„Je stärker die Linke, desto sozialer kann Europa werden“
Carola Rackete und Martin Schirdewan führen bei der kommenden Europawahl die Liste der Linken an. LINKSBEWEGT sprach mit ihnen über ihre politische Arbeit in- und außerhalb des Parlaments und die Ideen der Linken für ein besseres, gerechteres Europa.
- Die Linke
Carola, Martin, am 9. Juni sind Europawahlen. Ihr tretet als Spitzenkandidatin und Spitzenkandidat für die Linke an. Was steht bei dieser Wahl auf dem Spiel?
Martin Schirdewan: Es geht um eine bessere Zukunft für die große Mehrheit all der Menschen, die nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden. Nur ein Beispiel: Die Preise für Energie und Lebensmittel sind krass gestiegen, während die Löhne zurückbleiben – und die Vermögen der Reichen durch die Decke gingen. Sage und schreibe 99 Prozent der Menschen in der EU sind in den letzten drei Jahren ärmer geworden und das reichste 1 Prozent besitzt inzwischen fast die Hälfte des gesamten Vermögens. Aber unsere SPD-geführte Regierung macht kaum etwas gegen diese Gierflation.
Stattdessen gibt es weiter Politik für Konzerne. Bundesregierung und EU-Kommission kürzen im Sozialen und bei der öffentlichen Infrastruktur, aber pampern die Rüstungskonzerne. Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen, von Krankenschwestern bis Lehrerinnen, zahlen die Zeche. Und zu der breiten Unzufriedenheit, die diese Politik überall auslöst, fällt den Regierenden keine bessere Antwort ein, als den Rechten nachzuplappern und ihre Abschottungs-Parolen umzusetzen. So soll vom eigenen Scheitern abgelenkt werden.
Im Ergebnis droht im Europaparlament nun eine Koalition von Konservativen, Rechtspopulisten und Rechtsextremen die Mehrheit zu übernehmen. Ursula von der Leyen redet ja inzwischen sogar ganz offen über eine Zusammenarbeit mit der Postfaschistin Meloni und der extrem rechten Vox-Partei.
Wir setzen dagegen die alltäglichen Sorgen der Menschen ins Zentrum: ein bezahlbares Leben, ein für alle funktionierender Staat und ein gerechter Umbau unserer Wirtschaft, damit auch unsere Kinder noch ein erträgliches Klima erleben.
Carola Rackete: Bei dieser Europawahl geht es vor allem um zwei Fragen, die eng zusammenhängen: Können wir den Rechtsruck in Europa stoppen? Und schaffen wir es, zu verhindern, dass die Klimakrise völlig eskaliert – und so auch die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten noch verschärft? Echte Veränderung braucht natürlich starke Bewegungen auf der Straße, aber je weiter nach rechts das Europaparlament rückt, desto mehr Menschenrechte werden gebrochen werden und desto stärker können fossile Konzerne und Lobbyisten ihre Interessen zum Schaden der Allgemeinheit durchsetzen. Da droht ein Teufelskreis, den wollen wir unterbrechen.
Die Linke hat einen Gerechtigkeitswahlkampf angekündigt. Was bedeutet das?
MS: Wir erleben bei vielen Menschen gerade tiefen Frust, Wut und Ohnmacht. Wenn man nicht im politischen Betrieb versinkt, sondern mit den Leuten im Kontakt bleibt, bekommt man das auch in sehr deutlichen Worten gesagt.
Viele Menschen fragen sich, warum für Aufrüstung und Subventionen für Großkonzerne Geld da ist, aber nicht für ihre Alltagssorgen, den sozialen Wohnungsbau oder die dringend nötige Schulsanierung. Warum ihnen die Politik etwas von Klimaschutz erzählt, aber es nicht schafft, auf dem Land einen halbwegs funktionierenden öffentlichen Nahverkehr zu organisieren. Warum die Löhne für Krankenpfleger und Busfahrerinnen weit hinter die Inflation zurückfallen, während die Dax-Konzerne mehr Dividenden ausschütten als jemals zuvor.
