Eine Partei ohne Zukunft?
Eine Partei kann sterben oder zerstört werden, wenn die gesellschaftlichen Widersprüche, aufgrund derer sie entstanden ist, verschwunden sind; oder wenn es ihr an einer geteilten Vision fehlt, wie die relevanten Widersprüche der Zeit bearbeitet werden sollten, welche Lösungen die Partei wie vorschlagen sollte; wenn sie auf Dauer nicht nützlich ist, also nicht dazu beiträgt, dass sich ändert, was ihre Anhänger:innen kritisieren oder ablehnen; oder wenn es ihr nicht gelingt zwischen Basis und bekannten Persönlichkeiten auf mittlerer Ebene „Gesichter der Partei“ auszubilden, die verständlich und glaubhaft machen, was die Partei will und dass die Partei es auch kann; oder wenn sie sich angesichts gesellschaftlicher Umbrüche weigert sich verändern zu wollen, darauf beharrend, dass Erfolgsrezepte in der Vergangenheit liegen; oder wenn ihr eine Führung fehlt, die in unruhigen Zeiten eine klare Orientierung gibt, die begeistern kann. Eine Partei kann sterben oder zerstört werden, wenn sich mehrere dieser Probleme anhäufen und nichts unternommen wird, weil das zu schmerzhaften Verlusten führen würde. Nichts tun, um nichts zu verlieren.
An der Grenze der Zerstörbarkeit
Viele von uns kennen den Ausspruch „Klarheit vor Einheit“ und viele von uns kennen auch die Geschichte der lächerlichen Sekten, die den Trennungsstrich genau vor ihren Füßen ziehen. Klarheit vor Einheit heißt dann Rechthaberei, oft Theoriehuberei, nicht selten auch Freund-Feind-Denken. Das Gegenteil, Einheit vor Klarheit, kann dazu führen, dass sich politische Parteien in Krisenzeiten sterben legen. Probleme, von denen alle wissen, dass sie lähmend sind, werden ausgesessen. Eine solche Partei erstarrt, und eine solche Partei verliert an Ansehen und Anziehungskraft. Weil sie uneindeutig wird, weil sie Menschen in alle Richtungen enttäuscht, weil sie auch nicht mehr handlungsfähig ist. Der Appell, dass sich alle doch besser vertragen, sich doch lieber mit dem politischen Gegner beschäftigen sollten, klingt dann zwar plausibel, ist aber hilflos.
DIE LINKE ist an der Grenze dieses Zustandes. Es ist ja nicht so, dass die gesellschaftlichen Widersprüche verschwunden wären, aufgrund derer unsere Partei gegründet wurde. Die Macht der Konzerne und Lobbys, die bis zur Vorformulierung von Gesetzestexten reicht, ist nicht verschwunden, auch die Entkopplung der politischen Eliten von den einfachen Leuten nicht. Auch die soziale Krise ist nach wie vor da, nur offenbart sie sich nicht als Abstiegsgesellschaft für die Mehrheit, sondern als vielfach gespaltene Klassengesellschaft, in der brutale Armut und soziale Unsicherheit für eine große Minderheit mit einem respektablen, aber prekären Wohlstand für die mittleren Schichten der arbeitenden Klassen koexistiert. Und auch die Frage von Krieg und Frieden ist nach wie vor da, aber die Problemwahrnehmungen in der Bevölkerung haben sich doch deutlich verändert, seit der Krieg gegen den Terror, insbesondere gegen den Irak und in Afghanistan nicht mehr die öffentliche Debatte prägen. Von der Zäsur des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine ganz zu schweigen. „Neu“ ins Bewusstsein getreten ist vor allen Dingen die sich vertiefende Klimakrise, deren Bearbeitung durch die sozialliberale und konservative Mitte zu einer Art „liberalgrüner Hegemonie“ führt. Alle, außer der AfD und einigen Linken, sind heute grün. Und neu ins Bewusstsein getreten ist die Menschheitsfrage der Migration, die eng verbunden ist mit imperialistischer Ausbeutung des globalen Südens, mit Weltunordnungskriegen und mit den Folgen der Erderwärmung. Die Widersprüche, die eine starke Linke nötig machen, sind da. Aber die LINKE ist in der Krise.
Belastende unauflösbare Widersprüche
Wir haben uns alle ehrlich in die Augen geschaut, hart gestritten, uns nicht geeinigt. Alles ist vielleicht sogar schon 30 mal aufgeschrieben worden. Aber es gibt eben auch in einer Partei nicht auflösbare Widersprüche und es gibt solche, bei denen man produktive Kompromisse finden kann.
