Das "Haus Europa" ist eine Bruchbude
Am Mittwoch hielt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre alljährliche "State of the Union". In dieser Rede zieht sie traditionsgemäß Bilanz und verkündet neue Projekte und Vorhaben. Martin Schirdewan, Vorsitzender der Fraktion THE LEFT im EU-Parlament und der Partei DIE LINKE, hat ihr am Mittwoch im Plenum geantwortet und die Präsidentin mit ihrer tatsächlichen Bilanz konfrontiert. Hier seine Rede:
Politischer Erfolg bemisst sich nicht in schönen Sonntagsreden, Frau von der Leyen, sondern in der Lebensrealität der Mehrheit der Menschen. Und was für große Worte Sie in Ihren Reden benutzen: soziale Gerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Durchbruch beim Klimaschutz, Tierschutz, Respekt und Würde. Kurz: Sie haben den Europäerinnen das Blaue vom Himmel versprochen.
Doch die Realität sieht anders aus. Ein einfacher Arbeiter in der EU hat im letzten Jahr ca. vier Prozent Reallohnverlust hinnehmen müssen. Dieser Arbeiter kann sich den wohlverdienten Urlaub mit seiner Familie nicht mehr leisten, weil Strom, Heizung und Miete immer teurer werden. Der versteht doch die Welt nicht mehr, wenn Sie von sozialer Gerechtigkeit reden. Die alleinerziehende Mutter empfindet das Gerede von der europäischen Kindergarantie als reinen Zynismus, weil sie darum kämpft, das tägliche Essen zu bezahlen, das während Ihrer Präsidentschaft um satte 34 Prozent teurer geworden ist.
Keine Übergewinnsteuer und kein Preisdeckel
Die Gründe für die Inflation, die ganz Europa erfasst hat, sind bekannt: Spekulation und Preistreiberei. Konzerne verdienen sich eine goldene Nase und schütten Rekorddividenden an ihre Aktionäre aus. Und Sie? Sie haben einfach nichts gemacht. Keine Übergewinnsteuer und kein Preisdeckel auf europäischer Ebene. Stattdessen sind 95 Millionen Menschen in der EU von Armut bedroht. Das ist die Bilanz, an der Sie sich messen lassen müssen.
Ich habe einen Rentner in meinem Wahlkreis in Ostdeutschland getroffen, der bekommt eine monatliche Rente von 660,00 Euro ausgezahlt. Nachdem er sein Leben lang hart geschuftet hat. Das ist doch zum Leben zu wenig, und zum Sterben zu viel. Und so geht es jedem vierten Rentner in der EU, die von einem Lebensabend in Würde so viele Lichtjahre entfernt sind wie diese Europäische Kommission von der Lebensrealität der meisten Menschen.
Die Menschen sind zu Recht wütend
Aus dem Haus Europa, in dem alle ein Zuhause haben sollten, ist eine abgewirtschaftete Bruchbude geworden. Und das ist auch ihre politische Verantwortung. Und was machen Sie? Sie rüsten auf, halten gegen jede wirtschaftliche Vernunft am kaputten Energiemarkt und an der europäischen Schuldenbremse fest und pflegen Steueroasen. Aber wir reden hier doch nicht über Guerilla-Gardening, sondern darüber, dass Sie auch in Zukunft die Spar- und Kürzungspolitik fortsetzen wollen, und so Zukunftsinvestitionen, die Stärkung der Öffentlichen Daseinsvorsorge, den Kampf gegen Armut verhindern. Das grenzt doch an politische Realitätsverweigerung.
Die Leute sind zu Recht wütend: Zur selben Zeit, in der diese von Existenzsorgen geplagt sind, machen die Energieunternehmen, die Lebensmittelkonzerne, die Wohnungskonzerne und vor allem die Rüstungsindustrie immer weiter ihre obszönen Profite. Aber sie waren nicht in allen Bereichen untätig: Sie haben zum Beispiel einen Migrationspakt aufgelegt. Von Respekt und Würde haben Sie in diesem Zusammenhang gesprochen. Frau von der Leyen: Abschiebelager, zerstörte Familien, die Militarisierung der Grenzpolizei und tödliche Pushbacks haben rein gar nichts mit Respekt und Würde zu tun. 11.000 Tote an den EU-Außengrenzen gab es seit 2020. 8 Tote an jedem einzelnen Tag ihrer Präsidentschaft. Ich frage mich, wie Sie nachts überhaupt noch schlafen können.
Also Schluss mit den Sonntagsreden, Frau von der Leyen. Machen Sie endlich eine Politik für die Mehrheit der Menschen. Wer ein Europa will, der muss es den Reichen und Konzernen nehmen.