Kein Wunder an der Weser - Teil 2
Ein Rezept für die Bundespartei?
An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wieso macht es die LINKE nicht überall so wie in Bremen (oder Berlin), und wieso insbesondere nicht auf Bundesebene? Es ist immerhin auffallend, dass für Strategiedebatten in der Bundespartei alle möglichen ausländischen Parteien bemüht werden – die KPÖ, Podemos, Syriza, die Bernie-Sanders-Kampagne, die PTB in Belgien usw. – während eher selten gefragt wird, was sich aus Bremen, Berlin, Thüringen, Hamburg oder Mecklenburg-Vorpommern lernen lässt.
Es handelt sich bei dem, was in Bremen oder Berlin funktioniert hat, ja um keine besonders ausgefallene Strategie. Zweifellos haben sich die beiden linken Senatorinnen Vogt und Bernhard als außerordentlicher Glücksfall erwiesen. Aber auch in anderen Landesverbänden gibt es leistungs- und ausstrahlungsfähiges Personal. Die Kompetenzprofile der LINKEN ähneln sich bei den letzten Wahlen in Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg oder Thüringen. Überall ist „soziale Sicherheit“ die zentrale Erwartung der Wähler*innen an die Partei. Aus dem früheren Ost-West-Gefälle bei den Wahlergebnissen der LINKEN ist ein Stadt-Land-Gefälle geworden. Aber Städte gibt es überall; knapp ein Drittel der deutschen Bevölkerung lebt in Großstädten mit über 100.000 Einwohner*innen. Thüringen, wo die LINKE die höchsten Landesergebnisse erreicht, ist das Land mit der niedrigsten Bevölkerungsdichte. Berlin ist nach der Einwohner*innen-Zahl das achtgrößte Bundesland (und Hamburg größer als Mecklenburg-Vorpommern).
Die Behauptung, alle guten Wahlergebnisse der LINKEN auf Landesebene wären Spezialfälle, die sich nicht übertragen lassen, trägt nicht. Aber während von außen eher der Modellcharakter der Landesverbände, die stabil abschneiden, für eine Gesamtstrategie der LINKEN gesehen wird, wird innerhalb der Partei und ihres engeren Umfelds eher auf die Nichtübertragbarkeit dieser Strategien abgehoben.
In der Partei ist seit Langem die Haltung stark, dass man gern anders gewinnen möchte, als die genannten Landesverbände es vormachen. Das hat zwei wesentliche Ursachen. Zum einen hat die Partei nach wie vor kein geklärtes Verhältnis zur Frage, wie sie ihre programmatischen Ziele langfristig durchsetzen will, insbesondere zur Option des Erlangens von Regierungsmacht. Zum anderen dominiert die Auffassung, dass grundsätzliche Strategiefragen, vor denen die Partei steht, andere Antworten benötigen würden als die, die sie in den stabilen Landesverbänden bislang gibt. Beides ist näher zu betrachten.
Die Debatte um Regierungsbeteiligung: Ein linkes Unikat
Christian Lindners Diktum „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“[1], gilt für alle Parteien. Regieren ist kein Wert an sich, es beinhaltet Chancen und Risiken. Parteien können sich in der Regierung stärken oder verbrauchen, sie können an Überzeugungskraft gewinnen oder an Glaubwürdigkeit verlieren. Und ohne die Option, nein zu sagen, könnte man gar keine Verhandlungen führen. Opposition ist verführerisch. Man muss sich nicht zu allen Themen verhalten. Man muss mit Bewegungen, Umfeldern, organisierten Interessen nicht in den Konflikt darüber gehen, dass nicht alles funktioniert, was sie fordern, dass Veränderungen eine Frage von Kräfteverhältnissen sind, und dass sie nicht allein auf der Welt sind. Man kann sich den Luxus erlauben, mit etwas gröberen Zuspitzungen zu arbeiten und notfalls Kritik von der Stange zu liefern. Und Opposition ist auch einfach weniger anstrengend.
So weit, so gut. Dass die LINKE jedoch unverändert darüber diskutiert, ob man die Option des Regierens als Partei grundsätzlich ausschließen sollte, entweder aus Prinzip oder „für mindestens ein Jahrzehnt oder länger“[2], ist ein Unikat und erklärungsbedürftig.
Da eine linke Partei zu wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen in Opposition steht, wird sie immer den Wert und Nutzen der Übernahme von Regierungsmacht genauer und kritischer bewerten müssen als andere Parteien. Konformitätsdruck; eine schleichende Überschreibung der eigenen programmatischen Ziele durch das, was angesichts von Sachzwängen oder Kompromissen real praktiziert wird; die Fokussierung von Kraft, Ressourcen, Personal, Anstrengung auf unmittelbare Lösungen und die damit einhergehende Vernachlässigung von Programm, Strategie, Parteientwicklung, Milieubildung; Verzettelung; Übervorsicht in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung: All das sind berechtigte Sorgen und Probleme, die bearbeitet werden müssen.
Andererseits gilt: Den Kurs eines Flugzeugs kann man nicht wirklich beeinflussen, wenn niemand anders bereit ist, die Kiste zu fliegen. Sich auf Kritik am Piloten zu beschränken, wird irgendwann schal und verliert seine Wirkung. Es ist der harte Kern sozialistischer Gesellschaftsauffassung, dass die gesellschaftlichen Konflikte irgendwann nur auf der Ebene der politischen Macht gelöst werden können. An einer verabsolutierten Bewegungspartei, die nichts anderes macht als was Bewegungen auch machen, haben diese auf Dauer kein Interesse.
In der Linken hält sich ein hartnäckiger Vulgär-Gramscianismus, der das Verhältnis von Hegemonie und Exekutivmacht als ein strikt zeitlich gestaffeltes Hintereinander sieht. Erst wenn die gesellschaftlichen Mehrheiten stehen, die Kräfteverhältnisse eindeutig sind, sich linke Überzeugungen breit in der Gesellschaft durchgesetzt haben, könne demnach der Schritt auf die Ebene von Regierungsmacht erfolgen. Das aber ist realitätsfern und wird nie passieren. Hegemonie entsteht nicht pädagogisch, sondern dadurch, dass sich eine programmatisch ausgerichtete Kraft bei der Lösung von konkreten Fragen, die alle betreffen, bewährt. Sie entsteht über erfolgreiches Leadership beim Management realer Probleme. Das beginnt in der Opposition, mit einer Politik, die kontinuierlich alternative Handlungsmöglichkeiten propagiert – nicht für die Vergangenheit oder eine ferne Zukunft, sondern hier und jetzt. Warum sollte jemand einer politischen Kraft folgen, die schon von vorneherein erklärt, dass sie zu einer praktischen Veränderung von Verhältnissen weder bereit noch imstande ist?
