Fataler rentenpolitischer Stillstand (I)
- Matthias W. Birkwald
- Michael Popp
Die Ampel fährt die gesetzliche Rente in den nächsten Jahren absehbar ins Defizit. Dann werden die nächsten Kürzungen drohen – der Einstieg in die Aktienrente wird das nicht abwenden.
Im Wahlkampf hat die SPD erfolgreich mit dem Slogan "stabile Rente" geworben. Dass dies in der Realität aber nicht viel mehr bedeutet als ein Weiter-So auf niedrigem Niveau und der sozialpolitische Anspruch gerechter und lebensstandardsichernder Renten aufgegeben wird, zeigt sich sehr deutlich im Koalitionsvertrag. Unter dem selbstgeschaffenen Sachzwang steigender Rentenausgaben und sinkender Renteneinnahmen eröffnet der Koalitionsvertrag keine finanziellen Spielräume für einen Ausbau der gesetzlichen Rente; dem Diktum der FDP, der BILD-Zeitung und selbsternannter Rentenpäpste, dass die gesetzliche Rente zu teuer sei und wir alle besser "in Aktien" vorsorgen sollten, wird nicht widersprochen, sondern Tür und Tor geöffnet.
In dieser Situation verkaufen es Manche schon als Erfolg, dass sich die FDP mit ihren radikalen Angriffen auf die gesetzliche Rente (noch) nicht durchsetzen konnte und die Regelaltersgrenze nicht über 67 hinaus erhöht werden wird. Dass es viel zu viele Menschen wegen Krankheit, Arbeitslosigkeit oder dem Fehlen alter(n)sgerechter Arbeitsplätze nicht schaffen, bis zur Regelaltersgrenze (aktuell 65 Jahre und elf Monate) im Job zu bleiben, wird ausgeblendet. Jede:r Sechste stirbt sogar vor dem 67. Geburtstag. Ärmere sterben noch häufiger vor dem 65. Geburtstag. Hinter diesen nackten Zahlen verbirgt sich das große Gerechtigkeitsdefizit der gesetzlichen Rente in Deutschland. Niedrige Löhne, Zeiten der Arbeitslosigkeit und auch der erzwungenen Teilzeit führen gnadenlos nicht nur zu niedrigeren Renten, sondern auch zu einem kürzeren Rentenbezug. Ein solidarischer Ausgleich findet in der Rentenversicherung nur begrenzt statt. Das Leistungsprinzip der Erwerbsphase setzt sich als Äquivalenzprinzip knallhart bei den Alterseinkommen fort.
Dazu kommt: Weniger als die Hälfte der Neurentner:innen geht heute aus einem sozialversicherungspflichtigen Job in die Rente. Wer bis dahin keine 45 Beitragsjahre geschafft hat, geht mit hohen lebenslangen Abschlägen in Rente – sei es als Erwerbsgeminderte:r (durchschnittlich 105 Euro brutto im Monat) oder wer 35 Beitragsjahre geschafft hat als Frührentner:in (103 Euro). Das betrifft aktuell jeden dritten Renteneintritt.
48 Prozent reichen nicht aus, um Altersarmut zu bekämpfen
Die gleiche Frage stellt sich bei der zweiten großen Stellschraube für gerechte Renten: Ist es nicht eine gute Nachricht, dass die Ampel das Mindestrentenniveau von 48 Prozent ohne Rechentricks als untere Haltelinie für das Rentenniveau erhalten will? Nein, denn läge das Rentenniveau heute noch - wie im Jahr 2000 - bei lebensstandardsichernden 53 Prozent, so würde heute eine Durchschnittsrente nicht 1089 Euro betragen, sondern 1.200 Euro. 111 Euro mehr Rente im Monat! Das zeigt: 48 Prozent Rentenniveau reichen einfach nicht aus, um den Lebensstandard zu sichern und Altersarmut in Deutschland wirksam zu bekämpfen.
Dass der gesetzliche Mindestlohn endlich von 9,82 auf 12 Euro angehoben werden soll, ist nicht zuletzt ein Erfolg der LINKEN, die seit Jahren sagt, dass der gesetzliche Mindestlohn bisher zu niedrig war und zukünftige Generationen nicht vor Altersarmut hätte schützen können. Davon könnten sofort bis zu acht Millionen Beschäftigte profitieren. Rechnet man aber den Sprung von 9,82 Euro auf zwölf Euro in eine spätere Rente um, so ergäbe sich nach 45 Jahren ein monatliches Plus von rund 150 Euro mehr Rente netto und man käme dann knapp über die heutige Sozialhilfeschwelle von 852 Euro. Das zeigt, dass der gesetzliche Mindestlohn ein wichtiger Schutzschirm gegen Altersarmut ist, aber bei Weitem nicht ausreicht und durch einen wirksamen Rentenzuschlag für Hartz IV-Beziehende und Niedrigverdienende und eine armutsfeste, einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente von derzeit 1200 Euro netto ergänzt werden muss.
