Auf komplizierte Situationen passen keine einfachen Antworten
Viele, die uns derzeit nicht wählen, finden unsere politischen Grundhaltungen und Ziele richtig. Aber sie sie haben den Eindruck, dass man der LINKEN derzeit keinen wirklichen politischen Einfluss geben sollte. Weil sie derzeit zu selbstbezogen ist, zu unfähig, nach der konkreten Situation zu handeln und gegebenenfalls über ihren Schatten zu springen, wenn es notwendig ist.
In einer Welt, die täglich komplizierter wird, kommt man mit einfachen Antworten und Glaubenssätzen nicht durch. Das sehen eigentlich alle, nur wir scheinen es nicht zu sehen. Statt Widersprüche als Chance zu sehen, Bewegung zu schaffen und die Verhältnisse zu ändern, fürchten wir uns vor Widersprüchen. Das kann für eine linke Partei nicht gutgehen.
Wenn man sich auf konkrete Politik einlässt, sind Widersprüche unvermeidlich. Für reale Veränderungen kämpfen kann man nur, wenn man Rahmenbedingungen, Widersprüche, Kräfteverhältnisse zur Kenntnis nimmt und für die konkrete Situation nicht ausweicht vor der Brechtschen Frage: „Wie handelt man, wenn man euch glaubt?“ Dann reichen allgemeine, abstrakte Sätze nicht mehr aus.
Der Elefant im Raum
Das Beispiel, wo dies momentan besonders deutlich wird, ist die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine. Es ist der Elefant im Raum. Der Versuch, die LINKE darüber friedenspolitisch zu profilieren, dass sie solche Lieferungen unter allen Umständen ablehnt, muss scheitern, denn er geht an der Wirklichkeit vorbei.
Fast alle, die in der LINKEN aktiv sind, sind in der einen oder anderen Art mit den Bewegungen für Frieden und internationale Gerechtigkeit verbunden. Fast alle waren im Lauf ihres aktiven politischen Lebens auf Friedensdemos, auf Gegenkongressen zu G7-Treffen, bei Ostermärschen, bei Protesten gegen Neokolonialismus und westliche Interventionskriege. Viele erinnern sich genau an die Momente, wo Kriegshandlungen des westlichen Militärbündnisses oder der USA begannen: Im Kosovo 1998, in Afghanistan 2001, im Irak 2003; die Älteren auch noch an Panama 1989 und Grenada 1983. Niemand in der LINKEN lässt Krieg kalt. Niemand in der LINKEN ist unkritisch gegenüber der NATO oder der westlichen Geopolitik.
Unsere ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen in Krisenregionen ist wohlbegründet. Sie ist entwickelt aus der Beobachtung der vielen langanhaltenden militärischen Konflikte, häufig in ärmeren Ländern, die sich in einer Mischung aus Bürgerkrieg, Stellvertreterkrieg und Bandenkrieg über Jahre oder gar Jahrzehnte hinziehen, weil internationale Interessenkoalitionen die Kriegsparteien immer wieder mit neuen Waffen versorgen. Sie ist entwickelt aus der Erfahrung, dass bestehende Spannungen in offene Kriege umschlagen, weil von außen Waffen geliefert werden gegen Schulden, die nur durch militärische Erfolge bezahlt werden können. Sie ist geschult daran, dass es so viel leichter ist, Waffen zu liefern, als die Ursachen von Konflikten zu beseitigen, und dass die Beseitigung der Ursachen in immer weitere Ferne rückt, je mehr Waffen geliefert werden.
Der russische Überfall auf die Ukraine stellt uns vor die Situation, dass unsere begründete Grundsatzposition auf die aktuelle Situation nicht passt. Wenn eine militärische Großmacht in ihr Nachbarland einmarschiert mit dem Ziel, es zu besetzen, zu kontrollieren und seine Souveränität zu vernichten, dann ist es keine akzeptable Antwort auf das Ersuchen nach Hilfe, zu sagen: „Weil dein mächtiger Nachbar dich angegriffen hat, bist du jetzt eine Krisenregion, und deshalb werden wir dir nicht helfen.“ So sehr wir uns auch bemühen, wir merken deutlich: Unsere Grundregel braucht eine Ausnahme.