Die Menschen spüren, dass da etwas aus dem Ruder läuft und nicht mehr so weitergehen kann. Sehr viele fragen sich: Wo bleibt die Gerechtigkeit? Hier setzen wir an. Wir zeigen, dass wir diese Entwicklungen umkehren können. Aber dafür braucht es eine grundsätzlich andere, soziale Politik, die den Mut hat, sich mit Reichen und Konzernen anzulegen. Wir machen Druck für eine Zeitenwende für Gerechtigkeit – und die gibt es #nurmitlinks.
CR: Ich denke, dass vielen inzwischen bewusst ist, dass die ökologischen Probleme aus sozialer Ungerechtigkeit resultieren. Gleichzeitig macht die Klimakrise jedes soziale Problem noch viel größer. Einer Vermögensabgabe ist deshalb dringend notwendig. Das Geld muss dann sinnvoll eingesetzt werden, zum Beispiel, um den ÖPNV besonders auf dem Land auszubauen, ihn kostenlos zu machen und Radinfrastruktur zu schaffen. Das sorgt für mehr soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz.
Aber auch in der Arbeitswelt muss sich vieles ändern: Die Menschen fordern gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne ein, wie zum Beispiel ganz aktuell bei der Kampagne zum Tarifvertrag der ÖPNV-Beschäftigten von Verdi und Fridays for Future, „Wir fahren zusammen“, die ich unterstützte.
Der notwendige Umbau der Wirtschaft muss sozial und ökologisch gerecht umgesetzt werden, und zwar unter Einbeziehung der betroffenen Beschäftigten und der lokalen Bevölkerung. Ein aktuelles Beispiel sind die brandenburgischen Tagebaue und der Autobauer Tesla. Der Kohleausstieg kommt – spätestens 2030. Die Beschäftigten der Kohleindustrie und abhängigen Firmen brauchen sichere Arbeitsplätze, damit der Wandel des Wirtschaftsstandorts Lausitz gelingen kann. Das Beispiel Tesla zeigt aber, dass der nötige Umbau nicht gelingt, wenn wir statt einer Verkehrswende für alle nur eine Antriebswende unter der Kontrolle von durchgeknallten Superreichen wie Elon Musk subventionieren. Die Proteste gegen das undemokratische und demokratiezerstörerische Agieren von Tesla in Grünheide verdeutlichen, dass so ein Pseudo-Umbau auch wenig Unterstützung in den betroffenen Kommunen hat.
Die Linke tritt mit einer spannenden Liste an, auf der auch parteilose Kandidierende aus sozialen Bewegung und Zivilgesellschaft antreten. Wie kam diese Entscheidung zustande? Und was bringen Özlem und Gerhard mit nach Brüssel?
MS: Mit unserer Liste zeigen wir, dass sich unsere Partei der Zivilgesellschaft und den sozialen Bewegungen öffnet. Wir möchten, dass bei uns Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen, um für eine gerechtere Gesellschaft einzutreten. Alle Kandidierenden bringen dabei ihren eigenen Hintergrund und die eigene Erfahrung ein. Das ist sehr wichtig.
Mein Herzensthema ist soziale Gerechtigkeit. Ich bin der einzige demokratische Spitzenkandidat aus dem Osten und habe die Folgen der Treuhandpolitik selbst erlebt. Und ich habe große Freude an der Auseinandersetzung mit den großen Konzernen und ihren tausenden Lobbyisten in Brüssel. Meine Umverteilungs-Botschaft ist klar: Löhne hoch, Profite besteuern, Preise und Mieten deckeln.
