Wachsende Ungleichheit in der EU
"Neues aus Brüssel" - In dieser Kolumne erfahrt ihr aus erster Hand, was sich im EU-Parlament gerade tut. Hier schreiben unsere EU-Abgeordneten über aktuelle Entwicklungen, politische Vorhaben und schauen für uns hinter die Kulissen. Auch wenn Brüssel und Strassburg oft weit weg erscheinen, werden die politischen Weichen doch längst auf EU-Ebene gestellt.
Die Europäische Union hat ein gravierendes Armutsproblem: 95 Millionen Menschen sind im drittgrößten Wirtschaftsraum der Welt von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Das heißt, soziale Teilhabe und die Lebensqualität eines Fünftels aller Europäer*innen sind gefährdet oder schon stark eingeschränkt. Selbst unter Berücksichtigung von sozialen Transferleistungen bleibt diese Zahl mit erschreckenden 85 Millionen Betroffenen noch immer grausam hoch. Etwas mehr als 6 Prozent der Bevölkerung litten 2018 gar unter schwerwiegender materieller Entbehrung. Beängstigende Fakten, die ich in meinem Initiativbericht „zum Abbau von Ungleichheiten mit besonderem Fokus auf Armut trotz Erwerbstätigkeit“ zusammengetragen habe. Der Bericht fordert die Kommission dazu auf, endlich aktiv zu werden. Dabei gibt es Handlungsbedarf in vielen Bereichen: Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnungspolitik, dem Zugang zu umfassenden sozialen Sicherungssystemen, sowie bei Tarifverträgen und Mindeststandards
Arm trotz Arbeit
Jede*r sechste arbeitet in der EU zu einem Niedriglohn, der weniger als zwei Drittel des nationalen Medianlohns beträgt – Tendenz steigend. Immer weniger gilt, dass Arbeit das beste Mittel gegen Armut ist. Die Verdrängung klassischer Arbeitsverhältnisse durch atypische und prekäre Beschäftigung, Gig-, Plattform- und Crowd-Worker, Schein- und Solo-Selbständigkeit, durch Ausgliederung, Fremdvergabe, Subunternehmer-Ketten, Privatisierung oder Liberalisierung führt zu einem Lohnunterbietungswettbewerb, zur Erosion der Tarifvertragssysteme. Schrumpfende Tarifabdeckung führt zu einer generellen Absenkung des Lohnniveaus. In mindestens 14 EU-Ländern ist die Hälfte der Arbeitnehmer nicht mehr von einem Tarifvertrag geschützt. Die EU muss daher Maßnahmen ergreifen, um Tarifverträge wieder zu stärken und gegebenenfalls wirksame gesetzliche Mindestlohnsysteme zur Bekämpfung der Armut durchsetzen.
Die von mir in Auftrag gegebene Studie „Zwischen Armutslöhnen und Living Wages: Mindestlohnregime in der Europäischen Union“, legt einen Überblick über die aktuelle Situation in der gesamten EU vor. Diese variiert in den Mitgliedstaaten stark in Höhe, Reichweite und Abdeckung. Nur in Frankreich, Portugal und Schweden liegt der Mindestlohn durchweg über der Armutsschwelle. Es gilt also jetzt dafür zu sorgen, dass die europäische Mindestlohnrichtlinie durch klare Schwellenwerte vor Armut trotz Arbeit schützt.
Die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt zu
Neben dem Armutsproblem hat die EU ein Problem mit wachsender Ungleichheit. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Das Nettovermögen pro Haushalt ging 2017 in den Ländern der Eurogruppe bei den unteren 20 Prozent zurück, während es bei den oberen 20 Prozent relativ stark anstieg. Die unteren 20 Prozent der Haushalte hatten mit einer Nettoverschuldung von durchschnittlich 4.500 Euro zu kämpfen, während das Nettovermögen der oberen 10 Prozent fast 1,2 Millionen Euro betrug! Die aktuelle Corona-Pandemie wird diese Ungleichheiten weiter verschärfen.
Es ist daher an der Zeit, dass die Kommission klare Vorschläge für Untergrenzen vorlegt, Mindeststandards für Telearbeit und andere atypische Beschäftigungsverhältnisse definiert und die Voraussetzungen für starke Tarifverträge schafft. Mein Initiativbericht unterstreicht zudem die Forderung nach einem sozialen Fortschrittsprotokoll – soziale Belange dürfen nicht weiter dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital untergeordnet werden.