Wir merken das in den vielen Gesprächen, die wir alle über den Krieg in der Ukraine führen: im Alltag, am Arbeitsplatz, mit Bekannten und mit Menschen, die wir nur flüchtig kennen. Unsere üblichen Begründungen, warum Waffenlieferungen das falsche Mittel sind, um Kriege zu beenden, greifen hier nicht. Zu klar ist, dass unterlassene Unterstützung dazu führen würde, dem Angreifer zu helfen statt dem Angegriffenen. Dass sie Beihilfe wäre bei dem Vorhaben der russischen Regierung, die Ukraine zu besetzen, ihre Politik und ihre gesellschaftliche Entwicklung zu bestimmen, und mindestens Teile des Landes dauerhaft für sich zu beanspruchen. Dass sie die russische Führung dabei ermutigen würde, auch weiterhin Krieg als normales Mittel einzusetzen, ihre Interessen auf Kosten anderer Gesellschaften zu verfolgen.
Es ist notwendig, eine Ausnahme von der Regel für unsere Positionsbildung anzuwenden, um weiterhin als politische Kraft ernst genommen zu werden. Andere Forderungen – gegen die militarisierte Diskussion über die Unterstützung der Ukraine, gegen die Aufrüstungsvorhaben der Bundesregierung, für Friedensverhandlungen und internationale Bemühungen auch jenseits der NATO, um Russland Unterstützung zu entziehen – verhallen, wenn wir nicht als realitätsbezogene politische Kraft wahrgenommen werden. Um für Lösungsansätze jenseits von Waffenlieferungen Gehör zu finden, müssen wir aufhören, uns aus Prinzip gegen diese zu stellen.
Sanktionen sind ein wichtiges, wenn auch schwieriges Instrument, internationalen Druck auszuüben und irgendwann Verhandlungen zu erzwingen. Aber weil sie Zeit brauchen, um zu wirken, sind sie allein ein unzureichendes Mittel, um eine unmittelbare Invasion abzuwehren. Wer gerade physisch angegriffen wird, dem reicht es nicht aus, wenn wir sagen: „Wir werden dem Angreifer das Konto sperren, den Pass löschen und den Führerschein aberkennen.“ Er will, wenn schon nicht direkten Beistand, wenigstens Mittel zur Selbstverteidigung haben, weil es sonst zu spät ist.
Diese Argumente bekommt man nicht vom Tisch. Sie stellen auch nicht unsere grundsätzliche Haltung in Frage, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Sie stellen nur unsere Unfähigkeit in Frage, auf eine andere Situation mit einer Ausnahme von dieser Regel zu antworten.
Ein sich wiederholendes Muster
Diese Unfähigkeit haben wir unlängst schon einmal demonstriert: Bei der Bundestagsabstimmung über das militärische Mandat bei der Evakuierung aus Afghanistan. Unsere Kritik am langjährigen Militäreinsatz in Afghanistan hat sich als berechtigt herausgestellt. Es ist nicht gelungen, Frieden und eine freiheitliche Entwicklung mit Waffen herbeizuführen. Das Missverhältnis zwischen militärischen Ausgaben und den mageren wirtschaftlichen Hilfen, zwischen Investitionen in den Krieg und fehlenden zivilen Investitionen, hat in typischer Weise zum Misserfolg geführt. Der Auslandseinsatz in Afghanistan ist gescheitert, wie viele andere Auslandseinsätze auch.
Nur: In der konkreten Situation, wo der Krieg bereits verloren war und nur noch die Rettung der zivilen Hilfskräfte und der bedrohten Kräfte aus der Zivilgesellschaft auf der Tagesordnung stand, hätte es einer Ausnahme von der Regel bedurft. Nachdem alles gescheitert war, bedeutete ein Verzicht auf militärische Präsenz am Flughafen von Kabul, Menschen nicht zu helfen, deren Leben und Freiheit von der Möglichkeit abhing, mit einer der letzten Maschinen das Land zu verlassen. Auch hier stellten die Ereignisse nicht unsere grundsätzliche Haltung in Frage, militärische Auslandseinsätze kritisch zu sehen. Aber sie stellten unsere Unfähigkeit in Frage, in einer konkreten Situation eine Ausnahme zu machen.
