Wahl der Seiten
Ukrainekrieg und innerlinker Konflikt vor dem Hintergrund der globalen kapitalistischen Entwicklung
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Dieser Text ist der Versuch, etwas diskutierbar zu machen, was uns trennt. Er versteht sich als Antwort und Gegentext zu Ralf Krämers Beitrag „Zum globalen Kapitalismus und zur Bedeutung der LINKEN“. Ich bin mir mit Ralf einig in der Einschätzung, dass wir die Ursachen unserer Differenzen auf dem Feld der politischen Ökonomie suchen müssen – in unterschiedlichen Einschätzungen der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung, der globalen Machtblöcke und ihrer Konflikte.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu heftigen Auseinandersetzungen in der Linken geführt. Die teilweise unversöhnliche Schärfe kommt aus dem jeweiligen Horror, gemeinsame Sache mit der falschen Seite machen zu sollen. Für die einen ist es unerträglich, sich auf einer Seite mit der NATO wiederzufinden und der russischen Seite die Niederlage zu wünschen. Für die anderen ist es unerträglich, irgendeinen Erfolg der russischen „Militäroperation“ zu akzeptieren oder um Verständnis für „die russische Sicht der Dinge“ zu werben.
Es geht in gewisser Weise um die Wahl der Seiten. Dabei besteht Einigkeit darin, dass Russland einen Angriffskrieg führt, der nach geltendem Völkerrecht an sich schon ein Kriegsverbrechen darstellt. Aber für die einen ist das ein Fehler und Vergehen eines Staates und eines historischen Blocks, dem man grundsätzlich mit Sympathien gegenübersteht aufgrund seiner Widerständigkeit gegen den Dominanzanspruch des westlichen Kapitalismus. Für die anderen ist es ein weiterer Beleg für den reaktionären, nationalchauvinistischen Charakter des heutigen russischen Systems und eines Staates, der alle progressiven Tendenzen erstickt und Teil der globalen Rechten ist.
Für die einen liegen die Nerven blank bei dem Satz, dass Russland diesen Krieg verlieren muss. Für die anderen bei dem Satz, dass der russische Angriffskrieg als eine Reaktion verstanden werden muss. Beide Sätze klingen harmlos, aber in der Linken gehen sie ans Eingemachte. Für Außenstehende schwer verständlich, aber für Linke naheliegend ist die Verbindung, die sofort hergestellt wird zu anderen innerlinken Konflikten der letzten Jahre – Konflikten um Zielgruppen, um Bündnisse, um politische Generationswechsel, um Migration, Trump, Klima und Sozialpolitik. Denn auch für sie gilt: Die Wurzel der Konflikte ist die Schwierigkeit, in der aktuellen Entwicklung des globalen Kapitalismus zu identifizieren, wo die objektiv progressiven Tendenzen und wer die tendenziell progressiven Akteure sind.
Vom Vorschein der besseren Welt zum bloßen „Gegenlager“
Ralf Krämer zeichnet ein Bild des globalen Kapitalismus, das im Wesentlichen vom Zugriff der (westlichen) kapitalistischen Zentren auf Rohstoffe und Absatzmärkte der Peripherie gekennzeichnet ist. Dieser Zugriff wird politisch, ökonomisch und militärisch durchgesetzt. Seine Grenze und seinen Widerpart findet er im Bestreben peripherer und semi-peripherer Staaten, sich der Durchdringung durch ausländisches Kapital zu verweigern, ihre Rohstoffe zu nationalisieren und sie für eigenständige Entwicklungsstrategien zu nutzen. Dieser Versuch der nationalen Selbstbehauptung ist strukturell offen für autoritäre Tendenzen, einen übermächtigen Staatsapparat und eine neue Klassenherrschaft. Trotzdem stellt er im globalen Maßstab die progressive Seite dar, denn es ist der einzige Weg, der die Mehrheit der Weltbevölkerung aus Armut und Abhängigkeit herausführen kann.
Das war in den 1960er und 1970er Jahren die gängige Sichtweise desjenigen Teils der Linken, der nicht mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung (dem „Kommunismus“) gebrochen hatte – das heißt mit einem Gesellschaftsmodell, das zwar einerseits durch die staatliche Entscheidung über Ressourcen gekennzeichnet war, andererseits aber durch das Machtmonopol einer Einparteienherrschaft und die gleichzeitige Entdemokratisierung und autoritäre Formierung dieser Partei. Diese Sichtweise, die auf einem Mix aus Marxismus und Weltsystem-Theorie beruhte, war bereits damals hochproblematisch, weil sie der Kritik an allen politischen Kräften, die außerhalb des westlich-kapitalistischen Blocks die Macht übernahmen, eine prinzipielle Grenze zog: nämlich die, dieses Machtmonopol selbst nicht in Frage zu stellen. Denn sonst würde man, so die Logik, das Geschäft des kapitalistischen Feindes betreiben. Damit war auch der Solidarität mit oppositionellen Kräften außerhalb des westlichen Blocks eine enge Grenze gezogen: Radikale Veränderungen oder fundamentale Kritik wurden nicht unterstützt. Wer das Machtmonopol der Herrschenden dort in Frage stellte, galt als proimperialistisch.
Dieses Eindampfen der sozialistischen Alternative auf ein letztlich inhaltsleeres „Gegenlager“ war bereits eine Verteidigungslinie. Sie nahm zur Kenntnis, dass die Gesellschaften sowjetischer Prägung nicht mit grundlegenden linken Ansprüchen zur Deckung zu bringen waren. Alles, was Linken in ihrer politischen Arbeit wichtig war, ging dort nicht: Scharfe Kritik, Demonstrieren, Arbeitskämpfe, Organisieren, Publizieren, ziviler Ungehorsam. Es gab keine Wirtschaftsdemokratie, und die Beschäftigten kontrollierten ganz offensichtlich nicht die Produktionsmittel. All das konnte man nicht mehr als Übergangsphase bezeichnen. Ein positiver Bezug ließ sich daher zunehmend nur noch aus der machtpolitischen Gegnerschaft zum westlichen Block konstruieren. Die Anleihen bei der Weltsystem-Theorie waren der Versuch, das Fehlen an sozialistischer Identifikationsmöglichkeit wenigstens durch die Sympathie mit dem historischen Lager der globalen Underdogs zu ersetzen – einer Sympathie, die der Weltsystem-Theorie als beschreibender Theorie fremd ist, aber aus dem marxistischen Wunsch nach einem „progressiven Lager“ gespeist wurde. Ob sich dabei um sozialistische Staaten handelte (d.h. solche, bei denen über die Verteilung der produktiven Ressourcen staatlich entschieden wird), um gewöhnliche Militärdiktaturen oder um halbwegs demokratisch verfasste Staaten, spielte für diese Sichtweise keine Rolle mehr. Ausschlaggebend war allein die tatsächliche oder vermeintliche Zuordnung zu einem globalen Lager. Nur so konnte man den sowjetischen Einmarsch in Ungarn oder der CSSR rechtfertigen.