Niemand verkörpert den Anspruch, bedingungslos für Menschenrechte und Klimagerechtigkeit einzustehen, diese Kämpfe zu verbinden und sie nun auch mit derselben Verve ins Europaparlament zu tragen, so sehr, wie Carola. Die Rechten in ganz Europa haben das gleich als Kampfansage verstanden. Özlem ist seit Jahrzehnten engagierte Gewerkschafterin und setzt sich für Frieden und gegen Aufrüstung ein. Wir haben mit ihr eine unermüdliche Kämpferin für die Rechte von Arbeiter*innen im Parlament – ohne sie hätten wie die Mindestlohnrichtlinie, die europaweit verbindliche Vorgaben zu Lohnuntergrenzen und Tarifbindung macht, nicht durchbekommen. Gerhard ist jemand, der seit Jahrzehnten die Situation von Menschen, die unter der Zwei-Klassen-Medizin leiden, sehr genau im Blick hat. Er bekommt durch seine tägliche Arbeit als Sozialmediziner – unter anderem in seinem „Arztmobil“ – mit, wie immer mehr Menschen durch die sozialen Sicherungssysteme fallen. Er stellt sich dagegen, dass Gesundheit eine Ware sein soll. Denn dann fallen die Bedürfnisse der Kranken weiter hinten runter, siehe Pflegenotstand.
Wir brauchen im Europaparlament viel mehr Menschen mit solchen Perspektive aus dem echten Leben – die Lebensrealität der meisten Menschen kommt dort bei vielen Parlamentarier*innen sonst einfach nicht vor.
Carola, du möchtest dich unter Anderem um die europäische Landwirtschaftspolitik kümmern. Was läuft hier alles schief?
CR: Die aktuelle Landwirtschaftspolitik ist ein Riesenproblem – für die Landwirt*innen, aber gleichermaßen für alle anderen, denn Landwirtschaft betrifft uns alle: Lebensmittelpreise, Ernährungssicherheit, sauberes Trinkwasser, Klimaschutz, Artenvielfalt – all das ist damit verbunden. Auf EU-Ebene läuft hier schon lange vieles falsch. Wie bei anderen Fragen ist auch hier der Lobbyismus ein Hauptproblem.
Politik auf EU-Ebene wird hauptsächlich im Interesse von Saatgutkonzernen, Düngemittelherstellern und Großbetrieben gemacht, nicht im Interesse der Vielen, etwa der kleinen Landwirt*innen. Kleine und mittelständische Betriebe, Bio-Landwirte und Familienbetriebe finden wenig Berücksichtigung. Eine radikal veränderte Landwirtschaftspolitik muss dafür sorgen, dass sie von ihrer Arbeit leben können und dass Verbraucher*innen sich bezahlbar, ausgewogen und gesund ernähren können. Das ist auch möglich. Aber es setzt einen wirklichen Politikwechsel voraus.
Martin, du bist Fraktionsvorsitzender der Linken im Europaparlament und hast selbst von der starken Stellung von Konzernen und Lobbyisten in der EU gesprochen. Kann die Linke im Parlament trotzdem einen Unterschied machen?
MS: Ganz klar: ja! In der Tat haben wir bisher einiges erreicht – zum Beispiel die schon angesprochene Mindestlohnrichtlinie. Im EU-Parlament haben wir keinen leichten Stand – Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne machen dort gerne Dinge unter sich aus. Aber wir können starken Druck aufbauen, und manchmal bereits die Vorschläge der Kommission in entscheidenden Punkten zum Besseren verändern. So haben wir auch erreicht, dass die Rechte von Millionen Beschäftigen auf digitalen Plattformen – wie bei den Lieferdiensten – deutlich gestärkt wurden. Durch die neue Plattformrichtlinie der EU wird Scheinselbständigkeit deutlich zurückgedrängt werden, die Menschen haben mehr Rechte und kommen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Das ist auf unsere Initiative hin passiert. Natürlich braucht es das Zusammenspiel von Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und Bewegungen. Aber ohne unsere Linksfraktion wäre diese Verbesserung auch nicht gekommen. Wir machen also einen wichtigen Unterschied. Das zeigt: Je stärker die Linke, desto sozialer kann Europa werden.
Und womit soll es in der nächsten Legislaturperiode weitergehen?
Ganz wichtig sind Steuern und Investitionen. Es muss Schluss damit sein, dass Großkonzerne ihre Gewinne in Steueroasen verstecken können. Wir müssen ran an die Superreichen und den enormen Reichtum, der in Europa da ist, umverteilen. Mit dem Geld finanzieren wir eine gute Daseinsvorsorge und sozialen Zusammenhalt. So wird das Leben für die große Mehrheit wieder leichter.