Abwägungen und Ausnahmen beschädigen unsere grundsätzlichen Haltungen nicht, sie machen sie stärker. Anzuerkennen, dass die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung hat und dass dieses Recht auch einschließt, dafür Unterstützung von anderen Ländern zu erhalten, ändert nichts daran, dass wir Rüstungsexporte in Drittländer ablehnen. Weder Saudi-Arabien noch Ägypten brauchen Waffen, um sich gegen Angriffskriege zu schützen. Es ändert auch nichts daran, dass wir für die Unterstützung der Ukraine Grenzen ziehen. Eigenständige Kriegsziele des Westens, die über die Abwehr der russischen Invasion hinausgehen (dauerhafte Schwächung Russlands, militärische Rückeroberung der vor dem 24.Februar besetzten Gebiete) lehnen wir ebenso ab wie eine direkte Verwicklung von NATO-Truppen (wie sie mit einer Flugverbotszone einherginge). Eine Ausweitung des Krieges auf andere Länder muss verhindert werden, weshalb genau abgewogen werden muss, welche Waffensysteme geliefert werden können und welche nicht.
Eine politische Kraft, die für Abrüstung und Entspannung eintritt, ist dringend notwendig. Aber das geht nicht darüber, dass wir ausblenden, was passiert ist und was sich verändert hat. Wir haben den aggressiven Charakter des neuen russischen Imperialismus zu lange nicht gesehen oder sehen wollen. Wir haben den Bewegungen und Parteien in Osteuropa nicht zugehört, wenn sie darauf hingewiesen haben. Das müssen wir selbstkritisch einräumen.
Die Entspannungspolitik nicht verloren geben
Die LINKE hätte eine zentrale Aufgabe darin, sich gegen eine militärische Verengung der Diskussion zu stellen und Umrisse einer zukünftigen Politik für Entspannung, Abrüstung und Kooperation zu skizzieren. Das geht aber nur, wenn wir uns von den alten Mustern freimachen: Die Fixierung auf Russland und Europa aufgeben und eine realistische Einschätzung aller Akteure gewinnen. Die Rechnung, die russische Führung wäre zu Frieden und Kooperation bereit, wenn man nur genügend auf ihre sicherheitspolitischen Sorgen eingeht, geht nicht mehr auf.
Die klassische Entspannungspolitik beruhte darauf, dass die Sowjetunion im Kern ein Interesse am Erhalt des geopolitischen Status Quo in Europa hatte, und ein Interesse an einer wirtschaftlichen Modernisierungs-Zusammenarbeit. Die heutige russische Führung will dagegen den Status verändern, Grenzen neu ziehen, und ihre Kontrolle über die gesellschaftliche Entwicklung anderer Länder ausdehnen. Den Widerspruch, dass ihr Anspruch auf geopolitische Augenhöhe mit den USA und China schon lange nicht mehr durch die russische Wirtschaftsleistung gedeckt ist, versucht sie zu überbrücken, indem sie Kriege in Europa führt und sich militärisch möglichst unberechenbar macht.
Die Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre war auch ein paternalistisches Konzept. Für die Souveränität und selbstbestimmte gesellschaftliche Entwicklung kleinerer Staaten war darin kein Platz vorgesehen. Das Misstrauen der osteuropäischen Demokratiebewegungen gegenüber der westlichen Friedensbewegung, aber auch das Misstrauen der postsowjetischen Staaten gegenüber der deutschen Außenpolitik, hat hier seine Wurzel.
Eine neue Entspannungspolitik muss multilateral sein und kann nicht isoliert für Europa gedacht werden. Die russische Führung hat das Bedürfnis der russischen Gesellschaft nach Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und einem gleichberechtigten Platz in der globalen Politik ausgebeutet für eine nationalchauvinistische, autoritäre, dominanzorientierte Stimmungsmache. Das ist unverzeihlich. Das Bedürfnis nach Augenhöhe und einem selbstbestimmten Weg in einer nicht vom Westen einseitig dominierten Welt ist aber auch für andere Staaten existenziell, und das ist der Grund, warum sich Staaten wie Südafrika, Indien, Iran, Namibia, China der Verurteilung des russischen Angriffskriegs nicht angeschlossen haben und nicht zu Sanktionen bereit sind. Um den neuen Ost-West-Konflikt zu entschärfen, muss das Misstrauen zwischen Nord und Süd in der UNO abgebaut werden, und hierfür hat die westliche Staatengruppe eine Bringschuld. Eine selbstgerechte Erzählung vom Westen als Verteidiger von Freiheit und Demokratie überall auf der Welt hat hier keinen Platz. Eine Betrachtung, in der die Vielzahl der souveränen Staaten und ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung nicht vorkommt, in der die Welt reduziert wird auf die Player Russland und NATO, funktioniert aber ebenso wenig.