Die damit verbundene Politik des Wegschauens erklärte die Analyse der Machtpolitik und der Herrschaftsverhältnisse in sozialistischen Staaten zum bürgerlichen Ablenkungsmanöver. Die interessengeleitete und dominanzorientierte Außenpolitik der Sowjetunion – vom Hitler-Stalin-Pakt über die Unterdrückung der osteuropäischen Staaten und der dortigen KPs bis zur Zusammenarbeit mit Schlächtern wie dem Mengistu-Regime in Äthiopien – wurde ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass die Herrschaft kommunistischer Parteien in faschistische Systeme übergehen konnte, sprich in nationalchauvinistische Diktaturen, die Terror und Völkermord begehen. Das geschah in der Sowjetunion in den 1930er Jahren, in China während des „Großen Sprungs“ und während der Kulturrevolution, in Kambodscha unter der Herrschaft der Khmer Rouge 1977-1979. Die These, Krieg, Gewalt, Völkermord und Unterdrückung gingen immer und überall von der Politik der westlichen alten Industriestaaten aus, allen voran den USA, war immer eine fundamentale Fehleinschätzung.
Als der US-Imperialismus noch ein plausibles Feindbild war
Trotzdem hatte das Weltbild „imperialistisches Zentrum gegen Selbstbehauptung der Peripherie“ für eine begrenzte historische Phase eine gewisse Plausibilität. Die Welt im Zeitalter des Fordismus, sprich in den 1930er bis 1970er Jahren, war in der Tat von einer extremen ökonomischen und militärischen Dominanz der USA geprägt. Der Anteil der USA am globalen Bruttosozialprodukt (nominal) lag 1960 bei sagenhaften 40 Prozent. Dass die USA eine stark interessengeleitete Außenpolitik betrieben und dabei immer wieder Kriege und verdeckte Geheimdienst-Operationen einsetzten, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen und progressive Regierungen zu stürzen, ließ sich nicht bestreiten. Die USA unterstützten u.a. aktiv die Staatstreiche in Indonesien 1965, in Brasilien 1964, in Chile 1970 und 1973, in Argentinien 1976, in denen rechtsgerichtete Militärregime gegen linke Regierungen oder Bewegungen putschten. Das Eingreifen der USA war doppelt motiviert: von der Logik des Kalten Krieges und von der Abwehr aller Versuche, US-Konzerne zu nationalisieren oder zu einer stärkeren Profitteilung zu zwingen. Der Vietnamkrieg war in der Tat der mörderische Kampf gegen das Gespenst einer politischen Selbstbehauptung der Peripherie.
Die fordistische Phase des Kapitalismus – gekennzeichnet durch Massenproduktion, Rationalisierung, Wohlfahrtsstaat und patriarchale Kleinfamilie – war gleichzeitig wirtschaftlich die große Zeit der sozialistischen Staaten. Sie holten tatsächlich schnell auf. Sozialistische Ökonomien (d.h. Länder, in denen über die Verteilung der Ressourcen staatlich entschieden wird) bewiesen eine hohe Wettbewerbsfähigkeit. Ihre Wachstumsraten waren höher, die Verteilung von Reichtum egalitärer (siehe Piketty zur Sowjetunion in „Kapital und Ideologie“), sie investierten mehr in Bildung, und die geschlechtliche Arbeitsteilung war moderner. Für viele der dekolonisierten Staaten erschien ein sozialistischer Weg als die natürliche Wahl.
Es waren diese Faktoren – die Vorteile einer geplanten Ökonomie im Zuge einer nachholenden Industrialisierung – die dazu führten, dass die Ausdehnung des sozialistischen Blocks in der zweiten Hälfte der 1970er ihren Peak erreichte. Die Niederlage der USA im Vietnamkrieg, die Befreiungskriege in Angola und Mozambique, die Revolution im Iran und die Gründung der OPEC markierten tatsächlich erfolgreiche Selbstbehauptungen peripherer und semi-peripherer Staaten. Auch in einigen hochentwickelten kapitalistischen Industrieländern entwickelten sich aus Klassenkämpfen und dem Bedarf nach rationaler ökonomischer Steuerung institutionelle Veränderungen, die das Potential zu „systemüberwindenden Reformen“ hatten (wie es die Jusos damals in Anlehnung an André Gorz nannten). Zu nennen wären etwa die Vorstöße der Labour Party zur Schärfung der nationalen Wirtschaftsplanung, die teilstaatliche Industriepolitik der französischen PS, das Projekt der gewerkschaftlichen Produktionsfonds in Schweden, die paritätische Mitbestimmung in Großbetrieben, oder die radikalen Bildungsreformen in mehreren Ländern.
Der globale Bewegungszyklus, der mit dem Jahr 1968 verbunden ist, hatte seinen gemeinsamen Nenner in zwei linken Grundpositionen: Es muss etwas Besseres geben als die kapitalistische Wirtschaftsordnung, und es muss etwas Besseres geben als das Herrschaftsmodell sowjetischen Typs. Eine Linke, die entweder das US-amerikanische Napalm in Vietnam ausblendete oder die sowjetischen Panzer in Prag, war nicht mehr denkbar und hatte keine Chance, anschluss-, bündnis- und massenfähig zu werden. Die doppelte Abgrenzung war konstitutiv für den „demokratischen Sozialismus“ linker sozialdemokratischer Parteien oder Parteiflügel; für den Eurokommunismus in Italien, Spanien und Frankreich; und für andere reformkommunistische oder linkssozialistische Programmatiken, die sich vom Prinzip des Machtmonopols und von der Strategie der „Diktatur des Proletariats“ verabschiedeten.
Dabei galt für alle, die für radikale Veränderung kämpften – auch für radikale Feministinnen, die schwarze Bürgerbewegung oder die antikolonialen Befreiungskämpfe – zu diesem Zeitpunkt als ausgemacht, dass die bessere Zukunft irgendwie sozialistisch sein müsste. Zumindest dafür, dass man es ökonomisch auch anders machen konnte als der Kapitalismus, taugte die Existenz der sozialistischen Staaten als selbstverständlicher Beleg.
Alle wollen dabei sein: Die neue internationale Arbeitsteilung
Dies änderte sich mit dem ökonomischen Umbruch ab Mitte der 1970er. Die sprunghafte Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien (die „wissenschaftlich-technische Revolution“, wie sie in der sozialistischen Literatur hieß), zusammen mit den weltweiten Erfolgen der nachholenden Entwicklung (Bildungsniveaus, Infrastruktur), machten eine „neue internationale Arbeitsteilung“ möglich (siehe das gleichnamige Buch von Fröbel u.a.). Die Zerlegung und globale Dezentralisierung industrieller Produktionsketten erlaubten das Ausnutzen komparativer Kostenvorteile und das Erschließen neuer Arbeitskraftpotenziale. Die Neuordnung der globalen Produktionsstruktur hatte massive Auswirkungen auf nationale Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital, die den Anläufen für demokratisch-sozialistische Reformen in den kapitalistischen Industriestaaten das Genick brachen. Diese Neuordnung erschloss aber gleichzeitig enorme Produktivitätsgewinne, sie war ein gewaltiger Schub in der Produktivkraftentwicklung.
Zum Instrument, diese Verlagerungen zu initiieren und zu steuern, wurden die Finanzmärkte. Nur sie hatten die Kraft, die globale Neuverteilung der Produktion durchzusetzen. Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus zerbrach die tragenden Säulen des Fordismus: die zentrale Rolle des Binnenmarktes, die Hochlohnpolitik, die paternalistische Organisation von Arbeit und Leben durch standortbestimmende Konzerne, die relativen Aufstiegsmöglichkeiten durch lebenslange Bindung an ein Unternehmen, den nationalen Wohlfahrtsstaat.