Eine Erbschaft aus der Gründungsgeschichte der Partei
Dass sich die Idee, eine Partei zu konstituieren, die keine exekutive Macht erringen will (obwohl das die letztliche Begründung der Organisationsform „Partei“ ist[3]), in der LINKEN so dauerhaft hält, lässt sich nur historisch erklären. Die Frage der Durchsetzungsstrategie wurde bei der Gründung der LINKEN ausgeklammert. Faktisch bestand der Gründungskonsens darin, dass zwei (unausgesprochene) separate Strategien mittlerer Reichweite in Ost und West koexistieren durften. Die Ost-Strategie zielte auf Regierungsbeteiligung als Instrument, um die Partei vom Stigma der DDR-Partei zu befreien, ihre Anerkennung als ‚normale‘ politische Kraft zu erreichen und damit auch stellvertretend ihre Wähler*innenschaft aus der symbolischen Abwertung der ungleichen deutschen Wiedervereinigung zu befreien. Daher war Regierungsbeteiligung hier zunächst tatsächlich ein Wert an sich, über den Beitrag zur Durchsetzung konkreter programmatischer Ziele hinaus.
Die West-Strategie bestand darin, die SPD durch Konkurrenz von links unter Druck zu setzen und wieder nach links zu drängen und sich damit auch ehemaligen SPD-Anhänger*innen als Instrument anzubieten, die SPD für ihre Kurswechsel zu bestrafen. Dafür war Opposition das Mittel der Wahl, da nur so der Schaden für die SPD (keine Regierungsmacht außer als Juniorpartner der CDU) maximiert und die Selbststilisierung der LINKEN (quasi als „SPD vor dem Sündenfall“) aufrechterhalten werden konnte. Beide Strategien, Ost und West, hatten ihre Ergebnisse und ihre Grenzen, aber beide waren Strategien auf Zeit. Nach der zweiten Bundestagswahl unter Beteiligung der LINKEN, 2009, verbrauchten sie sich zügig. „Beide bislang gebräuchlichen Haupt-Strategien sind erschöpft und überholungsbedürftig (…) Es wird Zeit, beide Strategien als gefährlich zu erkennen, weil sie letztlich auf ‚fremden Interessen‘ basieren, die auf Dauer nicht ausreichen, das Überleben der Partei zu sichern.“[4]
Das Grundsatzprogramm der Partei, das erst 2011 auf dem Erfurter Parteitag beschlossen wurde, war insofern zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung bereits überholungsbedürftig. Die Erschöpfung der beiden Teilstrategien wurde auf Bundesebene nicht bearbeitet, sondern zum Gegenstand gegenseitiger Vorwürfe, am schlimmsten in der Bundestagsfraktion. Im Mai 2012 kratzten die Bundesumfragen erstmals seit Gründung an der 5-Prozent-Hürde. Im Juni 2012 hielt Gregor Gysi seine berühmte Parteitagsrede, in der er ausführte, zwischen den Lagern in der Fraktion herrsche „Hass“, sie befinde sich in einem „pathologischen Zustand“, der Sachdiskussionen unmöglich mache.[5] 2012/13 verlor die LINKE bei den Landtagswahlen ihre Fraktionen in NRW, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
Die Abkoppelung der Landesverbände
In der Krisenphase begann die Entkopplung der Landesverbände von den Diskussionen der Bundespartei. In allen Landesverbänden, die noch Landtagsfraktionen hatten, setzte sich eine pragmatische Durchsetzungsstrategie durch, die Regierungsbeteiligungen weder ausschloss noch als Wert an sich behandelte. Darin trafen sich kritische Auswertungen von Regierungsbeteiligungen in Ost-Landesverbänden zunehmend mit kritischen Auswertungen von Fundamentalopposition in West-Landesverbänden. Die Ost-West-Spaltung der Partei begann sich aufzulösen. Auf Bundesebene war dies mit dem Machtwechsel vom Vorsitzenden-Duo Gesine Lötzsch/ Klaus Ernst zu Katja Kipping/ Bernd Riexinger deutlich geworden. Beide Vorsitzenden-Paare folgten zwar formal einer Ost-West-Struktur, inhaltlich aber vertraten beide gegensätzliche politische Lager.
Die einzige Fraktion, die sich der pragmatischen Durchsetzungsstrategie nicht anschloss, war die Bundestagsfraktion. Sie entschied sich dafür, gegensätzliche Strategien gleichzeitig zu bespielen und für die innerfraktionelle Mehrheitsbildung auf inhaltliche Konsistenz zu verzichten. Ohne ein gemeinsames strategisches Zentrum zwischen Parteivorstand und Fraktion blieb die Frage der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene vermintes Gelände, auf dem man jederzeit einen Parteitag hochjagen konnte. Im Grund erübrigte sich die Frage auch, da eine Regierungszusammenarbeit mit einer Fraktion, die ihre öffentliche Positionierung zu zentralen Sachfragen und zu anderen Parteien weder untereinander noch mit der eigenen Partei abstimmt, nicht möglich ist.[6] Die Landesverbände mit Fraktionen machten derweil, was sie für richtig hielten, während die Landesverbände ohne Fraktionen sich in einer starken Abhängigkeit von ihren Bundestagsabgeordneten befanden und anfälliger für deren Grabenkämpfe waren, was ihnen nicht weiterhalf. Das war der Weg der Dinge seit 2012. Und seither steht das Dogma: Was für die Landesverbände gelten mag, könne keinesfalls für die Bundespartei gelten.
Die Fragen der Strategie
Richtig ist, dass es in der LINKEN offene strategische Fragen gibt, die zwar auf allen Ebenen eine Rolle spielen, letztlich aber nur bundespolitisch beantwortet werden können. Das betrifft für die Linke so vitale Fragen wie die soziale Zielgruppe, das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, und die polit-ökonomische Strategie.