Wir dürfen an der feministischen Außenpolitik nicht nur den Aspekt aufnehmen, dass Sicherheitspolitik nicht auf militärisches Denken verengt werden darf, sondern auch den anderen Aspekt, dass Staaten und soziale Gruppen andere physisch unterdrücken, weil und solange sie es können. Eine neue Aufrüstungsspirale muss unter allen Umständen vermieden werden, schon weil eine solche Ressourcenverschwendung angesichts der klimapolitischen Herausforderung vollständig unverantwortlich ist. Das geht aber nur, wenn Verteidigung nicht mehr rein national gedacht wird, sondern als arbeitsteilige Kooperation im Bündnis. Dafür müssen wir unser schwieriges und vielfach unrealistisches Verhältnis zur EU und auch zur NATO aufräumen und uns zutrauen, beide verändern zu wollen.
Die Notwendigkeit, für eine globale Sicherheitspolitik zu kämpfen, die nicht militärisch verengt ist, in der Kooperation zwischen Staaten und Menschenrechte, Souveränität und bindende Verpflichtungen ihren Platz haben, und die den Anforderungen einer multipolaren Welt gerecht wird, ist eine Herausforderung, die wir annehmen müssen. Aber das geht nicht an der wirklichen Welt und ihren Widersprüchen vorbei.
Wir dürfen uns nicht auf abstrakte Haltungen zurückziehen
Die Verengung unserer friedenspolitischen Debatte auf abstrakte Grundsätze steht stellvertretend für einen Politikstil, den wir überwinden müssen. Wenn wir das nicht tun, werden sich viele von uns abwenden, die auf die LINKE setzen und von ihr einen wichtigen Beitrag erwarten zur Veränderung von Kräfteverhältnissen, zur Durchsetzung von sozialen Reformen, zur Bewahrung von radikaler Kritik und grundsätzlichen Alternativen. Bei vielen von ihnen verfestigt sich der Eindruck, dass uns unsere eigenen Befindlichkeiten wichtiger sind als die konkreten Interessen von Menschen, die unsere Unterstützung brauchen. Dass wir Angst haben vor der eigenen politischen Macht, davor Entscheidungen wirklich beeinflussen zu können. Dass wir die vermeintlich sichere Position am Spielfeldrand um keinen Preis verlassen wollen, weil wir uns nicht mit der täglichen Abwägung schwieriger Entscheidungen befassen wollen, sondern nur damit, wie wir uns selbst gerechtfertigt fühlen können. Das aber reicht nicht, und es schafft kein Vertrauen. Niemand möchte in einer kritischen Situation auf jemand angewiesen sein, der nur nach seinem Schema handelt, egal was passiert.
Wir sehen mit Sorge, dass sich in der Partei eine Haltung verbreitet, die lieber die konkrete Veränderung opfern möchte als die vermeintliche Klarheit der eigenen Haltung. Wir spüren in den bundesweiten Führungsgremien der Partei eine zunehmende Geringschätzung der politischen Arbeit in der Kommunalpolitik, in Landesparlamenten oder in Regierungsverantwortung auf Länderebene – weil sich diese nicht mit einfachen, immer wahren Grundsatzhaltungen bestreiten lässt, sondern Lust auf komplizierte Wirklichkeit voraussetzt. Das ist eine gefährliche Entfremdung, denn sie entfremdet auch diejenigen von der Partei, die konkrete Hoffnungen auf Veränderung in sie setzen.
Wir sind nicht in die LINKE gegangen, um immer abstrakt recht zu haben, sondern um Spielräume zu nutzen für diejenigen, deren Interessen wir vertreten. Wir wollen, dass diese Haltung auch in bundespolitischen Fragen spürbar ist. Dass wir aus einer abstrakten Empörungskultur herauskommen und Antwort auf die Frage geben: „Was würden wir hier und heute tun, wenn wir die Macht hätten, die Entscheidung zu fällen?“
Wir sind in die LINKE gegangen, weil wir darauf Lust haben, uns diese Probleme zu machen. Weil wir ihre Kraft schätzen, weiterzugehen als andere, ihre Fähigkeit, Situation besser zu verstehen und tiefer einordnen zu können. Weil sie keine Angst vor der Wirklichkeit hat. Wir wollen nicht, dass das verloren geht. Wir können unterschiedliche Positionen aushalten, wenn sie dazu führen, dass wir uns damit auseinandersetzen und dadurch vorankommen. Aber Appelle zur Einigkeit um den Preis, sich in einer komplizierten Welt auf möglichst einfache Antworten zurückzuziehen, helfen uns nicht weiter.