In einer zweiten Stufe ab ca. 1990 verstärkten sich diese Tendenzen, gestützt auf disruptive Innovationen wie den PC und das Internet. Die neue prinzipielle Gleichwertigkeit aller denkbaren Produktionsstandorte erzwang den Übergang zu einer innovationsgetriebenen Konkurrenz. Rational organisierte, günstige Produktion genügt nicht mehr, um sich zu behaupten; entscheidend ist die Fähigkeit zum technisch überlegenen Produkt. Die Bedeutung „nichtmaterieller Ressourcen“ wie Patente, Brands, Arbeitsorganisation, Innovationsfähigkeit, CI nimmt sprunghaft zu (Haskel/Westlake, „Capitalism without Capital“). Vereinfacht bedeutet dies: Ohne Zugang zu globalem Kapital, Wissen und Märkten ist Entwicklung nicht mehr machbar, und ohne eigene Innovationsfähigkeit keine technologische Weltklasse.
Mit der neuen internationalen Arbeitsteilung, dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und der zunehmenden Innovationskonkurrenz verschwinden nicht die Gegensätze zwischen ökonomisch mächtigen Zentren und peripheren oder semi-peripheren Ländern. Aber das Bild einer Welt, in der es die USA und den Rest gibt, lässt sich nicht mehr halten. Der Anteil der USA am nominalen weltweiten Bruttosozialprodukt ist zwischen 1960 und heute von 40 Prozent auf 24 Prozent gefallen und nähert sich der Augenhöhe mit China und der EU. Beim kaufkraftbereinigten GDP hat China die USA bereits überholt. Auch die direkte Interessenidentität zwischen Staat und nationalem Großkapital (das Kernelement des klassischen Imperialismus) lässt sich nicht mehr behaupten. Die Produktion auch hochqualifizierter Waren ist nicht mehr den Zentren vorbehalten.
Es ist eine multipolare Weltordnung entstanden mit einer Weltökonomie, bei der die Strategie der Abkoppelung kein Weg in die Selbstbehauptung mehr ist, sondern in die Armut. Abgesehen von Anachronismen wie Nordkorea entzieht sich niemand mehr dem globalisierten Weltmarkt und transnationalen Investitionen, und es will auch niemand. Alle sind in der WTO. Alle sind im IWF. Alle verkaufen ihre Rohstoffe und Industrieprodukte meistbietend. Alle erlauben ausländische Direktinvestitionen. Das von Ralf Krämer als Beispiel für Rohstoffsouveränität aufgeführte Venezuela hat 2020 eigens den Naturschutz im Orinoco-Becken aufgehoben, um internationale Investoren anzuziehen. Alle wollen hin zum Weltmarkt, alle wünschen sich ausländische Investitionen, weil es in einer globalisierten Ökonomie an diesen beiden Faktoren vorbei keinen Wohlstand gibt.
Daher sind Sanktionen ein wirksames Mittel. Und daher haben Sanktionen in einer ökonomisch verflochtenen Welt, wenn sie nach allgemeinen Kriterien und von legitimierten überstaatlichen Instanzen als Antwort auf Regelverletzungen beschlossen werden, das Potenzial, Kriege und andere Formen unverantwortlicher nationaler Interessenpolitik einzudämmen.
Das Ende des Systemgegensatzes
Weshalb die sozialistischen Ökonomien in der neuen, zunehmend innovationsgetriebenen Phase des globalen Kapitalismus nicht mehr mithalten konnten, ist keineswegs trivial und kann hier nicht diskutiert werden. (Wer verstehen will, warum die Antwort alles andere als einfach ist, dem seien zwei Artikel von David M. Kotz als Einführung empfohlen: „Socialism and Innovation“ und „Stable Jobs or iPhones?“, letzterer zusammen mit Mihnea Tudoreanu.) Fakt ist, dass es so war. Glasnost und Perestroika waren der Versuch, das Ruder noch herumzureißen, scheiterten aber. Dagegen erwiesen sich die ökonomischen Reformen in China oder Vietnam als erfolgreich, die einen geplanten, abgefederten Übergang zu einer kapitalistischen Ökonomie einleiteten, während Russlands Weg der ökonomischen „Schocktherapie“ unter Jelzin sich katastrophal auswirkte.
Generell waren Staatskapitalismus und Exportorientierung das Erfolgsmodell dieser Phase. Die asiatischen „Tigerstaaten“ Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan gingen diesen Weg, gefolgt von der zweiten Generation asiatischer „Tiger“: Indonesien, Malaysia, Philippinen, Thailand, Vietnam. China ging ihn ebenfalls. In staatskapitalistischen Systemen befindet sich der größte Teil des produktiven Kapitals in Privatbesitz, und die Preisbildung erfolgt nach den Gesetzen des Marktes. Der Staat behält jedoch einen substanziellen Einfluss auf die Allokation des Kapitals, d.h. auf die Entscheidung, in was investiert wird: Entweder durch Großbetriebe in staatlichem Besitz, durch große staatliche Investitionsfonds, oder durch die Kontrolle über Teile des Bankensystems.
Der Systemgegensatz als Ordnungsprinzip der Weltpolitik ist damit seit den 1990ern objektiv verschwunden. Ähnlich wie in der Welt vor 1914 besteht die Weltpolitik aus lauter kapitalistischen Staaten, mit graduell unterschiedlichen Modellen entlang der Achsen, wie der staatliche Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung organisiert ist, und bis zu welchem Grad die mächtigen wirtschaftlichen Akteure das Primat des Staates in ihrem Interesse überschreiben können. Sie haben Interessenkonflikte und gehen Bündnisse ein, die sich teilweise überschneiden. Alle sind sehr weit vom kapitalistischen „Nachtwächterstaat“ des Manchesterkapitalismus entfernt, und alle befinden sich in dynamischen Konflikten um das Problem der Steuerung.
Mit dem Erstarken der früheren Schwellenländer zu „neu industrialisierten“ kapitalistischen Ökonomien wuchs auch deren Fähigkeit und Bereitschaft, in eigenem Interesse und aus eigenem Antrieb Konflikte zu führen und dafür die Mittel von Krieg, Sanktionen und ideologischer Mobilisierung einzusetzen. Diese Konflikte lassen sich nicht mehr auf das Muster der Selbstbehauptung der Peripherie reduzieren, sondern haben eigenständige Motive in nationaler Interessenpolitik oder sozialer Formierung. Das gilt für die Kriege der arabischen Staaten mit Israel und das Ölembargo der OPEC 1973 genauso, wie für die verschiedenen afrikanischen und asiatischen Grenzkriege. Viele der neuen Nationalstaaten oder erstarkten Schwellenländer haben ihre eigenen Imperialismen entwickelt, die sich in der Unterdrückung nationaler Minderheiten, regionalen Vormachtansprüchen, Aufrüstung und Stellvertreterkriegen niederschlagen. Diese Linie reicht vom indonesischen Kolonialismus in Papua und Osttimor, über die indirekten Kontrollkriege zwischen dem Iran und Saudi-Arabien um die Nahostregion, bis zu den russischen Unterwerfungskriegen in Tschetschenien, Georgien und der Ukraine.
Gewinner und Verlierer der Globalisierung
Die Auffassung, bei der Globalisierung handele es sich schlicht um eine modernisierte Form von Imperialismus und ein Verarmungsprogramm für den Globalen Süden, geht an den Fakten vorbei. Die größten prozentualen Einkommensgewinne zwischen 1988 und 2008 erlebten das reichste Prozent der Weltbevölkerung und die mittleren Einkommen, d.h. die kleine Schicht der global Superreichen und die „globale Mittelklasse“. Diese globale Mittelklasse besteht vor allem aus den Mittelschichten in China und in den anderen aufstrebenden asiatischen Volkswirtschaften. Mit Ausnahme des ärmsten Zehntels erzielten auch die global unteren Einkommen erhebliche Zuwächse. Völlig stagniert haben in diesem Zeitraum dagegen die Einkommen der „unteren globalen Oberschicht“, d.h. die Einkommen derjenigen Haushalte, die global gesehen zum zweit- bzw. drittreichsten Zehntel gehören.