Die Partei hat seit ihrer Gründung mit einem vagen Kompromiss gelebt zwischen dem Bezug auf die sozialistische Traditionslinie der Arbeiterbewegung und dem Bezug auf alle anderen Emanzipations- und Gerechtigkeitsfragen: Geschlecht, Ethnizität, internationale Gerechtigkeit. Das schlägt sich nieder in der primären Orientierung auf die untere Einkommenshälfte der Bevölkerung, einem weichen Klassenbegriff (der weniger nach der Stellung im Produktionsprozess fragt als nach Einkommen und Vermögen) und einem schwachen Hauptwiderspruch (der in den konkreten Fragen zwar nicht die Klassenlage für das Bestimmende hält, aber die Einkommenslage). Damit ist die Partei lange Zeit ganz gut gefahren. Sie war dadurch anschlussfähig zur bürgerlichen Sozialfürsorge („Armutsbekämpfung“), zur liberalen Diversität („Antidiskriminierung“), zu internationalen zivilgesellschaftlichen Bewegungen („Menschenrechte“) und zur Entspannungspolitik („Friedenspolitik“). Das beinhaltete Unschärfen und Blindstellen, die deutlich wurden beim Elterngeld, bei Lohnkämpfen Höherqualifizierter, Spartengewerkschaften, Auslandseinsätzen mit UN-Mandat usw. Es führte zu einer Reduzierung von Wirtschaftspolitik auf Finanzpolitik, von Friedenspolitik auf sich Raushalten, von sozialer Frage auf Lohnkämpfe und staatliche Umverteilung, von Antikapitalismus auf Anti-Neoliberalismus. Trotzdem ließ sich damit politisch leben.
Dieser selbstgewählte Sicherheitskorridor wurde aber durch die äußeren Entwicklungen zunehmend gesprengt. Er funktioniert dann nicht mehr, wenn die Interessen von sozialen Gruppen und Bewegungen, denen man sich verpflichtet sieht, systematisch in Konflikt geraten; wenn Industriepolitik, transnationale Sicherheitspolitik und die genaue Bedeutung der sozialen Frage plötzlich im Zentrum von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stehen; wenn der allmähliche Abschied vom Neoliberalismus nicht mehr die Kritik daran, sondern den Weg in ein neues Regulationsmodell in den Vordergrund rückt.
Das Scheitern an Gerechtigkeitsfragen
Alle Ereignisse, mit denen die LINKE in der Folge größte Schwierigkeiten hatte, waren typischerweise davon geprägt, dass sie sich nicht auf das Schema „Arm gegen Reich“ abbilden lassen: Der Anstieg der Zuwanderung nach der temporären Grenzöffnung (2015/16); die durch IPCC und Fridays for Future auf die politische Agenda gesetzte beschleunigte Klima-Transformation (2018/19); die Corona-Pandemie (2020/21); der russische Angriffskrieg auf die Ukraine (2022/23). Alle diese Ereignisse forderten eine Politik der Abwägung und des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen auch innerhalb der unteren Einkommenshälfte, insbesondere wenn die soziale Frage sowohl national als auch international gedacht wird. Sie eigneten sich nicht für eine zugespitzte „Wir gegen die“-Mobilisierung und nicht für radikale Vereinfachung, sondern benötigten eine sehr informierte Politik und tatsächlich eine „verbindende Klassenpolitik“, die Widersprüche zulässt und nicht nur moralisch argumentiert, sondern sich auch mit den jeweiligen Interessen differenziert auseinandersetzt.
An dieser Anforderung ist die LINKE auf Bundesebene kontinuierlich gescheitert, während sie sich ihr auf Länderebene gestellt hat. Der Wunsch nach moralischer Eindeutigkeit blockierte immer wieder die notwendigen Diskussionen und Positionsfindungen auf Bundesebene. Die potenzielle Stärke der LINKEN: Handlungsnotwendigkeiten aufzugreifen und dabei die soziale Frage konsequent in den Mittelpunkt zu stellen sowie in der Interventionsbereitschaft über die Grenzen des Mainstreams hinauszugehen, konnte so nicht zum Tragen kommen.
Hierbei rächte sich eine erstaunliche Schwäche der LINKEN. Obwohl die Partei eindeutig die soziale Gerechtigkeit als Markenkern hat, führt sie keinen Gerechtigkeitsdiskurs und nimmt an entsprechenden gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatten nicht teil.[7] Das gilt nicht nur für die klassischen Spannungen des Themas (Gerechtigkeit versus Gleichheit, Einkommen versus Lebenschancen, Verhältnis verschiedener Formen von individuellem und kollektivem Kapital zueinander), sondern sehr konkret für die „großen“ Themen der letzten Jahre. Hier waren Antworten gefragt auf die Widersprüche zwischen gesundheitlichen, ökonomischen, sozialen und politischen Interessen innerhalb der Klasse (Corona); auf die Widersprüche zwischen nationalen Arbeiterklassen (Ukraine-Krieg); oder zwischen kurz- und langfristigen sozio-ökonomischen Interessen (Klima-Transformation, Migration).
An diesen Punkten blockierte sich die Partei auf Bundesebene zuverlässig, weil unterschiedliche Strömungen eine moralische Eindeutigkeit suchten, die nur um den Preis zu haben war, bestimmte soziale Interessen und soziale Gruppen schlicht auszublenden. Damit verletzte die LINKE nicht nur den Anspruch auf Solidarität zugunsten eines Auswahlmechanismus, sondern neigte auch zu einer Über-Ideologisierung von Auseinandersetzungen. Beides führt nicht dazu, sich als verlässliche und orientierende Kraft in der Krise zu bewähren – was auf Länderebene gelang, nicht aber auf Bundesebene.
Der Rahmen: Krise der Sozialdemokratie
Die Kritik der sozialdemokratischen Strategie ist ein notwendiger Bestandteil jeder linkssozialistischen Politik. Diese kann nicht abstrakt erfolgen, sondern muss die jeweiligen polit-ökonomischen Rahmenbedingungen reflektieren. Es war daher erwartbar, dass die internationale Krise der Sozialdemokratie[8] auch zu einer Debatte um linkssozialistische Strategien auf der Höhe der Zeit führt. In der Tat lassen sich die Auseinandersetzungen in der LINKEN bestimmten möglichen Strategieantworten zuordnen. Die Debatte ist allerdings bislang stark blockiert.
Erik Olin Wright gibt eine stark vereinfachte, aber gerade darum sehr brauchbare Darstellung zur Krise der sozialdemokratischen Strategie vor dem Hintergrund der Theorie des „positiven Klassenkompromiss“.[9] Dieser bestimmte die „Golden Era“ der Sozialdemokratie vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Einerseits stehen soziale Sicherheit, staatliche Umverteilung und ökonomische Regulierung im Gegensatz zur Profitmaximierung. Dies ist aber keine lineare Funktion, da das Funktionieren der kapitalistischen Ökonomie bis zu einem gewissen Grad von genau diesen Einschränkungen der Kapitalfreiheit profitiert. In einer historischen Phase, wo ein brachialer Manchester-Kapitalismus gesellschaftlich nicht mehr durchsetzbar ist, gibt es einen Grad von Regulierung, bei dem sowohl breite soziale Interessen als auch Profite besser bedient werden als mit weniger gesellschaftlicher Regulierung. Diese Zone nennt Wright das „sozialdemokratische Optimum“[10]. Weniger Regulierung würde die Profite des Kapitals schwächen, mehr Regulierung würde seine gesellschaftliche Dominanz gefährden und in eine Zone verschärfter Auseinandersetzungen und mehr Instabilität führen. Diese relative, aber objektive Interessenannäherung (die von politischer Macht abgesichert werden muss), ist die Grundlage für eine hegemoniale Stellung sozialdemokratischer Parteien in westlichen Industriestaaten während der „Golden Era“.
