Energiewende für alle!
Sondervermögen für Energiesicherheit, Energiesouveränität und ökologische Transformation
Durch den Angriffskrieg des russischen Regimes auf die Ukraine stellt sich die Frage nach der Zukunft der Energieversorgung und der Energiesicherheit mit dramatischer Dringlichkeit neu. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen ist die eigentliche Menschheitsaufgabe unserer Generation, um den Klimawandel aufzuhalten bzw. zu begrenzen. In der aktuellen Situation erleben wir, auf wie vielfältige Weisen die Erfordernis nachhaltiger Energiesicherheit und -versorgung mit sicherheits-, sozial- und außenpolitischen Problemen verknüpft ist. Für eine gesicherte, ökologische und bezahlbare Energieversorgung braucht es einerseits schnelle und konsequente politische Weichenstellungen, die andererseits finanziell ausreichend untersetzt sein müssen, um ihre schnelle Wirksamkeit entfalten zu können und Energiearmut unbedingt zu vermeiden.
Das Aus für PKW mit Verbrennungsmotoren ist politisch beschlossen, die Dekarbonisierung der Industrie politisch gewollt. Allein diese beiden Großprojekte erfordern großen zusätzlichen Bedarf an Strom, sowohl im Einsatz als Primärenergie als auch durch Umwandlung (Power-to-X). Dass die Verstromung fossiler Ausgangsstoffe (Gas, Kohle, Öl) so schnell wie möglich reduziert werden muss, war bisher schon aus Gründen des Klimaschutzes notwendig, nun aber tritt der Aspekt der Versorgungssicherheit als essenzielle Beschleunigungsnotwendigkeit hinzu. Das bisherige System der stark fossilen Energiewirtschaft, von dem sich Deutschland und die anderen EU-Staaten viel zu langsam entfernen, beschleunigt den menschengemachten Klimawandel und macht unsere Energiesicherheit abhängig vom Wohlwollen autoritärer Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten und für die internationale Verträge das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Am Beispiel Putins sehen wir, welche Konsequenzen diese jahrzehntelange Ignoranz zeigt. Da weiterhin über 76 Prozent des Primärenergieverbrauchs in der Bundesrepublik über fossile Energieträger – besonders Mineralöl und Erdgas – abgedeckt werden, hat das erdgasreiche Russland einen mächtigen Hebel in seiner Hand, mit dem es Deutschland und die EU massiv erpressen kann. Es ist mehr als unklar, ob ein möglicher Lieferstopp russischen Gases durch andere Energieträger kompensiert werden könnte.
Die Antworten der Bundesregierung auf diese bedrohliche Lage werden dabei weder ihrem eigenen Anspruch nach einer „wertebasierten Außenpolitik“ noch nach einer echten Energiewende gerecht. Die durch den Ukrainekrieg entstandene Versorgungslücke mit Erdgas soll durch Verträge mit dem nicht weniger autokratischen Katar überbrückt werden. Gleichzeitig denkt ein grünes Bundeswirtschafts- und -klimaministerium laut darüber nach, 2 Kohlekraftwerke länger am Netz zu lassen oder mit weiterer Braunkohleförderung möglichen Energieengpässen zu begegnen. Wir befinden uns also in einer Lage, in der ein militärischer Konflikt das bislang Erreichte bei der konsequenten Umsetzung der Energiewende über Nacht wieder zunichtemachen könnte.
Neben diesen außen- und versorgungspolitischen Herausforderungen stimmt der Blick auf die konkrete Ausgestaltung der Energiewende nicht optimistischer. Seit Jahren ist klar, dass der zusätzliche Bedarf an regenerativer Energie enorm ist. Dem Gutachten von Agora Energiewende u. a. von 2021 zufolge wird – wenn Deutschland deutlich vor 2050 klimaneutral werden soll – der Stromverbrauch von aktuell etwa 600 Terrawattstunden pro Jahr auf rund 1.000 Terrawattstunden bis 2045 ansteigen – ein sattes Plus von 66 Prozent. Von diesen 400 Terrawattstunden Mehrbedarf entfallen etwa 40 Prozent auf den Verkehr, 37,5 Prozent auf die Wasserstoffherstellung und 22,5 Prozent auf die Industrieverbräuche. Ein überzeugendes und vor allem ausfinanziertes und sozial gerechtes Konzept, wie diese Mehrbedarfe parallel und vermittels regenerativer Energieträger abgedeckt werden sollen, ist die Bundesregierung bis heute schuldig geblieben.