Das sind ganz überwiegend die Mittelschichten in den westlichen Industriestaaten: Facharbeiter- und Angestelltenhaushalte, untere Staatsangestellte, kleinere Selbständige (alles unterhalb der Vermögenseinkommen, der Hochqualifizierten und der oberen Dienstklasse). Die Menschen im mittleren Einkommensbereich in den USA, Kanada, Westeuropa, Japan und Australien sind die eigentlichen Verlierer der Globalisierung, während die Mehrheit des globalen Südens zu den Gewinnern gehört. (Das ist die berühmte „Elefantengrafik“ von Branko Milanovic in „Global Inequality“, weil der Graph der Einkommensgewinne von Arm bis Superreich den Umrissen eines Elefanten mit erhobenem Rüssel ähnelt, mit der unteren Biegung des Rüssels als tiefstem Punkt.)
Die Globalisierung hatte den Effekt, dass die Ungleichheit in Einkommen, Kapital und Bildung zwischen den Staaten abnahm, während sie innerhalb der einzelnen Staaten stark zunahm. Sie war kein globales Verelendungsprogramm, sondern eher das Gegenteil: Eine Umverteilung nach unten, allerdings mit einer klar definierten Verlierergruppe innerhalb der alten Industriestaaten.
Der reale Verlust an Wohlstand in der mittleren Einkommensgruppe und der Verlust an klassischen Industriejobs sind die materiellen Gründe dafür, warum es in diesen Gruppen zu einer strukturellen Offenheit für rechtspopulistische Positionen und Akteure kam – im weiten Feld zwischen Trump, AfD, Brexit, Schwedendemokraten, Le Pen usw. Hinzu kam die Wahrnehmung, dass soziale Aufstiege zunehmend an neue Voraussetzungen und Codes gekoppelt waren, über die klassische westliche Mittelschichten vielfach nicht verfügten: Akademische Abschlüsse, internationale Erfahrung, die Fähigkeit sich in einer zunehmend diversen globalen Oberschicht verhaltenssicher und politisch korrekt zu bewegen.
Realer Abstieg, Abstiegsängste sowie die Kränkung, offenbar nicht mehr zu genügen, mündeten häufig in „rebellisch-autoritäre“ Haltungen, die sich von Eliten und „Establishment“ verraten fühlten und gleichzeitig nach mehr Obrigkeit verlangten, und die versuchten, beschädigte Identität durch Aggression gegen schwächere soziale Gruppen zu kompensieren. Aber jenseits dieser psychologischen Aspekte muss man den Rechtspopulismus ernst nehmen als ein politisches Programm, das auf die Folgen der Globalisierung antwortet. Gefordert wird nicht der Ausstieg aus der Globalisierung, sondern eine selektive, an den eigenen nationalen Interessen orientierte Nutzung der Globalisierung, mit starken nationalen Barrieren gegen Migration und Produktionsverlagerung, und starken sozialen Barrieren gegen Arbeitskonkurrenz und Aufstieg neuer sozialer Gruppen.
Real ist es nirgends gelungen, die Uhr wirklich zurückzudrehen. Trump konnte den Verlust an alten Industriejobs im amerikanischen Rust Belt nicht aufhalten. Eine neue Industriepolitik in den alten Industrieländern kann sich langfristig nur darauf richten, Industrien in enger Verbindung mit erfolgreicher Innovationspolitik zu verteidigen und zu gewinnen: Technologisch hochentwickelt, mit höheren Qualifikationsanforderungen und veränderten Jobprofilen, an der Spitze der Entwicklung auch bei der Transformation zur klimaneutralen Produktion, sowohl bei den Produktionsprozessen selbst als auch bei der Produktion von industrieller „Hardware“ für den Transformationsprozess. Für alles andere sind die regionalen Produktionskosten zu hoch. Eine staatliche Subventionierung international mittelmäßiger Industrieproduktion kann sich auf Dauer niemand leisten.
Aber der Rechtspopulismus hat immer wieder Korrekturen der regierenden Politik in seinem Sinne erreicht, von der Migrationspolitik bis zu verteilungspolitischen Zugeständnissen. Trotz seiner nationalen Ausrichtung ist er eine internationale Bewegung, die sich gegenseitig anerkennt und unterstützt, und verbunden ist durch eine gemeinsame Vision. Im Kern geht es um die Umkehrung der in den 1990ern und 2000ern erfahrenen Abwertungen, Einkommens- und Statusverluste; ein Stück weit um „Revanche“ für kulturelle Demütigungen; und um die Abwehr neuer Status-Bedrohungen wie die Klima-Transformation, weiter steigende Qualifikationsanforderungen oder die interkontinentale Migration.
Die Klassenbasis des Rechtspopulismus ist daher am stärksten in der massiv verkleinerten Gruppe der manuellen Arbeiterschaft, den traditionell orientierten und qualifizierten Mittelschichten, bei den weniger konkurrenzfähigen Teilen des mittelständischen Kapitals und bei der fossilen Energiewirtschaft. Er findet seine regionale Basis vor allem in den alten Industriestaaten, in den ehemals sozialistischen Transformationsstaaten Osteuropas einschließlich Russland, und in ökonomisch „steckengebliebenen“ Schwellenländern wie Indien, Brasilien oder Philippinen. Er ist patriarchal und rassistisch überformt, aber er entwickelt zunehmend Anschlussfähigkeit auch für Frauen und für diejenigen Migrant*innen, für die neue Zuwanderung entweder Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder Gefährdung ihrer prekären Integration bedeuten kann.
Nationalstaaten reichen nicht mehr: Die neuen transnationalen Akteure
Die Globalisierung lockerte die Verbindung von Konzernen und Mutterstaaten, die für den Imperialismus klassischer Prägung wesentlich war. Es entstanden erstmals tatsächlich multi- bzw. transnationale Konzerne (TNCs), die sich nicht mehr als nationale Unternehmen verstanden, sondern als Konzerne mit mehreren gleichberechtigten Leitungsstandorten und einer multikulturell definierten Corporate Identity. Auch TNCs mit klar national verorteten Hauptsitzen (wie die großen IT-Konzerne) sind in der Lage, sich nationaler Besteuerung und Regulierung in hohem Maße gezielt zu entziehen, indem sie sich die globale Mobilität von Produktionsketten und Finanzströmen zunutze machen.
Mit den TNCs trat ein neuer Akteur der globalen Ökonomie auf die Bühne. Transnationale Konzerne sind nach innen Planwirtschaften, die nach außen in einem marktwirtschaftlichen Umfeld operieren. Sie steuern komplexe transnationale Produktionsketten und -netzwerke. Der Nationalstaat kann ein Primat der Politik (das „in letzter Instanz“ früher immer gegeben war) kaum mehr gegen sie durchsetzen, außer in Zeiten von Krisen durch externe Schocks. Dazu trägt bei, dass heute ein enormes ökonomisches Kompetenzgefälle besteht zwischen TNCs und den staatlichen Akteuren, die im Neoliberalismus immer „schlanker“ gemacht wurden.