Diese objektive Grundlage erodiert ab den 1990er Jahren, weil kapitalistische Profite sich zunehmend in einer globalisierten Ökonomie realisieren, in der – im Unterschied zu früher – globale Produktionsketten organisierbar sind, die faktisch global zerlegte Fabriken sind. Die globale Neuordnung der Produktion, technisch ermöglicht durch die Informations- und Kommunikationstechnologien und sozial ermöglicht durch die Entwicklung der Schwellenländer, wird über den Druck der Finanzmärkte organisiert. Gleichzeitig verlagern sich mehr Prozesse der Steuerung und Entwicklung ins Innere von transnationalen Konzernen. Das verändert die Ausgangslage und schwächt die Kräfteverhältnisse: Das Kapital braucht weniger Regulierungsfunktion vom Staat, und die Arbeiterklasse steht nicht mehr nur in individueller Konkurrenz, die sich durch Organisierung beantworten lässt, sondern zunehmend in der Konkurrenz verschiedener nationaler Arbeiterklassen, worauf es bislang wenig Antwort gibt. Dadurch verschwindet das „sozialdemokratische Optimum“, und die politische Lage ist gekennzeichnet von Defensivkämpfen und zunehmender Deregulierung und Entsicherung. Dass zur eigentlich erforderlichen Regulierung inzwischen auch die ökologische Regulierung gehört, ändert an dieser Situation erstmal nichts.
Die linkssozialistische Kritik an der sozialdemokratischen Strategie in der „Golden Era“ hatte immer mehrere Dimensionen: Dass die Sozialdemokratie das „sozialdemokratische Optimum“ gar nicht realisiert, weil sie zu viel Rücksicht auf die Bedürfnisse des Kapitals nimmt; dass die Sozialdemokratie das „Optimum“ nicht weiter verschiebt, indem sie Elemente eines negativen Klassenkompromisses[11] hinzunimmt durch Mobilisierung und soziale Kämpfe; dass die Sozialdemokratie davor zurückschickt, eine Perspektive aufzunehmen, bei der diese Auseinandersetzungen bis zu einem Punkt geführt werden, an dem die gesellschaftliche Dominanz der Kapitalseite tatsächlich überwunden wird. Da Parteien nicht trennscharf sind und es auch in der Sozialdemokratie unterschiedliche Tendenzen gibt, war dies die Grundlage sowohl für Konflikt als auch für Kooperation. Alle diese Formen der Kritik, wenn sie mehr sein wollten als moralische Anklage, waren aber daran gebunden, dass es den positiven Klassenkompromiss der „Golden Era“ als Ausgangspunkt gab.
Suchbewegung 1: Die linkskonservative Antwort
Daher müssen die strategischen Antworten sich ändern. Wright selbst beschreibt zwei strategische Möglichkeiten.[12] Die erste liegt darin, die Bedingungen für den positiven Klassenkompromiss wieder herzustellen, indem die Tendenzen von De-Globalisierung positiv aufgegriffen und politisch verstärkt werden. Die Kompetenzen des Nationalstaats sollen wieder gestärkt werden, die Mobilität von Kapital und Arbeit eingeschränkt, die Finanzialisierung des Kapitalismus und der Einfluss der Kapitalmärkte begrenzt werden, so dass – soweit die Hoffnung – das nationale Kapital wieder zu positiven Klassenkompromissen gezwungen ist, weil es keinen ökonomischen Ausweg hat.
Diese politische Tendenz lässt sich mit einer gewissen Berechtigung als „linkskonservativ“ bezeichnen, weil sie die globale Veränderung der Produktionsverhältnisse wieder zurückdrängen will und weil sie zu einer gewissen nostalgischen Verklärung der Verhältnisse in der „Golden Era“ neigt. Über ihr schwebt die Frage, ob eine solche Strategie der Re-Nationalisierung ernsthaft möglich ist; wie sie auf transnationale Kapitalverhältnisse und globale Wettbewerbsverhältnisse Einfluss nehmen will; und ob sie gesellschaftlich überhaupt wünschenswert ist. Immerhin hat die Globalisierung auch eine Vielzahl von Borniertheiten und Diskriminierungen in Bewegung gebracht, und eine verstärkte Abschottung liegt weder im Interesse relevanter Teile der qualifizierten Arbeiterklasse noch im Interesse der Mittelklassen im Globalen Süden.
Die Stärke dieser Antwort liegt darin, dass sie sowohl an der Basis der Partei als auch in selbst benachteiligten Wähler*innen-Schichten leicht zu vermitteln ist; und dass sie nahe am Markenkern der Partei liegt. Ihre Schwäche liegt darin, dass sie materiell letztlich nicht liefern kann, weil sie keine gesellschaftlichen Mehrheiten für linke Politik zusammenbringt, die real etwas umsetzen könnten.[13]
Suchbewegung 2: Die bewegungslinke Antwort
Die zweite strategische Antwort, die Wright beschreibt, orientiert nicht auf die unmittelbare Wiederherstellung der Bedingungen des klassischen Klassenkompromisses. Sie will stattdessen die Wirkung der globalen kapitalistischen Verhältnisse abschwächen, indem sie alternative Formen der sozialen und ökonomischen Vergesellschaftung stärkt, die innerhalb des Kapitalismus existieren, aber teilweise nach anderen Regeln funktionieren. Hier geht es z.B. um den Aufbau von Genossenschaften, belegschaftsgeführten Betrieben, solidarischen Finanzierungsmodellen und das ganze Feld von solidarischer Ökonomie bis hin zur Social Entrepreneurship und transnationalen migrantischen Netzwerken. Der staatlich organisierte Wohlfahrtsstaat soll ergänzt werden durch Formen der Selbstorganisation; er wird auch tendenziell kritischer gesehen hinsichtlich seiner normierenden, bevormundenden und entfremdenden Eigenschaften.