Dort hingegen, wo bereits die alte Bundesregierung – wenn auch äußerst zaghaft – in Zukunftstechnologien investiert hat, zeigen sich weiter erhebliche Mängel im Detail. So wurden in den vergangenen Jahren einige (wenige) Projekte zur Entwicklung des Wasserstoffsektors auf den Weg gebracht; die wichtigsten sind die sogenannten IPCEI (Important Projects of Common European Interest). Doch hier stehen die Dinge oft nicht gut: langwierige Notifizierungsverfahren bei der EU-Kommission, lange Genehmigungsverfahren und eine enorme Kofinanzierung für die beteiligten Bundesländer, die die meisten Länderhaushalte überfordert. Die gestiegenen Baukosten und Energiepreise werden selbst bei Beschleunigung der Verfahren die beantragten Projekte gefährden. Betroffen wären industrielle Vorhaben, vor allem die Dekarbonisierung der Stahlindustrie, der Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur und Mobilitätsprojekte. Hier müssen politische Pflöcke eingeschlagen und strukturelle Leitentscheidungen getroffen werden. Schnellere Genehmigungsverfahren, pragmatische Lösungsmodelle und Stringenz in der Umsetzung erfordern einen klaren politischen Kompass, der sich am Ziel einer effizienten und zügigen Trendwende im gesamten Energiesektor auszurichten hat.
Gleichzeitig ist die aktuelle Energieversorgungs-Krise natürlich eine ökonomische und damit auch eine Klassenfrage. Das Motto „Frieren für den Frieden“ zeugt von einer unglaublichen Arroganz gegenüber Menschen, die schon anlässlich der Jahresabrechnung zittern, wenn sie den Brief des Energieversorgers öffnen. Nachzahlungen von mehreren Hundert Euro stellen schon jetzt sehr viele Menschen vor massive Probleme. Lag der Gaspreis Anfang 2021 noch im Mittel bei 16 Euro pro Megawattstunde, war er Anfang März dieses Jahres bei einem zwischenzeitlichen Rekordhoch von über 300 Euro pro Megawattstunde angelangt. Bereits im Jahr 2021 war der Gaspreis stark gestiegen, über 70 Euro bedeuteten bereits eine Verdoppelung der Gasrechnung für die Haushalte. Da diese Preise auch die Industrie treffen, 3 werden in der Folge deren Produkte teurer. Weil Gas der wichtigste Heizenergieträger in Deutschland ist, würde ohne vorübergehende Deckelung des Gaspreises überdies die Inflation kräftig angeheizt werden. Der Staat kann sich hier nicht aus der Verantwortung stehlen, indem er einzelnen Industriezweigen und den Bürgerinnen und Bürgern die Kostenfolgen der Energiewende aufbürdet. Es braucht ein Energiegeld für die Bezieherinnen und Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen und ein gesetzliches Verbot für Energiesperren (Strom, Gas) für Privathaushalte.