Die guten Jahre sind vorbei
In den nächsten vier Jahren kommen zudem strukturelle Herausforderungen auf die gesetzliche Rente zu: Die guten Jahre sind vorbei. "Nach dem Ende der Finanzmarktkrise im Jahr 2009 stieg die Zahl der rentenversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland bis kurz vor Beginn der Corona-Pandemie um fast sechs Millionen auf rund 32,2 Millionen. In dieser Zeit haben sich auch die Beitragseinnahmen für die gesetzliche Rente sehr gut entwickelt.
Das wurde von der Großen Koalition zwar nicht für eine Anhebung des Rentenniveaus genutzt, aber zumindest gab es partielle Leistungsverbesserungen für Erziehende, pflegende Angehörige und neue Erwerbsminderungsrentner:innen. Das Problem daran: Viele dieser gesamtgesellschaftlich wichtigen Verbesserungen wurden nicht solide über Steuergelder gegenfinanziert. Wenn der Beschäftigungsanstieg aufgrund des demographischen Drucks der Babyboomer jetzt zum Erliegen kommt und dem nicht politisch entgegengesteuert wird, sieht es für die Rentenfinanzen schlecht aus und das merken wir - nicht nur wegen des coronabedingten Konjunktureinbruchs - jetzt schon:
Der Sozialstaat blutet gewollt aus
Nach der Nullrunde in diesem Jahr und zwei Rentenerhöhungen in den kommenden Jahren droht 2024 schon die nächste Nullrunde. Gleichzeitig wird sich die Rentenkasse in den kommenden Jahren massiv leeren (2021: 37,2 Milliarden Euro Überschuss / 2024: voraussichtlich nur noch 8,3 Milliarden Euro Überschuss), da die Ausgaben die Einnahmen strukturell übersteigen werden. Der Grund dafür ist aber nicht nur in der Demographie oder der Coronakrise zu suchen, sondern hausgemacht: Nie war der heutige Beitragssatz zur Rente von 18,6 Prozent seit 1995 niedriger. Der Sozialstaat wird also keineswegs teurer, sondern er blutet aus. Der Anteil der Rentenausgaben am Bruttoinlandsprodukt verharrt trotz eines höheren Anteils der Rentenbeziehenden an der Gesamtbevölkerung bei mickrigen 9,3 Prozent. Das ist im europäischen Vergleich (EU-Durchschnitt: 10,0 Prozent; Italien: 12,7 Prozent; Österreich: 11,6 Prozent) und angesichts der demographischen Herausforderungen viel zu wenig. Durch die Beitragssatzbremse werden also die Handlungsspielräume für eine vorausschauende Rentenpolitik unnötig eingeschränkt.
Zum Auf und Ab bei den Rentenanpassungen, zu Beitragssatzsprüngen und Scheindebatten um neue Steuerzuschüsse gibt es eine klare und nachhaltige Alternative: Wer, wie die Ampelkoalition, jetzt davon ausgeht, dass das bisherige Drei-Säulen-Modell gescheitert ist und die private Vorsorge die Kürzungen bei der gesetzlichen Rente nicht ausgleichen kann, muss sich in den nächsten knapp vier Jahren darauf konzentrieren, die gesetzliche Rente langfristig und krisenfest zu finanzieren. Das ist im Koalitionsvertrag die größte Leerstelle. Wie auch, wenn man Beitrags- und Steuererhöhungen ausschließt? DIE LINKE spricht sich für einen Dreiklang aus moderat steigenden Beitragssätzen, stabiler Steuerfinanzierung und einer Politik der guten Löhne und der guten Arbeit aus. Wir fordern eine Wiederanhebung des Mindestrentenniveaus von 48 (ohne Ststistikrevision) auf lebensstandardsichernde 53 Prozent. Die sogenannte Standardrentnerin hätte dann nach 45 Jahren Arbeit zum Durchschnittslohn eine Nettorente (vor Steuern) von 1500 Euro statt nur von 1365 Euro auf dem Konto. Der Beitragssatz würde dazu um zwei Prozentpunkte angehoben werden müssen. Das brächte sofort 27 Milliarden Beitragsmittel und fünf Milliarden Steuereinnahmen in die Rentenkasse. Kosten würde das einen Beschäftigten, der 3462 Euro verdient, und seine Chefin gerade einmal jeweils 34,19 Euro mehr im Monat. Das wäre ein einfaches und solides Finanzierungskonzept für eine bessere Rente.
Gemessen am Steueraufkommen ist der Bundeszuschuss zur Rente deutlich gesunken
Mit einer stufenweisen Anhebung des Beitragssatzes auf 24 Prozent im Jahr 2030 wäre dieser Pfad auch langfristig finanzierbar und auch vor einer Anhebung der Bundeszuschüsse muss man keine Angst haben: Fragt man nach dem Anteil, den die Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Rente an den Steuereinnahmen des Bundes ausmachen – wie sich also die Ausgaben im Verhältnis zu den Einnahmen verhalten –, so zeigt sich, dass dieser Anteil seit 2005 von 41 Prozent auf 30 Prozent (2019) zurückgegangen ist und nach der Finanzplanung des Bundes bis 2025 voraussichtlich stabil bleiben wird. Mit einer anderen Steuerpolitik wären also auch hier finanzielle Spielräume vorhanden, um die gesetzliche Rente auf einen nachhaltigen und lebensstandardsichernden Pfad zu bringen.