Während die linkskonservative Strategie zwingend auf die Perspektive setzen muss, dass Regierungen links der Mitte institutionelle Reformen durchsetzen, hat die Strategie alternativer Vergesellschaftung zwar auch Forderungen an den Staat, hält aber mehr Distanz zu den Fragen der Regierungsbeteiligung. Sie hält die Möglichkeiten, innerhalb der aktuellen Situation Gegenmacht zu organisieren, für bei weitem nicht ausgeschöpft und interessiert sich daher für alle Formen des Organizing, der milieuorientierten Aufklärung und Organisierung, auch für das Nutzen von juristischen Spielräumen, wenn diese durch Kampagnen eingefordert werden.
zweite mögliche Antwort mit aller nötigen Unschärfe als „bewegungslinke“ Strategie bezeichnen. Ihre Stärke liegt darin, dass sie für transnationale Politikformen offen ist und dass sie nicht darauf angewiesen ist, alle Errungenschaften der Globalisierung zurückweisen zu müssen. Die Frage, der sie sich stellen muss, ist vor allem, ob eine solche Strategie stark genug ist, die Wucht transnationaler Kapitalverhältnisse und globaler Wettbewerbsverhältnisse hinreichend abzumildern, und ob sie denen wirklich eine Antwort bietet, denen die Kraft und das soziale, kulturelle und finanzielle Kapital zur Selbstorganisation weitgehend fehlen.
Suchbewegung 3: Die transformatorische Antwort
Eine dritte strategische Antwort von links auf die Krise der Sozialdemokratie ist die transformatorische Strategie. Sie ist nicht bei Wright beschrieben, aber sie hat in den letzten Jahren innerhalb der Linken deutlich an Raum gewonnen. Ihr Ausgangspunkt ist das Ende des Neoliberalismus und die Einschätzung, dass sich der globale Kapitalismus im Übergang zu einem neuen Akkumulationsregime befindet, das das bisherige Regime – den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus – ablöst, weil dessen Dynamik sich erschöpft hat.
Das neue Akkumulationsregime hat bislang keinen Namen, und es hat sich auch noch nicht durchgesetzt; man kann es provisorisch als „innovationsgetriebenen Kapitalismus“ bezeichnen.[14] Seine Eigenschaften werden in einem breiten wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Mainstream relativ übereinstimmend beschrieben, der von klassischen Denkfabriken des globalen Kapitalismus (wie dem Weltwirtschaftsforum) über die EU-Kommission bis zu linken Wirtschaftstheoretikerinnen wie Mariana Mazzucato reicht: Rückkehr des Staates; aktive staatliche Wirtschaftspolitik; Bildung von Clustern und Kooperationen aus Staat und Konzernen zur Förderung von Innovation; Konzentration von Wertschöpfung auf die Umsetzung disruptiver Innovationen; staatliche Investitionen in weiche Standortfaktoren wie Bildung, Infrastruktur, Fachkräfte, „Innovationslandschaften“; Finanzierung über höhere Steuern und ein gelockertes Schuldenregime; klare staatliche Rahmen- und Zielsetzungen bei der ökologischen und klimapolitischen Transformation, als Voraussetzung für private Investitionen; hohe Standards von Durchlässigkeit und Antidiskriminierung innerhalb eines globalisierten Sektors, der quer zu Staatsgrenzen verläuft; ungeklärtes, spannungsreiches Verhältnis zwischen dem globalisierten Sektor und dem „Rest“, der in den meisten Ländern die Mehrheit des Territoriums und der Bevölkerung umfasst.
Aus der Notwendigkeit, den Übergang zu managen, entsteht der Raum für neue Klassenkompromisse. Sie funktionieren allerdings anders. In der Notwendigkeit des Übergangs schneiden sich objektive Kapitalinteressen und objektive Interessen der breiten sozialen Mehrheit. Aber dabei handelt es sich nicht um eine stabile Zone der „Optimierung“, im Sinne der sozialdemokratischen Komfortzone der „Golden Era“, sondern um eine dynamische Situation, die so oder so ausgestaltet werden kann. Diejenige Kraft, die einen historischen Block formen kann, der die notwendige gesellschaftliche Veränderung bewerkstelligt, kann diese Veränderung auch in ihrem Sinne formen. Sie hat die Möglichkeit, der Transformation die sozialen Interessen und institutionellen Ordnungsvorstellungen einzuschreiben, für die sie eintritt. Wenn linke Parteien den Übergang zum neuen Akkumulationsmodell durchsetzen, wofür sie strukturell besser geeignet sind als das bürgerliche Parteienlager[15], können sie dabei auch eigene Forderungen realisieren. Sie können sozusagen einen Preis formulieren, unter dem die Transformation nicht zu haben ist.
Darin liegt auch die Herausforderung, nämlich entsprechende Forderungen und Reformvorstellungen zu entwickeln, die über den Mainstream dessen hinausgehen, was sowieso gemacht werden muss, die aber auch machbar sind. Das bedeutet, linke Handschrift auf der Höhe der Zeit zu zeigen. Hier liegt ein dringender Diskussions- und Entwicklungsbedarf, der aus den linken Erfahrungen auf Regional- und Landesebene inspiriert sein kann, aber eigenständige Ziele und Forderungen auf nationaler und europäischer Ebene produzieren muss.[16]
Die zweite Herausforderung ist, das ungeklärte Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zu politisieren, das die aktuelle Stufe der Globalisierung bestimmt. Es tritt in allen sozialen Verhältnissen und auf allen Ebenen auf, von der räumlichen Struktur der Weltökonomie bis zu städtischen Sozialräumen, von Stadt-Land-Verhältnissen bis zur Stratifikation kultureller oder wissenschaftlicher Produktion. Es ist eine fraktale Struktur, bei der wir alle auf beiden Seiten teilhaben, je nachdem worum es gerade geht oder was der Vergleichsmaßstab ist, die aber in der Summe enorme neue Ungleichheiten produziert. Darauf gibt es bislang zu wenige politische Antworten. Gerade hier muss sich aber der linke Anspruch auf soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt beweisen.
