berliner Trümmerlandschaft schieben musste”. Sein erster Abenteuerspielplatz, berichtet er, „das waren ausgebrannte Panzer und Ruinen”. In seinem Leben, so Harald Werner, war immer „alles irgendwie politisch. Die Berliner Blockade mit ihren Rosinenbombern, der 17. Juni mit den Schüssen am Potsdamer Platz, die viel leiser aber sichtlich wirksamer waren, als die im Kino. Ich bin zwischen endlos politisierenden Erwachsenen groß geworden und wurde furchtbar altklug. Zwei Dinge haben mir damals Angst gemacht: Die mögliche Wiederholung der Sintflut, der Krieg und überhaupt die Verletzlichkeit eines friedlichen Lebens.” Seine Schwester lernte er verspätet kennen ebenso wie seinen Vater erst, als der aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. 

Für eine längere Schullaufbahn zunächst zu rebellisch, besuchte Harald die Abendschule, machte seine Gesellenprüfung als Stahlbauschlosser und wurde nach eigenen Worten „Vorarbeiter, IG Metaller und ziemlich engagiert jugendbewegt: Die Urlaube trampend, von den Alpen bis nach Norwegen und dann auch mal für fast ein Jahr durch Jugoslawien, Griechenland und an den Bosporus. Wieder mal weggelaufen.”

Mit 30 schon mehrfacher Familienvater, erlebte Harald Werners Leben am Vorabend von 1968 einen wichtigen Einschnitt. Mit Unterstützung seiner – und meiner späteren – Gewerkschaft IG Metall wurde Harald Werner Sozialwissenschaftlicher und Psychologe und promovierte. Und er lernte seine spätere zweite Frau Heidi – für die ich elf Jahre in ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete und als Sozialsenatorin in Berlin arbeitete – kennen. Er blieb mit ihr bis zu seinem Tode glücklich verheiratet und pflegte sie in den vergangenen Jahren sehr liebevoll und aufopferungsvoll, denn Dr. Heidi Knake-Werner ist leider dement. 

1972  wurde Harald Werner Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Allerdings wurde ihm, der neugierig, klug und ein undogmatisch engagierter Wissenschaftler und Aktivist war, von beiden Seiten im Kalten Krieg übel mitgespielt. Obwohl mehrfach auf dem ersten Listenplatz, wurde Harald Werners Berufung zum Hochschullehrer von Ministerseite verhindert. Schließlich wurde er Opfer des Berufsverbots, eine Karriere in Einrichtungen der Wissenschaft blieb ihm trotz unzweifelhafter Kompetenz versagt. Nicht weniger umbarmherzig zeigte sich der dogmatische Parteikommunismus. Durch den Kontakt mit dem Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) zum Reformkommunisten geworden, war Harald aus Sicht der DKP, weil er kein blinder Verteidiger der DDR war, auch kein zuverlässiger Funktionär mehr. Von der Erneuerungsströmung in der DKP führte ihn der Weg in die PDS, die er zusammen mit seiner Frau Heidi in Bremen aufbaute.

Dr. Heidi Knake-Werner verdanke ich Vieles – unter anderem, dass ich ihren Mann Harald Werner später als Kollegen kennen- und schätzen lernen durfte. Harald folgte ihr zunächst nach Bonn, als sie Mitarbeiterin der PDS-Gruppe im Deutschen Bundestag wurde, und später im Zuge des Bundestagsumzugs nach Berlin. Als Kollegen und Genossen bzw. Mitarbeiter arbeiteten Heidi, Harald und ich unter anderem am Konzept des Öffentlichen Beschäftigungssektors, mit dem die PDS die damalige Massenarbeitslosigkeit bekämpfen wollte. Einen Beitrag im gleichnamigen und von Dr. Gregor Gysi eröffneten Sammelband, den Harald herausgab, durfte ich mit Heidi und ihm zusammen verfassen. Als es nach dem Zerbrechen der schwarz-roten Regierung in Berlin zur zweiten rot-roten Koalition auf Landesebene kam, arbeitete ich unter der Sozialsenatorin gewordenen Dr. Heidi Knake-Werner als ihr persönlicher Referent. Harald wiederum engagierte sich lange als Beauftragter des Parteivorstandes der PDS, dessen langjähriges Mitglied er war, sowie später der LINKEN für politische Bildung. 

Werner, der in der größtmöglichen Umbruchszeit der unmittelbaren Nachkriegszeit aufwuchs, wurde selbst versierter Interpret gesellschaftlicher Veränderungen. Bei den Rolling Stones heißt es in ‚Street Fighting Man‘ lapidar: „Hey! Think the time is right for a palace revolution. But where I live the game to play is compromise solution”. Diesen Faden griff Harald auf, wenn er schrieb, Deutschland sei „kein Land der geglückten Revolutionen, von denen Nationalfeiertage leben, obwohl es an revolutionären Ereignissen selbst keinen Mangel hat. Sie endeten entweder tragisch oder peinlich, wie etwa 1989. Ganz anders 1968. Das war weder tragisch noch peinlich, sondern es hat, nach dem die irrlichternden Ereignisse verschwunden waren, dieses Land auf eine Weise verändert, dass man es nachträglich als sein eigenes annehmen konnte.” Auch eine der besten Analysen der Montagsdemos gegen Hartz IV, die 2004 überraschend das Land bewegten, stammte aus seiner Feder. Harald Werner wusste aber, dass man als Linker die Welt nicht nur interpretieren muss. Zeit seines Lebens strebte Harald Werner danach, sie auch zu verändern. Ob als Juso-Unterbezirksvorsitzender, Lehrlings- und Gewerkschaftsaktivist, SDS- und später PDS-Genosse, man wusste ihn unbeirrbar auf der Seite der Arbeiterbewegung und der Emanzipation. 

Und Harald war bereit und in der Lage, Fehler einzugestehen und seine Positionen begründet zu revidieren. Mitte der neunziger Jahre hatte ich begonnen, mich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes zu engagieren. Harald Werner war einer meiner Gegner, weil er zunächst immer darauf bestand, dass die Lohnfindung eine Sache der Tarifparteien sei. Nach einiger Zeit stellte er fest, dass die Notwendigkeit, auch in der Bundesrepublik Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, nicht von der Hand zu weisen war. Und fortan kämpfte er für ihn. Er war es, der die erste Kampagne für die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes der PDS Anfang der Zweitausender Jahre führte. Dies hat mich sehr beeindruckt.

Und ebenfalls hat mich immer beeindruckt, dass Harald nicht nur ein Denker und Theoretiker, sondern auch ein Praktiker war. Ich habe zwei linke Hände und Harald hat mit Heidi zwei Häuser gebaut, vieles davon in Eigenleistung. Und er konnte immer alles reparieren. Harald war jemand, an den ich denken musste, wenn von der allseitig entwickelten, sozialistischen Persönlichkeit die Rede war. 

Beeindruckt hat mich neben vielen seiner Züge auch immer sein sportlicher Ehrgeiz. Mit 67 kündigte er an, seinen vielleicht letzten Marathon zu laufen. Doch selbst in dieser Hinsicht blieb er zur verblüffenden Selbstrevision fähig, denn mit 70 Jahren schaffte er nochmals einen.

Inzwischen ist Harald Werner seinen letzten Marathon gelaufen. Möge er als Mensch, Genosse, politischer Bildner und in anderen Eigenschaften vielen Menschen lange in bester Erinnerung bleiben. 

Der Beitrag erschien zuerst auf der Website des Autors, Matthias W. Birkwald.