Ob DIE LINKE eine moderne ökologische sozialistische Partei sein will, oder eine sozialkonservative Kraft, ist ein nicht auflösbarer Widerspruch. Man kann darum ringen, was genau eine Partei des grünen Sozialismus tun und lassen sollte – zum Beispiel sollte sie die sozialen Anliegen der Arbeiter:innen und einfachen Angestellten in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen und davon absehen, die Lösung der Klimakrise in Konsumverzicht oder Ähnlichem zu suchen. Aber ob sie eine eigenständige, eine sozialistische Antwort auf die Klimakrise geben will, das darf nicht strittig sein.
Ob DIE LINKE eine moderne internationalistische Partei sein möchte, die Menschen hier ein Zuhause bieten will, wenn ihnen ihr Zuhause geraubt wurde, oder das von den Ressentiments der bereits hier Lebenden abhängig macht – das muss entschieden werden. Offen gestritten werden kann darüber, wie schnell Breschen in die Verteidigungsanlagen der Festung Europa geschlagen werden können, wie groß sie sein können und wie genau der Weg nach Europa gestaltet werden kann – all das ist abhängig von den Kräfteverhältnissen, auch von unserer Fähigkeit, dafür Zustimmung in der Bevölkerung zu gewinnen.
Ob die LINKE den Nationalstaat für das Ende der demokratischen Geschichte hält – etwas Besseres kann es nicht geben -, oder die Europäische Union, ganz ähnlich dem vordemokratischen Nationalstaat, als ein Feld der Auseinandersetzung begreift, das auch Chancen bietet, das kann auf Dauer nicht unklar bleiben. Man kann kritisieren, dass die EU heute undemokratisch, militaristisch, an ihren Grenzen inhuman und eher neoliberal ist. Aber wir müssen uns entscheiden, ob wir für ein Zurück zu den (angeblich) souveränen Nationalstaaten der 1950er und 1960er Jahre kämpfen, oder für eine demokratische, soziale, friedliche und humane Europäische Union. Man muss die Träume einer sozialen Republik Europa und eines grünen historischen Klassenkompromisses, der für alle Gutes bringt, nicht träumen, um das zu sehen – Träume, die in Athen wie Seifenblasen zerplatzt sind, als die Troika die SYRIZA-Regierung in die Knie zwang.
Und natürlich haben in der LINKEN Sozialdemokrat:innen, Revolutionäre und viele andere ihren Platz – aber ob wir eine moderne linksreformistische Partei sein wollen, die für einen demokratischen Sozialismus kämpft, indem sie an sozialen Bewegungen teilnimmt, gesellschaftlichen Widerstand mitorganisiert, den respektvollen Dialog mit den Menschen sucht und auch im Hier und Jetzt gestalten will, oder ob wir eine Art liberal-populistische Partei sein wollen, in der prominente Köpfe das A und O sind, das muss eben entschieden werden. Man kann dann darüber diskutieren, unter welchen Umständen es sinnvoll ist Regierungsmacht anzustreben, was nötig ist, um links erfolgreich zu regieren, wie genau das Verhältnis zwischen der Arbeit in sozialen Bewegungen und der Ansprache all derer aussehen muss, die mit sozialen Bewegungen eben niemals in Berührung kommen – aber entscheiden müssen wir uns trotzdem.
Hohe Dringlichkeit
Ketzer:innen sagen, wir hätte uns als Partei ja entschieden, nur habe das eben keine Folgen gehabt. Das stimmt. Unser Bild in der Öffentlichkeit ist desaströs, und dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Der anhaltende Streit, aber auch die gegensätzlichen Botschaften, die wir senden. Zu viel Selbstbeschäftigung, zu wenig Teilnahme an sozialen Kämpfen, zu wenig erfolgreiche Parlamentsarbeit. Wie gesagt, alles wurde bereits mehrfach geschrieben, man muss es nicht wiederholen.
Wenn DIE LINKE eine Zukunft haben will, braucht die Partei ein Ende des Sowohl-als-auch. Wer alle und alles zusammenhalten will, wird am Ende alles verlieren. Nach der Bundestagswahlniederlage ist kaum etwas passiert. Im Juni muss von unserem Parteitag ein klares Aufbruchssignal ausgehen. Das muss eine personelle und eine inhaltliche Seite haben.
Benjamin Hoff hat vorgeschlagen, strittige inhaltliche Fragen im kommenden Jahr mit Hilfe einer Kommission zu klären, die Konsense und Meinungsverschiedenheiten herausarbeitet, über die auf einem Parteitag 2023 entschieden werden können, um diese Entscheidungen dann durch Mitgliederentscheide bestätigen oder verwerfen zu lassen. Das ist im Prinzip ein guter Vorschlag, nur haben wir keine rund anderthalb Jahre mehr, um klar zu machen, dass wir noch da sind, dass wir Lebensmut haben und auch bereit sind, die uns lähmenden Streitfragen zu entscheiden.