Die deutlichste Antwort auf Klimawandel und Krieg, für eine nachhaltige und vor allem für alle Menschen bezahlbare Energiewende muss nach unserem Dafürhalten ein Sondervermögen für Energiesicherheit, Energiesouveränität und ökologische Transformation sein. Das von der Bundesregierung angekündigte Sondervermögen für den Militärsektor hingegen löst keines unserer Gegenwartsprobleme, sondern führt in eine Spirale der Aufrüstung, die darüber hinaus dringend für die Energiewende benötigte finanzielle Mittel im wahrsten Sinne des Wortes verpulvert. Die vier Bundesländer mit linker Regierungsbeteiligung lehnen dieses Sondervermögen daher ab. Das von uns vorgeschlagene Sondervermögen für Energiesicherheit, Energiesouveränität und ökologische Transformation soll in den nächsten vier Jahren Mittel in Höhe von 100 Mrd. Euro insbesondere für folgende Bereiche zur Verfügung stellen:
- Start eines maßgeblichen Ausbaus des öffentlichen Personennahverkehrs durch Verdopplung der Regionalisierungsmittel von 10 Mrd. Euro auf 20 Mrd. Euro pro Jahr – Ziel muss eine ÖPNV-basierte Mobilitätsgarantie sowohl in ländlichen als auch städtischen Gebieten sein.
- Programme zur energetischen Sanierung im Gebäudebereich, insbesondere von privat genutztem Eigentum bei nicht ausreichendem Kapitalvermögen. Um die notwendigen Sanierungen warmmietenneutral durchzuführen, braucht es ein Förderprogramm von jährlich 10 bis 12 Mrd. Euro.
- Vorübergehende Gaspreisdeckelung für den privaten und den gewerblichen Grundverbrauch auf dem Niveau des Gaspreises von 2021.
- Investitionsprogramm für grüne Wasserstofferzeugung und Infrastruktur.
- Vollständige Übernahme der Kofinanzierung der Wasserstoff-IPCEI-Projekte durch den Bund.
- Sonderprogramme für kommunale Energieversorger, u. a. für den Ausbau von Fern- und Nahwärmenetzen.
- Energiespar- und -effizienzprogramme zur Unterstützung der Gerätemodernisierung in einkommensschwachen Haushalten.
- „Booster-Förderungen“, d. h. erhöhte Fördersätze für vorgezogene Investitionen in klimaneutrale Gebäude- und Prozessenergie.
- Bundesweites Fachkräfte-Qualifizierungsprogramm für den erweiterten Energiesektor (Gebäudesanierung, Heizung etc.).
Neben diesem Sondervermögen sind eine Reihe rascher politischer Entscheidungen notwendig. Die von der Bundesregierung am 4. April vorgelegten Eckpunkte zum Ausbau der Windenergie sind zu unambitioniert. Für einen wirklich schnellen und erheblichen Ausbau der Windenergie (Offshore- und dezentrale Onshore-Nutzung) sind die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit in Regionen mit unterdurchschnittlichem Ausbau eine unverzügliche Verdichtung bestehender Windräder umgesetzt werden kann. Dafür soll dort jedes Windrad das Recht auf zwei „Geschwister“ bekommen, d. h. an jedem bestehenden Anlagenort kann genehmigungsfrei bzw. genehmigungsarm jeweils die Anzahl der Anlagen verdreifacht werden. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass nicht Jahre ins Land gehen, bis neue Flächen zur Windkraftnutzung gefunden und ausgewiesen sind und die notwendige technische Anbindung bereits besteht. Das Abregeln von Windkraftanlagen muss der Vergangenheit angehören. Wir können es uns nicht leisten, solche Anlagen leerlaufen zu lassen. Stattdessen braucht es ein Strommarktdesign, das neue Speichertechnologien fördert und vorhandene Energiespeicher (z. B. Pumpspeicherwerke) betriebswirtschaftlich nutzbar macht. Zudem muss der Ausbau erneuerbarer Energien erheblich besser koordiniert werden als bisher. Auch wenn die amtierende Bundesregierung nicht mehr die faktische Arbeitsverweigerung ihrer Vorgängerinnen pflegt, bleibt der Ansatz, mit den einzelnen Ländern zu bilateralen Verabredungen zu gelangen, wesentlich zu kleinteilig und damit im Ergebnis auch zu langsam. Es braucht ein gesetzlich eingesetztes, schlagkräftiges Koordinierungsgremium, dem neben der Bundesregierung (mit einer ambitionierten Bundesnetzagentur) und den Landesregierungen mindestens Industrie, Gewerkschaften, Kommunalverbände sowie Verbraucher- und Umweltverbände angehören müssen.