Antworten ohne Strategie
Alle drei strategischen Ansätze sind legitime Beiträge zur Entwicklung der Linken und haben innerhalb der Linkspartei ihre Berechtigung.[17] Obwohl sie im Einzelnen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, stehen sie sich nicht diametral und unversöhnbar gegenüber. Es lässt sich zeigen, dass dort, wo die LINKE erfolgreich operiert, Elemente aller drei Strategien verwendet werden, wenn auch bei einer tendenziellen Dominanz des transformatorischen Ansatzes.[18] Jedenfalls muss zwischen diesen Ansätzen die strategische Debatte geführt und weiterentwickelt werden.[19]
Davon zu trennen sind die medial im Vordergrund stehenden Versuche einiger weniger Bundestagsabgeordneter, eine post-politische Partei zu gründen, die keine strategischen Antworten gibt, sondern sich ausschließlich aus der Aufmerksamkeitsökonomie speist. Aus der Gruppierung um Sahra Wagenknecht gibt es seit Jahren keine ernsthaften Vorschläge, wie die soziale Lage der unteren Einkommenshälfte verbessert werden soll. Alle Äußerungen dieser Gruppe befassen sich typischerweise extrem polarisierend mit den genannten vier Themen, die sich gerade nicht entlang der Arm-Reich-Achse auflösen lassen (Zuwanderung, Corona-Pandemie, Klima-Transformation, Ukraine-Krieg), und konzentrieren sich auf die Konstruktion von sozialen Feindbildern („Fremdarbeiter“, Corona-Diktatur, Lifestyle-Linke, „Kriegshetzer“). Die soziale Frage spielt in dieser Gruppe faktisch keine Rolle mehr und kann es auch nicht, weil das die gewünschte Kulturalisierung von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stören würde.[20] Da der Motor nicht soziale Forderungen sind, sondern das Schüren von Ressentiments, kann auch eine etwaige Konkurrenzgründung auf dieser Grundlage nur ein Beitrag zur Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach rechts sein.[21]
Dieser Ansatz ist nicht innerhalb der gesellschaftlichen Linken oder der LINKEN als Partei integrierbar. Er ist in überhaupt keiner „normalen“ Partei integrierbar, weil er innerparteiliche Diskussion ausschließt, demokratische Mehrheitsbildung nicht anerkennt und keinen positiven Beitrag zur Veränderung der Lage von irgendeiner Zielgruppe leistet. Es ist daher ein gemeinsames Element erfolgreicher linker Landes- und Kreisverbände, dass dieser Ansatz so weit wie möglich zurückgedrängt wird und in dem, was man von der Partei nach außen wahrnehmen kann, keine Rolle spielt. Es ist auch wenig überraschend, dass sich die LINKE gesellschaftlich schlecht verankern lässt, wenn aus ihr gleichzeitig verlautbart wird, dass diese Partei seit Jahren kaputt, nicht mehr zu retten und ein permanenter Verrat an den sozialen Interessen der Arbeiterschaft sei, oder wenn soziale Politik durch Beschimpfung von Zielgruppen ersetzt wird.
Keine Wunder, sondern Best Practice
Eigentlich ist alles längst entschieden. Darüber, dass die LINKE nur entlang ihres Markenkerns gewinnen kann und muss, besteht in der Partei breite Einigkeit. Sören Pellmann antwortet auf die Frage, ob er Wähler*innen im Wahlkreis eher mit Klimaschutz-Argumenten überzeugen könne oder mit Forderungen nach Migrations-Begrenzung und Aufhebung der Russland-Sanktionen: „Weder noch. [Auf dem ersten Platz] steht die Bezahlbarkeit von alltäglichen Dingen des Lebens: Lebensmittel, Energie, Strom, Benzin (…) die Bezahlbarkeit von Wohnungen (…) Das sind die dringenden Themen. Wenn wir dazu noch die soziale und die Gesundheitsfrage als Linke mit einer Stimme bearbeiten und versuchen zu beantworten, wären wir schon ein gutes Stück weiter.“[22] Martin Schirdewan antwortet auf die Frage nach den Ursachen des Bremer Wahlerfolges der LINKEN: „Der Landesverband hat dort eine hervorragende Politik in schwierigen Zeiten gemacht. Die beiden Linken-Senatorinnen, Claudia Bernhard und Kristina Vogt, haben in der Corona-Pandemie und in der Energiekrise immer die sozialen Belange der Bevölkerung im Auge gehabt. Von schnellen Impfkampagnen bis Härtefall-Fonds – eine kluge und pragmatische Politik, die gleichzeitig auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt hat.“[23] Die Versuche des Parteivorstands, mit sozialen Forderungen und Initiativen durchzudringen, sind richtig und dringen medial auch immer wieder durch.
Diskussionen zwischen den beschriebenen strategischen Tendenzen sind notwendig, wie sie in den Ländern längst stattfinden (und auf Bundesebene in geeigneter Form organisiert werden sollten). Das ist teilweise schmerzhaft und geht nicht ohne Kompromisse, mit denen alle unglücklich sind, aber es macht die Partei handlungsfähig. Durch einseitig-populistische Antworten auf Herausforderungen wie Migration, Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krise lässt sich dagegen kein linkes Profil gewinnen. Auch das ist inzwischen geklärt, und die LINKE hat sich auf Bundesparteitagen und in den Ländern letztlich diese Position zu eigen gemacht. Es dient nicht den Interessen der Arbeiterklasse, Pandemien zu leugnen, die technologische Modernisierung der Autoindustrie zu verschlafen, sich in vertiefte Abhängigkeit von Russland zu begeben, und den Wirtschaftsstandort wahlweise durch mangelnde Zuwanderung, bornierten Nationalchauvinismus oder Verteufelung von Diversität zu ruinieren. Darüber muss in der Partei nicht mehr ernsthaft diskutiert werden.
Das Problem bleibt die Bundestagsfraktion, deren Bekenntnis zur Partei in Teilen offen in Frage steht. Im Rahmen der Aufmerksamkeitshierarchie wird aber der Gesamtzustand einer Partei, sofern sie keine Bundesminister*innen aufweist, zuerst an der Bundestagsfraktion abgelesen – nicht an Landesverbänden, Landesminister*innen oder dem Parteivorstand. Ob sich verhindern lässt, dass es durch Austritte zum Absinken auf den Status einer Gruppe im Bundestag kommt, ist fraglich, aber letztlich auch egal. Entscheidend ist, ob Fraktion oder Gruppe, und vor allem der Fraktionsvorstand, zur Partei stehen, sich in deren Entwicklung konstruktiv einbringen und den Kurs der Toleranz gegenüber gewollter Parteischädigung aus den Reihen der Fraktion aufgeben. Die LINKE wird auch eine Konkurrenzgründung, die sich bereits jetzt entzaubert hat, überstehen (wenn sie denn kommt). Was den Wiedereinzug 2025 gefährdet, ist einzig und allein das Szenario einer lang hingezogenen Situation, in der die Loyalität der eigenen Fraktion oder Gruppe zur Partei (zum Parteivorstand, zu allen Landtagsfraktionen, zu allen regierenden Landesverbänden und sämtlichen erfolgreichen Landes- und Kreisverbänden) beständig in Frage steht.