In den letzten zwei Monaten hat sich die Krise der Partei verschärft, Menschen wenden sich zunehmend ab, Genoss:innen ziehen sich zurück oder treten aus. Lasst uns damit beginnen die strittigen Punkte auf dem Parteitag im Juni zu klären, ersparen wir uns langanhaltende programmatische Debatten und wenden wir uns den strittigen Fragen zu, die uns allen klar sind. Es spricht sehr viel dafür ein klare Entscheidung für eine auf Entspannungspolitik setzende, gegen Unterdrückung gerichtete und fortschrittliche Bewegungen unterstützende Außen- und Sicherheitspolitik zu treffen, die die LINKE unverdächtig macht, Sympathien für Diktaturen und Menschenrechtsverletzer:innen zu haben (egal, mit wem sie im Bündnis sind). Und es spricht ebenfalls viel dafür angesichts der heute bereits absehbaren problematischen Klima-, Sozial- und Verteilungspolitik der Ampelkoalition, einen klaren politischen Orientierungsrahmen zu verabschieden, mit dem wir darlegen wie wir als Partei des grünen Sozialismus in den kommenden 3 Jahren dafür sorgen wollen, dass die Klimakatastrophe verhindert, die Interessen der Beschäftigten gewahrt und wichtige Schritte auf dem Weg zur sozial gerechten Anpassung unserer Gesellschaft an die nicht mehr zu verhindernden Folgen der Erderwärmung gegangen werden (Stichwort Sturzfluten, Dürreperioden etc.). Nicht alles wird bereits im Juni geklärt werden können, aber wir müssen unbedingt damit beginnen.
Alles aus einer Hand
Die inhaltliche Unklarheit hat einen personellen Zwilling, unsere Führungsspitzen haben in den vergangenen Jahren zu sehr gegeneinander gearbeitet. Wir wirken nach außen nicht einfach wie eine Partei, in der es Meinungsverschiedenheiten gibt, wir wirken wie eine Partei, die keine geeinte und deshalb starke politische Führung hat. Leider haben die Vorsitzenden unserer Bundestagsfraktion weder mit Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, noch mit den vorherigen Parteivorsitzenden konstruktiv zusammengearbeitet. Zu oft war die Fraktion eine Art Opposition gegen die eigene Partei, zu häufig dachte sie sich eigene Forderungen aus, anstatt die der Partei zu vertreten. Gerade in den Fällen, in denen Parteivorstand und Fraktion geeint auftraten, etwa als unser Kandidat für das Bundespräsidentenamt vorgestellt wurde, wurde deutlich, welche Strahlkraft eine geeinte politische Führung haben könnte.
Deshalb gehört es zu einem wirklichen Aufbruch dazu, auch personell klare Signale zu senden: Partei- und Bundestagsfraktionsführung gehören meines Erachtens für eine begrenzte Zeit in eine Hand und der Juniparteitag sollte das auch entscheiden – inklusive eines Vorschlags, wer es machen soll. Man kann dagegen einwenden, dass es dem Pluralismus der Partei guttut, wenn die Verantwortung in mehreren Händen liegt. Das Image einer Partei, die nicht eine, sondern mehrere politische Führungen hat, wird uns allerdings umbringen. Ein solcher Schritt wäre eine Ausnahmereaktion und sollte es auch einmalig bleiben, bis nach der nächsten Bundestagswahl brauchen wir aber eine solide und einheitliche politische Führung. Eine Doppelspitze, die zugleich der Partei als auch der Fraktion vorsitzt, würde uns erlauben, die völlig destruktiven Entwicklungen der vergangenen Jahre abzustellen. Möglich wäre es dann, anstatt vier relativ unbekannte Gesichter der LINKEN zu haben, zwei viel stärker bekannt zu machen. Darüber hinaus wäre dafür gesorgt, dass die Positionen der Parteiführung und der Bundestagsfraktion nicht wiederholt in wichtigen Fragen deutlich auseinanderlaufen. Damit würden auch Energien bei allen Beteiligten frei, die im Moment gebunden werden, um wiederholt aufflammende Brandherde zu löschen. Anders gesagt: Es gäbe wieder ein strategisches Zentrum der Partei, auch an der Spitze.
Will DIE LINKE eine Partei mit Zukunft sein, dann muss jetzt etwas passieren.