Ein zweiter neuer Akteur, der global handlungsfähig ist, ist mit den Organisationen einer global vernetzten Zivilgesellschaft entstanden, vor allem den internationalen NGOs. Auch globale NGOs haben Eigeninteressen, Borniertheiten und unter Umständen eine zu große Nähe zur Agenda ihrer Geldgeber, die überwiegend in den westlichen Industrieländern sitzen. Dennoch haben sie sich als wesentliche Gegenkraft sowohl zu nationalen Regierungen als auch zu TNCs etabliert, weil sie internationale Entitäten sind. Sie verbinden lokale Politik mit globalen Anliegen, sie verschaffen lokalen Protest- oder Streikbewegungen Zugang zu globaler Öffentlichkeit und damit Schutz und Gegenmacht. Der notwendige Druck für eine fortschrittliche Regulierung und eine effektive Kontrolle der TNCs ist ohne eine aktive, handlungsfähige Zivilgesellschaft mit starken globalen Organisationen nicht aufzubauen.
Das gilt auch in klar staatskapitalistischen Ländern. Die Frage, ob eine starke Zivilgesellschaft, vor allem entlang der Umweltfrage, akzeptiert werden muss um die eigenen Konzerne kontrollieren zu können, oder ob eine handlungsfähige Zivilgesellschaft bekämpft werden soll um den politischen Machterhalt nicht zu gefährden, war eine zentrale Auseinandersetzung in der chinesischen KP in den 2000ern. Mit der Wahl von Xi Jinping 2012 setzte sich die restriktive Linie durch, die auf Umweltpolitik ohne Umweltbewegung und auf Steuerung ohne Zivilgesellschaft setzt.
Der dritte neue Akteur in Zeiten der Globalisierung sind multistaatliche Strukturen, die Nationalstaaten als tendenziell eigenständige Einheiten gegenübertreten. Dazu gehören neue interstaatliche Organisationen (IPOs) wie die 1995 gegründete WTO, vor allem aber Formen regionaler Integration, wie die EU, der Mercosur, die EAWG, die PIC oder die OAU. Sie folgen der Notwendigkeit, dass Nationalstaaten zu schwach sind, um TNCs zu regulieren oder globale staatliche Interessen zu vertreten, und dass die Austauschbeziehungen zwischen benachbarten Ländern sich objektiv vertiefen.
Die globalisierte Welt wird daher zunehmend nach regionalen Staatengruppen strukturiert. Alle Versuche der regionalen Integration sind dabei zum Weltmarkt hin orientiert, nicht von ihm weg, versuchen allerdings in ihrem Sinne Einfluss auf die Regeln und Bedingungen zu nehmen. Es spricht einiges dafür, dass die regionale Integration auf lange Sicht eine stärkere Kraft darstellt als die Versuche, Staaten-Allianzen auf der Grundlage ähnlicher Funktionen in der Weltwirtschaft (wie die OPEC) oder ähnlicher politischer Interessen (wie die BRICS) zu etablieren. Konkrete Projekte wie die AIIB, die 2015 als eine Art Gegenentwurf zu Weltbank und IWF gegründet wurde, oder die „Seidenstraßen“-Initiative, folgen nicht der Logik, einen zweiten, separaten Weltmarkt zu gründen, sondern innerhalb des bestehenden Weltmarkts mehr Einfluss zu gewinnen und bessere Bedingungen durchzusetzen.
Das langsame Ende des Neoliberalismus
Der Neoliberalismus wurde zum hegemonialen wirtschaftspolitischen Mainstream und Regulationsmodell, als der finanzmarktgetriebene Kapitalismus den Fordismus als dominierendes Akkumulationsregime ablöste. Senkung der Staatsquote, Privatisierung, Förderung globalen Wettbewerbs durch organisierten Freihandel, die Reduzierung wohlfahrtsstaatlicher Sicherheiten, Lohn- und Einkommensspreizung und eine restriktive Finanzpolitik waren die Kernelemente. Staaten und Regierungen unterschieden sich danach, ob sie diese Veränderungen schnell und radikal, oder langsam und begrenzt vornahmen, aber sie fanden überall statt.
Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus bezog seine Produktivitätsgewinne aus der globalen Neustrukturierung der Produktion, der Erschließung neuer Arbeitskraftpotenziale und Absatzmärkte im Sinne eines „nachholenden Fordismus“, und aus der Innovationskraft der TNCs. Zwei dieser drei Faktoren sind in ihrer Wirkung inzwischen weitgehend erschöpft, der dritte braucht veränderte Rahmenbedingungen. Für zentrale neue Anforderungen der Produktivkraftentwicklung, insbesondere die klimapolitische Transformation und die Fachkräfteversorgung, erweist sich der finanzmarktgetriebene Kapitalismus als ungeeignet. Der Wettlauf um Niedrigsteuern und Niedriglöhne hat die materiellen Produktionsvoraussetzungen (Bildung, Infrastruktur, Forschung, Fachkräfteversorgung, politische Stabilität) in einer Weise geschwächt, die jetzt selbst zum Problem der Produktion wird.
Der Neoliberalismus wirkt inzwischen nicht nur als Bremse für die weitere Produktivkraftentwicklung, sondern schafft zusätzliche Probleme, weil sich seine Kreativität zunehmend auf parasitäre Profite verlagert: Gewinne durch Finanzmarktinstrumente, die keinen Bezug mehr zur Produktion aufweisen; durch blanke Leistungsverschlechterung in der privatisierten Daseinsvorsorge; durch aktive Marktbeeinflussung wie „Wetten“ gegen einzelne Staaten. Die Krisen der letzten 15 Jahre weisen einen hohen Bezug zu Fehlern des Neoliberalismus und der finanzmarktgetriebenen Akkumulation auf. Das ist offensichtlich für die Finanzkrise 2008-2009 oder die Eurokrise 2011. Es gilt aber auch für die Corona-Krise, die durch die geschwächten Strukturen der Gesundheitssysteme und die geringe Resilienz der Lieferketten verschärft wurde, oder für die aktuelle Energiepreiskrise, deren Wucht auf der unterlassenen Energiewende in der Vergangenheit beruht.
Wir befinden uns daher in der Phase der Weichenstellung hin zu einem neuen Akkumulationsregime und Regulierungsmodell. Kreative Arbeit, die Einbettung der Produktion in ein qualitativ hochentwickeltes soziales und gesellschaftliches Umfeld („Wirtschafts- und Innovationslandschaften“), langfristige politische Entscheidungen über den Weg der wirtschaftlichen Entwicklung und die Konzentration von Ressourcen auf große, komplexe Entwicklungsaufgaben erhalten hohe Bedeutung für die Produktivkraftentwicklung. Damit ändert sich das Verhältnis von Staat und Kapital, von Produktion und Reproduktion. Es ist kein Zufall, dass die Forderungen nach einer „missionsorientierten“ Wirtschaftspolitik, nach einer „Rückkehr des Staates“, nach Mindeststeuern und mehr staatlicher Kreditaufnahme auch beim Weltwirtschaftsforum, der Weltbank und den moderneren Kapitalfraktionen angekommen sind.
Das sind nicht nur Lippenbekenntnisse. Dass die Finanzmärkte erstmals ein Programm radikaler Steuersenkung für Reiche abgestraft haben und damit die britische Regierung Truss zu Fall brachten, ist ein Novum. Es zeigt, dass der Abschied vom Neoliberalismus materielle Realität hat.
Die grobe Richtung der kommenden Veränderung ist klar. Offen ist, welcher „historische Block“, d.h. welches Bündnis aus welchen Fraktionen von Arbeiterschaft, Kapital, Staat und Zivilgesellschaft sie führend gestalten wird und wem es wie stark gelingt, seine sozialen Interessen dem neuen Regulierungsmodell einzuschreiben.