Ampelparteien und Union haben dagegen in Europa mit den vermeintlich „neuen“ Schuldenregeln gerade einem Comeback der gescheiterten Kürzungspolitik den Weg geebnet. Sie halten dogmatisch an der Schulden- bzw Investitionsbremse fest. Wir wollen massive Investitionen in Schulen durchsetzen, statt das Geld in noch mehr Stacheldraht und Aufrüstung zu stecken. Wir wollen auch dafür sorgen, dass Städte und Gemeinde ihre Krankenhäuser und Nachverkehrsbetriebe nicht mehr privatisieren müssen. Denn mit der Gesundheit macht man keine Profite, und wie gut bzw schlecht eine privatisierte Bahn funktioniert, erfahren wir in Deutschland tagtäglich. So eine soziale Politik ist machbar, aber nicht ohne Druck von unten und ohne starke linke Präsenz im Parlament. Wenn wir ein gerechtes Europa wollen, müssen wir es den Reichen und ihren Lobbyisten nehmen.
Großes Thema für viele Parteien ist die Forderung nach weiterer Aufrüstung, um angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine die Sicherheit der EU zu organisieren. Haben sie unrecht?
Natürlich ist Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg ein Verbrechen, wir haben ihn von Anfang an verurteilt und mehr zivile Druckmittel wie Sanktionen gegen die Oligarchen gefordert. Im Gegensatz zu den anderen Parteien messen wir bei Völker- und Menschenrechten nicht mit zweierlei Maß, egal ob es um Putin oder den Nato-Partner Erdogan in der Türkei geht. Aber die Aufrüstung nützt doch vor allem den Rüstungskonzernen, bei denen knallen die Sektkorken. Die Rüstungsausgaben der EU-Staaten sind bereits mehr als zweimal so hoch wie die Russlands. Und die Aufrüstung geht bereits massiv auf Kosten des Sozialen, dabei gibt es keine Sicherheit ohne soziale Sicherheit. Ich finde, die EU-Staaten sollten sich endlich auf Verteidigung konzentrieren, aufhören der Rüstungsindustrie Geld hinterher zu werfen und Auslandseinsätze stoppen. Dann ist Sicherheit ohne Aufrüstung organisierbar. Und insgesamt muss die EU mehr für Ausgleich und Diplomatie eintreten, anstatt sich weiter selbst zum Teil der weltweiten Blockkonfrontation zwischen den USA und China zu machen.
Carola, du hast dich als Aktivistin entschlossen, nun für die Linke anzutreten. Warum ist es gerade jetzt so wichtig, die Linke zu wählen?
CR: Die Linke ist schlicht und einfach die einzige Partei, die ein durchdachtes Programm hat, das das unendliche Wirtschaftswachstum und die kapitalistische Ausbeutung in Frage stellt und sich für gerechte Verteilung einsetzt. Sie ist klar antifaschistisch und antirassistisch positioniert, sie hat ein Konzept für Klimaschutz, das niemanden zurücklässt. Soziale Gerechtigkeit steht für die Linke im Fokus. Es braucht Umverteilung von oben nach unten und die Partei traut sich, die Eigentumsfrage zu stellen. Sie nimmt als einzige Partei keine Konzernspenden an und kämpft für Menschen mit wenig Geld.
Kapitalismus und Klassenkampf sind starke Begriffe, die oft als Floskeln verwendet werden, aber wenn es eine Partei gibt, die bei diesen Begriffen nicht sofort aufschreit, sondern ihre Bedeutung verstanden hat, ist es die Linke. Eine unbequeme, konsequent linke Partei wird dringend benötigt: Als Impulsgeberin für konkrete Verbesserungen, als Vertreterin der Beschäftigten und Ansprechpartnerin der sozialen Bewegungen, aber auch als starke Opposition. Deshalb gilt: Wer sozial gerechten Klimaschutz will, sollte am 9. Juni die Linke wählen.
Carola, Martin, vielen Dank für das Gespräch!