Es gibt viele Hausaufgaben zu machen. Was sich aus den erfolgreichen Beispielen auf Länder- und Regionalebene lernen lässt, ist, dass das kein Schaden ist – solange man den Laden zusammenhält, sich eng abspricht und ernsthaft und ohne Denkverbote an den offenen Fragen arbeitet. Dafür wird es allerdings Zeit, die erfolgreichen Beispiele nicht länger als eine lange Reihe von Sondersituationen darzustellen, sondern als „Best Practice“ und als ambitionierte Kombination moderner strategischer Antworten ernst zu nehmen. Was in Bremen, Berlin oder Rostock passiert, sind keine Wunder. Es ist einfach das, was eine linke Partei machen muss, die sich auf die Wirklichkeit einlässt.
[1] Beim Abbruch der Jamaika-Verhandlungen 2017. Wortlaut seiner Erklärung hier: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-11/christian-lindner-sondierung-jamaika-abbruch-fdp?utm_referrer=https://www.google.de/
[2] Mario Candeias: Wir leben in keiner offenen Situation mehr, Luxemburg, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-leben-in-keiner-offenen-situation-mehr/
[3] Christoph Spehr: Bewegung, Strömung, Partei. Formen des Politischen heute, in: Michael Brie und Cornelia Hildebrandt (Hrsg.): Für ein anderes Europa. Linksparteien im Aufbruch, Berlin 2005. Leicht gekürzte Version hier: https://www.rosalux.de/publikation/id/1949/bewegung-stroemung-partei-annaeherungen-an-eine-theorie-der-formen-des-politischen-schlussfolgerungen-fuer-linke-perspektiven-heute
[4] Christoph Spehr: Wann kann man sagen …, Luxemburg September 2011, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wann-kann-man-sagen/
[5] Stefan Reinecke: „In der Fraktion herrscht Hass“. Gysi- und Lafontaine-Reden beim Parteitag, taz 2.06.2012, https://taz.de/Gysi--und-Lafontaine-Reden-beim-Parteitag/!5092488/
[6] Interessanterweise ist das Abstimmungsverhalten der Linksfraktion im Bundestag immer auffalle nd geschlossen. Siehe dazu für die Wahlperiode 2017-2021: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-diese-abgeordneten-stimmen-oft-gegen-die-eigene-fraktion-a-1279893.html; für die Wahlperiode 2013-2017: https://www.welt.de/politik/deutschland/article151296429/Abnicker-oder-Rebell-Wer-ist-was-im-Bundestag.html; für namentliche Abstimmungen der laufenden Wahlperiode: https://www.bundestag.de/abstimmung. Zelebriert wird nicht das Recht auf abweichende Abstimmung, sondern auf abweichende öffentliche Äußerung, seit 2021 insbesondere das vermeintliche Recht auf Beschimpfung der eigenen Partei.
[7] Zu nennen wären z.B. die gesamte Debatte um das Verhältnis von Anerkennung und Umverteilung (s. Nancy Fraser und Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung, Frankfurt/M. 2003) oder die Debatte um einen post-nationalen Gerechtigkeitsbegriff (s. Anja Weiß, Soziologie globaler Ungleichheiten, Frankfurt/M. 2017); die gesamte Diskussion um die Bedeutung unterschiedlicher Kapitalformen im Anschluss an Bourdieu, oder den wieder stark aktuell gewordenen Ansatz von Rawls; die für die Linke besonders relevanten Fragen zum Verhältnis von Klasse, sozialer Schichtung und Mobilität. Es gibt nicht einmal eine Position dazu, warum der Gerechtigkeitsbegriff der Occupy-Bewegung („Wir sind die 99%“) nicht funktioniert.
[8] Die Krise der Sozialdemokratie meint einerseits die Schwierigkeit sozialdemokratischer Parteien, im politischen Feld links der Mitte die führende Kraft zu bleiben; andererseits die Schwierigkeiten dieses gesamten Feldes, eigene politische Mehrheiten zu bilden; drittens das Verschwinden „sozialdemokratischer“ Elemente aus der Politik des bürgerlichen Parteienspektrums. In Summe ist das der Verlust der hegemonialen Stellung der sozialdemokratischen Strategie. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Erklärungen. Einen guten Überblick gibt Frank Bandau: Was erklärt die Krise der Sozialdemokratie? Ein Literaturüberblick, Politische Vierteljahreszeitschrift, Vol. 60, Nr. 3, September 2019; der Artikel behandelt auch die Frage, welche dieser Erklärungen sich bislang wissenschaftlich stützen lassen. Eine englische Fassung ist online zugänglich hier: Frank Bandau: What Explains the Electoral Crisis of Social Democracy? A Systematic Review of the Literature, Government and Opposition, Band 58, 1/2023, https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridge-core/content/view/88538417C2898B69CF2F79D35B1DA855/S0017257X22000100a.pdf/what_explains_the_electoral_crisis_of_social_democracy_a_systematic_review_of_the_literature.pdf. Im Kontext der linkssozialistischen Kritik sind die „materialistischen“ Erklärungsansätze natürlich die interessantesten.
[9] Erik Olin Wright: Understanding Class, New York und London, 2015. Eine leicht gekürzte Version des hier angesprochenen Schlusskapitels ist online verfügbar: Class Struggle and Class Compromise in the Era of Stagnation and Crisis, 2011, https://www.versobooks.com/en-gb/blogs/news/4431-class-struggle-and-class-compromise-in-the-era-of-stagnation-and-crisis
[10] Wright, Understanding Class, a.a.O.
[11] „Negative Klassenkompromisse“, so Wright, enthalten keinen Anteil von Win-Win-Situationen, sondern spiegeln einfach gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in der Auseinandersetzung wider.
[12] Jöran Klatt hat darauf hingewiesen, dass die Spannungen zwischen diesen beiden Antworten sich nicht nur in der LINKEN finden lassen, sondern genauso bei SPD und Grünen. Jöran Klatt: In Konflikten vereint. Eine populäre Ausrichtung als Grundlage für Rot-Rot-Grün, in: PerspektivenDS. Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik, Jg. 38, Heft 1, 2021, S. 39 ff.
[13] Linke gesellschaftliche Mehrheiten sind ohne Bündnisse mit fortschrittlichen, veränderungsbereiten Teilen der Mittelschicht nicht möglich. Mehrheitsfähige Bündnisse von „Modernisierungsverlieren“, da sie nur unter Einschluss reaktionärer Kapitalfraktionen und von sozialen Gruppen, die hierarchische soziale Privilegien verteidigen, möglich sind, können dagegen nicht links sein.