Das Auseinandertreten unterschiedlicher Kapitalfraktionen ist dabei längst zu beobachten. Das Interesse an einem beschleunigten Übergang zu einem neuen Akkumulations- und Regulierungsmodell besteht vor allem bei denjenigen Kapitalfraktionen, die in innovationsgetriebenen Bereichen mit hoher Wertschöpfung engagiert sind. Kapitalfraktionen, die z.B. im fossilen Rohstoffgeschäft investiert sind, haben von einer solchen Veränderung nichts Positives zu erwarten. Diese Art der Parteinahme war bereits bei der Trump-Wahl 2016 zu beobachten.
Konflikte innerhalb der arbeitenden Klasse
Spätestens seit der von Karl-Heinz Roth angestoßenen Debatte um die „Wiederkehr der Proletarität“ (1993) steht die Frage im Raum, wie mit der zunehmenden Ausdifferenzierung sozialer Lagen innerhalb der arbeitenden Klasse strategisch umzugehen ist. Das gilt sowohl global wie im nationalen und europäischen Rahmen.
Dass es Konflikte und widerstreitende Interessen innerhalb der Klasse gibt, ist offenkundig. Wie beschrieben, erfolgte der Aufstieg großer Teile der asiatischen Facharbeiter- und Kleinselbständigenschicht im Zuge der globalen Neustrukturierung der Produktion letztlich auf Kosten genau dieser Schicht in den alten Industriestaaten. Gegensätze zwischen alten und neuen Kapitalfraktionen bilden sich in Gegensätzen zwischen den Beschäftigten ab. Unterschiedliche Betroffenheiten durch Klimakrise, Digitalisierung und Qualifikationsentwicklung spielen ebenso eine Rolle, wie Emanzipationsbestrebungen entlang von Geschlecht und Ethnizität, die Spaltung zwischen Kernbelegschaften und „Ausgelagerten“, Staatsbeschäftigten und denen in der Privatwirtschaft, den Bewohner*innen der „global Cities“ und denen auf dem Land. Bislang werden diese Interessengegensätze immer noch kleinteiliger. „Schon zwischen den Arbeitslosenbewegungen mit ihren Forderungen nach einem allgemein sichernden ‚Existenzgeld‘ und den Basisinitiativen der Prekären am Unterrand der ‚aktiven Arbeiterarmee‘ klaffen Welten.“(Roth) Der Aufruf, sich „auf die sozialen Interessen der arbeitenden Klasse zu orientieren“ (Krämer), provoziert notwendig die Gegenfrage, welche denn damit im Einzelnen gemeint sind (und welche nicht).
Der entscheidende Befund für eine linke Strategieentwicklung ist dabei: Die Widersprüche innerhalb der Klasse sind kein Wahrnehmungsproblem, sie sind real. Aber es sind keine antagonistischen Widersprüche, die nur aufhebbar wären, wenn sie in der einen oder anderen Richtung entschieden würden. Und sie ordnen sich nicht zu homogenen Lagen oder Clustern, zu zwei einander in allen Kriterien fest gegenüberstehenden Teilgruppen, sondern laufen in endlosen Kombinationen quer zueinander, quer durch Belegschaften, Regionen, Familien, teilweise durch die Beteiligten selbst hindurch.
Alle Versuche, diese Widersprüche innerhalb der Klasse zu gegnerischen Milieus, Lagern, Teilklassen zu ordnen und ihnen übergreifende Eindeutigkeit als Kultur- oder Interessenskampf zu geben, gehen nicht von der Realität selbst aus, sondern von denen, die sich als Führungsfiguren solcher Kämpfe anbieten möchten. Die Ärmeren haben nicht notwendig weniger Interesse an der Klimakrise, schon gar nicht global. Für den Alltag der Prekäreren haben Rassismus, Patriarchat oder Homophobie nicht notwendig nachgeordnete Bedeutung, weder in Deutschland noch im Iran. Die europäischen Hafenarbeiter haben überwiegend keine gute Meinung von der EU, die lange Zeit versucht hat ihre sozialen Errungenschaften als „Wettbewerbshindernis“ zu schleifen; aber sie haben definitiv ein Interesse an Globalisierung. Der Trend zu global verantwortlicher Ernährung ist eine Generationenfrage, keine Klassenfrage.
„Traditionelles Gemeinschaftsdenken und die aus ihm folgenden Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen“ (Wagenknecht, Die Selbstgerechten) sind nicht unbedingt ein Segen für diejenigen, von denen in diesen Gemeinschaften Unterordnung erwartet wird. Umgekehrt ist Zuwanderung in die Zentren eben nicht für alle eine Win-Win-Situation. Arbeitszeitverkürzung und Diversität liegen nicht im unmittelbaren Interesse aller Beschäftigten. Die Transformation des fossilen Energiesystems ist nicht das Ende des Kapitalismus, und die Umbrüche in der Produktion und die Verteilung der nötigen Kosten enthalten reale Bedrohungen für viele.
Konflikte in der Linken
Bei den Exponenten der Richtungskämpfe innerhalb der Linken finden sich typischerweise jeweils beide Fehler: Reale Widersprüche innerhalb der Klasse kleinzureden, und einen selbstgewählten Ausschnitt zur idealisierten „Wunschklasse“ zu überhöhen. In den Aufzählungen der Verfechter*innen der „verbindenden Klassenpolitik“ („dass die Erzieherin mit dem Müllfahrer, die Krankenpflegerin mit dem Straßenreiniger, der Sozialarbeiter mit der Putzfrau, die türkische Verkäuferin von H&M mit der deutschen Verkäuferin vom Kaufhof Seite an Seite standen“, Riexinger, Neue Klassenpolitik) verschwinden nicht nur alle Interessengegensätze zwischen den Beteiligten. Es fehlen auch systematisch der Facharbeiter bei Mercedes und die migrantische Kleinselbständige, und die Beschäftigten bei Shell oder Lürssen sowieso. Bei beiden Richtungen im innerlinken Kulturkampf ist ihr Klassenbegriff immer in Gefahr, sich auf „eine exklusive Auswahl an gewünschten Verbündeten“ zu reduzieren (Jöran Klatt, In Konflikten vereint, ds 1/21).
Und so gilt: Beide haben am meisten recht, wenn sie auf die Fehler, die Blindstellen, den Hochmut der anderen Seite hinweisen, aber das ergibt eben noch keine strategische Perspektive. Beide sind sich einig in der nostalgischen Sehnsucht nach einer Klasse, wo das Wir-Gefühl nicht ständig von internen Konflikten und Gegensätzen gestört wird, was früher wie heute zu neuen Leitkulturen führt. Was der einen der Sonntagsbraten, ist dem anderen die Care-Arbeiterin. Was nicht passt, wird passend gemacht.
Objektiv kommt die Linke aber nicht an der Wahrheit vorbei: Fortschrittliche Veränderungen wird es nur geben, wenn dafür Mehrheiten gewonnen und zu fortschrittlichen Mehrheiten geformt werden, die aus modernisierungsoffenen und aus traditioneller orientierten Gruppen, Milieus und Regionen gespeist werden. Es wird sie auch nur geben, wenn ein historischer Block gebildet werden kann, der Teile der politischen Eliten und fortschrittliche Kapitalfraktionen mit umfasst, der aber keinen machtpolitischen Ausdruck finden darf ohne eine starke Vertretung der Interessen der arbeitenden Klasse. Es wird sie nur geben, wenn ein solcher historischer Block die Aufgabe annimmt, die notwendigen und unabweisbaren Umbrüche in seinem Sinne zu gestalten und die Widersprüche nach vorne zu lösen. Und es wird sie nur geben, wenn es sich um einen transnationalen Block handelt, denn die Kräfteverhältnisse, die Produktivkraftentwicklung und die Klassenbildung sind ebenfalls transnational.
Es mag angesichts der aktuellen Krise der Partei seltsam klingen. Aber im Grunde war die Entwicklung der LINKEN in diesem Sinne in den letzten Jahren positiv. Für eine Außenpolitik im Stil der DKP, ein offenes Anknüpfen an rechtspopulistische Versprechungen, ein unkritisches Zurück zum idealisierten nationalen Klassenkompromiss des Fordismus, für Feldzüge gegen neue Milieus, Sympathie mit autoritären Regimen, oder für das Ausrufen der Grünen zum Hauptfeind der Arbeiterbewegung, gibt es in der Partei keine Mehrheiten mehr. Das ist vernünftig und fortschrittlich.
Es darf jedoch nicht missverstanden oder innerparteilich umgebogen werden in einen Sieg im inszenierten innerlinken Kulturkampf. Für eine Verabschiedung der Linken von traditionell orientierten Milieus, von realen Widersprüchen innerhalb der Klasse, von den Mühen, abstrakte Ansprüche in konkret gangbare, sozial faire Politik zu übersetzen (in Opposition und Regierung): dafür gibt es keinen Raum. Die Kritik Sarah Wagenknechts an einer bloßen „Lifestyle-Linken“ bleibt ernst zu nehmen, auch wenn das Programm, auf das sie die Partei verpflichten möchte, strategisch perspektivlos und moralisch inakzeptabel ist. Auch die Lehre aus Boris Palmer, dass es im Zweifelsfall mehr auf politischen Output ankommt als auf politische Korrektheit und verbale Signale, müssen alle Kräfte links der Mitte ziehen.
Eine strategische Hauptaufgabe einer linken Partei muss es sein, unterschiedliche Gruppen, Milieus und Interessen, die es für eine fortschrittliche Veränderung braucht, miteinander zu versöhnen und gemeinsam handlungsfähig zu machen. Wer es einzelnen Zielgruppen, Milieus oder Organisationen außerhalb der Partei immer recht machen und ihnen an allen Punkten recht geben möchte, kann keine Partei aufbauen. Das muss allen klar sein.
Und auch das sei gesagt: Zu den Gruppen und Milieus, die man braucht und bei denen die Linke Zustimmung gewinnen muss, gehört zunehmend auch das Milieu derjenigen, die sich nicht unbedingt der gesellschaftlichen Linken zuordnen, aber für eine vernünftige und sozial gerechte Politik gewinnbar sind. Die Gruppe derer wächst, und es klingt nur oberflächlich paradox, dass sie für die Linke ansprechbar sind, weil ihnen SPD oder Grüne häufig zu „ideologisch“ und klientelbezogen sind, zu überdominiert von der Notwendigkeit, bestimmten Stammwählerschaften gefallen zu müssen. Es war immer die Stärke der Linken, dass sie eine Politik anbieten konnte, die auf einer nüchternen Analyse von Rahmenbedingungen beruht und durchsetzungsfähig ist, weil sie sich in der Wahl der Instrumente nicht an den vorgegebenen Rahmen dessen hält, was Partikularinteressen oder politischen Dogmen nicht wehtut. Aktuell ist die Partei für solche „adaptiv-pragmatischen Milieus“ aber auf Bundesebene zu innenbezogen, zu emotionalisiert, zu rechthaberisch und zu schrill.
Progressive Kriterien: Kooperation, Gewaltverzicht, Zivilgesellschaft, Gleichheit
Um die Frage, was heute Kriterien für progressive politische Tendenzen im globalen Kapitalismus sind, kommt man von links nicht herum. Denn daran bemisst sich der Erfolg linker internationalistischer Politik, ob sie dazu beiträgt, progressive Tendenzen zu unterstützen und reaktionäre zurückzudrängen. Einige Kriterien spricht Ralf Krämer selbst in seinem Beitrag an, wenn auch mit anderen Schlussfolgerungen.
Es ist klar, dass die Linke die Fortschrittlichkeit von nationalen Gesellschaftssystemen und Regierungen nicht daran bemisst, ob alle es „so machen wie wir“, sprich ob die behauptete Trias von parlamentarischer Demokratie, bürgerlichen Freiheitsrechten und „Marktwirtschaft“ schon hinreichend angewendet wird. Nicht, weil die Linke diese Trias automatisch schlecht fände. Sondern weil diese Trias damit der Kritik entzogen wird, ob sie wirklich die Lebensverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung verbessert, ob sie auf Kosten sozialer und kollektiver Menschenrechte geht, und ob sie in der Lage ist den Weg in den ökologischen Abgrund zu stoppen. Und weil es die drängenden, allgemein anerkannten Probleme der gelenkten Demokratie, des vermeintlichen Rechts auf Ausbeutung und Umweltzerstörung, und der Privatisierung von wirtschaftlicher Macht (und damit auch sozialer, ökologischer und politischer Entscheidungsgewalt) ausklammert.
Die Linke bemisst die Fortschrittlichkeit von Staaten und Regierungsprojekten auch nicht an einem statischen Ranking in Sachen Wohlstand und Menschenrechte. Weil sie um die ungleichen Startvoraussetzungen und vielfältigen Abhängigkeiten weiß und den Zirkelschluss nicht teilt, dass die reichsten Staaten sich damit ihre zivilisatorische Überlegenheit beweisen wollen, dass sie von den Mechanismen nicht sprechen wollen, die diesen Reichtum auf Kosten anderer erzeugen und erhalten. Es bleibt richtig, dass man von hochentwickelten, stabilen Gesellschaften ein höheres Niveau an Menschenrechten, Rechtstaatlichkeit und zivilgesellschaftlicher Freiheit erwarten kann als von Gesellschaften, die um ihre ökonomische Existenz kämpfen. Für falschen Hochmut der alten Industriestaaten gibt es keinen Anlass.
Dies kann aber nicht zu einem politischen Zynismus führen, der alles rechtfertigt bzw. die eigenen politischen Präferenzen und Sympathien mit Regierungen und Staaten jeder Überprüfbarkeit enthebt. Damit hat die Linke wiederholt Schiffbruch erlitten, indem sie verbrecherische Regime oder schlicht gescheiterte Regierungsprojekte bis weit über jede Schmerzgrenze hinaus verteidigt hat. Wie geschildert, verkennt eine solche Haltung auch die Veränderungen im 20.Jahrhundert. Wenn man Multipolarität und die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Emanzipationsprozesse in der globalen Staatenwelt ernst nimmt, dann wächst für alle die Verantwortung, wofür die Spielräume genutzt werden. Es ist eben nicht so, dass Gesellschaften mit starken Freiheitsrechten ihre Unfreiheit nur „exportieren“, während autoritäre Gesellschaften den Rest der Welt mit ihrem Unglück in Ruhe lassen. Auch für falsche Entschuldigungen gibt es keinen Anlass.
Aus den Anforderungen, die sich für die Weltgesellschaft heute stellen, ergeben sich vier Kriterien, die für die Fortschrittlichkeit von Regimen maßgeblich sind: Die Bereitschaft zur Kooperation in den globalen Menschheitsfragen; der Verzicht darauf, nationale Interessen mit militärischen Mitteln gegen andere durchzusetzen; die Akzeptanz aktiver, handlungsfähiger Zivilgesellschaften; und der Beitrag zur Verringerung von Ungleichheit im globalen wie im nationalen Rahmen. Das ist es, was man von fortschrittlichen Kräften und Regimen heute erwarten kann und muss.