[14] In einer Welt mit sich angleichenden Produktionsbedingungen (was das Ergebnis der Enträumlichung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der nachholenden Entwicklung in den ehemaligen Schwellenländern ist) kommt es zunächst zu einer räumlichen Neuordnung der globalen Produktion – das ist das Wesen der Ära des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Wenn diese räumliche Neuordnung abgeschlossen ist, erschöpft sich die Dynamik dieser Phase. Damit tritt eine Situation ein, wo „normale“ Profite durch einen starken Wettbewerbsmarkt begrenzt sind, das alte Problem der fallenden Profitrate. Maßgeblich für die globale Konkurrenz von Regionen und Standorten wird dann die Fähigkeit zur Innovation. Überdurchschnittliche Wohlstandsniveaus lassen sich nur halten oder erreichen, wenn Regionen oder Standorte etwas produzieren können, was so schnell niemand anders produzieren kann. Das Problem der Innovationskonkurrenz stellt sich nicht nur für die alten Industriestaaten, sondern auch für neu entwickelte Industriestaaten wie China, die auf hohe Wachstumsraten angewiesen sind, die sie auf „normalem“ Wege immer weniger halten können. Die Alternative sind Strategien, die den globalen Markt begrenzen, was sich gegen die Produktivkraftentwicklung richtet und daher erfahrungsgemäß auf Dauer nicht haltbar ist; oder Strategien der Inwertsetzung von Rohstoffen, was erfahrungsgemäß für eine integrierte Entwicklung nicht ausreichend ist.
[15] Eine starke Rolle des Staates auch in der Ökonomie, eine „missionsorientierte“ Politik mit politisch gesetzten Investitionszielen, die Fähigkeit Veränderungen auch gegen Trägheit und Unmittelbarkeitsinteressen der Kapitalseite durchzusetzen, ein Sich-Kümmern um „weiche“ Standortfaktoren: All das fällt linken Parteien qua DNA spontan leichter als bürgerlichen Parteien. Umgekehrt ist es für bürgerlich-konservative Parteien in dieser Phase zwar leicht, Unzufriedenheit und Ängste zu mobilisieren, aber schwer, handlungsfähige Regierungsmehrheiten zu bilden.
[16] Beispielsweise sind die bisherigen Instrumente nicht ausreichend, um die zunehmende Abkoppelung der unteren Einkommenshälfte bei der Verteilung des gesellschaftlichen Einkommens zu bekämpfen. Gleichzeitig gibt es angesichts der hohen Mobilität von Kapital und Arbeit objektive Grenzen der Umverteilung durch Lohnabschlüsse oder das Steuersystem. Innovative Ansätze können sich z.B. auf die Umverteilung des Dividendeneinkommens wenig innovativer Wirtschaftsbereiche richten, etwa durch die Verstaatlichung von großen Wohnungskonzernen nach dem Berliner Modell (Umverteilung durch Kostensenkung), oder über ein partielles Grundeinkommen aus großen Staatsfonds (nach dem Vorbild von Norwegen oder Alaska).
[17] Das sieht man auch daran, dass die logischen Gegenpositionen zu den drei Ansätzen: Akzelerationalismus, Technokratie und Maschinenstürmerei, in einer linken Partei keine Berechtigung haben können.
[18] In Bremen sind z.B. Rekommunalisierung oder Tarifbindung klassisch linkskonservative Elemente, die verbesserte Unterstützung von Selbsthilfeprojekten oder das Eintreten für eine nicht-repressive Geflüchteten-Politik eher bewegungslinke Elemente. Die öffentliche Erzählung wiederum ist dominiert von der Formel „Modernisierung und soziale Gerechtigkeit“, also einer transformatorischen Botschaft, während Reformprojekte wie der Ausbildungsfonds oder die quartiersnahen Infokampagne Zugänge für alle drei Strategien bieten. Dieses Muster findet sich auch in der Politik von Landesverbänden wie Berlin oder Thüringen, oder dort wo Bürgermeisterwahlen gewonnen werden.
[19] Das gilt auch für die Debatte um eine aktualisierte und erneuerte demokratisch-sozialistische Perspektive für die Überwindung der Kapitaldominanz, einschließlich der kritischen Aufarbeitung gescheiterter oder abzulehnender Versuche. Ohne eine moderne und attraktive Vorstellung, womit man über den Kapitalismus historisch hinausgehen kann, kann eine linkssozialistische Partei auf Dauer nicht auskommen.
[20] Tatsache ist, „dass die Arbeiterklasse heute eine soziodemografisch vielfältige Gruppe ist und ein breites Meinungsspektrum vertritt, das sich nicht auf autoritäre und nativistische Einstellungen beschränken lässt“ (Tarik Abou-Chadi, Reto Mitteregger, Cas Mudde: Verlassen von der Arbeiterklasse? Die elektorale Krise der Sozialdemokratie und der Aufstieg der radikalen Rechten, Berlin 2021, http://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/18075.pdf). Kritik an einer idealtypisch vorgeführten Lifestyle-Linken ist okay für einen polemischen Essay. Als strategische Grundlage einer linken Partei ist sie gegenstandslos und inakzeptabel, denn sie beinhaltet eine klassistische Abwertung der Arbeiterklasse als egoistisch, lernunfähig, monolithisch und unfähig, über rebellisch-autoritäre Haltungen hinauszukommen.
[21] Man kann Jan Feddersen nur frontal widersprechen, der sich von einer Liste Wagenknecht endlich ein probates Heilmittel gegen die AfD verspricht (Jan Feddersen: Gründet euch endlich!, taz 15.08.2023, https://taz.de/Plaene-fuer-neue-Partei-von-Wagenknecht/!5949949/). Das Beispiel der Bremer Wahlen zeigt eindringlich, dass ein Wechsel der AfD-Stimmen auf eine andere Partei an sich kein Gewinn ist, wenn es an den politischen Kräfteverhältnissen nichts ändert. Dass sie nicht in derselben Weise „naziatmosphärisch“ (Feddersen) auftritt wie die AfD, lässt sich auch von der BIW sagen, ist aber kein Beitrag zur Überwindung des radikalen Rechtspopulismus. Die politischen Kräfte im Feld Mitte bis Links werden die Aufgabe, der AfD Einfluss und Resonanz zu nehmen, nicht bequem an Wagenknecht oder ähnliche Projekte delegieren können, die den Rechtspopulismus einfach nachahmen.
[22] "Müssen Angebot für Plattenbau, Altbau und ländlichen Raum machen". Interview mit Sören Pellmann, 11.08.2023, https://web.de/magazine/politik/linken-mdb-pellmann-angebot-plattenbau-altbau-laendlichen-raum-38514994
[23] "Ungleichheit in Deutschland so groß wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten". Interview mit Martin Schirdewan, 28.05.2023, https://web.de/magazine/politik/linken-chef-ungleichheit-deutschland-gross-kaiser-wilhelms-zeiten-38257718