Die Linke hat mit Recht kritisiert, dass die USA sich traditionell weigern, zentralen internationalen Abkommen zu globalen Menschheitsfragen beizutreten bzw. sie zu ratifizieren, allen voran das Kyoto-Protokoll oder das Seerechtsabkommen. Hier muss man anerkennen, dass die USA unter der Regierung Biden sich wieder zum Pariser Klimaabkommen bekennen. Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass die meisten internationalen Vertragsprozesse zu Umwelt- und Klimafragen aktuell ihre härtesten Gegner in Russland und China finden, die jede Einschränkung ihrer nationalen Entscheidungsgewalt ablehnen (so zuletzt wieder bei den Verhandlungen zum Meeresdiversitätsabkommen). Eine „Hauptgegnerschaft“ der USA (Krämer) lässt sich in Sachen internationale Kooperation zu Menschheitsfragen jedenfalls nicht behaupten, und am „Nichtmitspielen“ Russlands oder Chinas ist dabei nichts Fortschrittliches.
Natürlich muss es Verhandlungen um Kompensationszahlungen geben an Länder, die bislang stark von Rohstoffrenten abhängig sind oder die sich die Transformationskosten nicht leisten können. Aber wenn die neue Regierung Lula den Kurs Brasiliens in Sachen Klima und Amazonaspolitik ändert, dann wäre das eine fortschrittliche Veränderung in einem der BRICS-Staaten. Wenn die EU zusammen mit den Pazifischen Inselstaaten sich endlich für ein Moratorium beim Tiefseebergbau einsetzt, ebenfalls. Nationale Souveränität zur beliebigen Ausbeutung von Rohstoffen ist keine progressive Position mehr.
Das vermeintliche Recht zur militärischen Intervention als nationaler Interessenpolitik haben sich die USA in der Vergangenheit immer wieder genommen, wie erwähnt. Auch hier sind die Verhältnisse allerdings uneindeutiger geworden. Die militärischen Interventionen der USA seit 2000 sind vom „Krieg gegen den Terror“ dominiert, der in weiten Teilen mit Unterstützung Russlands und Chinas erfolgte (der Irak-Krieg ist ausdrücklich auszunehmen). Die größten Gefahren für Frieden und Menschenrechte gingen in den letzten Jahren vom Islamischen Staat aus, der von einer breiten internationalen Koalition unter Einschluss der kurdischen Milizen militärisch gestoppt wurde. Dass sowohl Russland als auch China seit ca. 2010 zu einer aggressiveren Militärpolitik übergehen, die sich auf regionale geostrategische Dominanz richtet, sollte unstrittig sein. Die dramatischsten Tabubrüche gehen dabei auf das Konto der russischen Führung, die nicht nur die Souveränität, sondern das Existenzrecht anderer Staaten in Frage stellt und offen mit der Führbarkeit des Nuklearkriegs spielt.
Ohne aktive, handlungsfähige Zivilgesellschaften ist, wie beschrieben, weder ein Abwenden der Klimakatastrophe, noch ein Gegengewicht zu privater Konzernmacht, noch eine fortschrittliche Bewegung gegen Unterdrückung und Ungleichheit zu erreichen. Hier ist die Bilanz des von Ralf Krämer beschworenen „Gegenlagers“ in den letzten Jahren katastrophal. Die Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft haben sich in Russland, China, dem Iran und Venezuela dramatisch verringert. Die BRICS-Gruppe hat sich in der Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine exakt an dieser Linie gespalten: Diejenigen BRICS-Staaten, in denen die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten als offen bis positiv bewerten werden kann, haben in der UN sowohl den Angriffskrieg wie die Annexionen verurteilt, nämlich Indonesien und Brasilien, während sich mit China und Südafrika diejenigen BRICS-Staaten enthalten haben, die in den letzten Jahren einen zunehmend repressiven Kurs verfolgt haben.
Ein zentrales Kriterium für einen fortschrittlichen Kurs bleibt, ob die politische Entwicklung eines Landes dazu beiträgt, soziale Ungleichheit zu begrenzen und zu verringern. Das ist mehr als die Bekämpfung von Armut. Systematische soziale Ungleichheit ist letztlich das Synonym von Klassengesellschaft, sie teilt die Gesellschaft in ökonomische Gruppen, deren Perspektiven auf Teilhabe, Entscheidungsgewalt und soziale Mobilität sich krass unterscheiden. Für eine fortschrittliche Politik gegen Ungleichheit ist sind daher nicht nur Sozialtransfers maßgeblich, sondern ebenso eine offensive Bildungs- und Gesundheitspolitik, die Bereitschaft zur Besteuerung von Reichtum und hohen Einkommen, sowie die Investition in Pfade, die aus der Abhängigkeit großer Teile der Bevölkerung von Rohstoffrenten und Billigproduktion herausführen.
Bekanntlich war die Zunahme von Ungleichheit in allen Staaten ein Merkmal der neoliberalen Ära, und eine Umkehr ist bislang nicht zu erkennen, allenfalls eine schwächere Legitimation und stärkere Kritik. Dennoch muss auch hier festgestellt werden, dass sich für China ab 2010 ein Kurswechsel von einer „europäischen“ (d.h. gedämpften) Struktur sozialer Ungleichheit zu einer „amerikanischen“ (d.h. massiven) Ungleichverteilung nachweisen lässt (Piketty, „Kapital und Ideologie“). Dass Russland ein Steuerparadies für Reiche ist (ohne Erbschaftsteuer und ohne progressive Einkommensteuer) und sich kontinuierlich auf einem hohen Ungleichheitsniveau bewegt, ist bekannt. Die Proteste der letzten Jahre in Venezuela, Iran und Nicaragua waren, neben politischer Kritik, auch gegen zunehmende Ungleichheit und Sozialabbau gerichtet. Nicaragua, eines der fünf Länder die in der UNO gegen die Resolutionen zum Ukraine-Krieg gestimmt haben, gehört heute zu den fünf Ländern weltweit mit dem reaktionärsten Abtreibungsrecht.
Jenseits des Lagerdenkens
Für irgendeine „anti-westliche“ Lagerbildung auf einem wie immer gearteten fortschrittlichen Nenner gibt es daher keine Hinweise. Dabei ist zugestanden, dass es um die Tendenz gehen müsste, die Richtung der Entwicklung. Aber für die Behauptung, Russland wäre Bestandteil und Kern eines Lagers von politischen Renegaten, die sich für die „eigenständige Entwicklung im Interesse ihrer Bevölkerungen“ (Krämer) stark machten, fehlt jede Grundlage.
Das ändert nichts an der Notwendigkeit, dass die Linke entlang der genannten Kriterien die Politik der EU und der USA messen und kritisieren muss. Aber die Welt wäre mit Sicherheit nicht besser, wenn Russland, China, der Iran oder Syrien ihre machtpolitischen Auseinandersetzungen mit „dem Westen“ einfach gewinnen würden. Linke müssen zurückhaltend sein, sich mit Staaten oder Regierungen zu identifizieren. Aber das bedeutet auch, eine Weltsicht und Außenpolitik aufzugeben, die sich weigert, die Denkmuster des Kalten Krieges zu verlassen.
Die Welt hat sich weitergedreht. Die Linke muss sich der Anstrengung unterziehen, damit Schritt zu halten. Dass das für breite Schichten der Bevölkerung eine notwendige Voraussetzung ist, sie als progressive politische Kraft ernst zu nehmen, ist mehr als verständlich.