Diese Wahlen waren unfrei!
Für uns als Partei die LINKE besteht kein Anlass, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu seiner knappen Wiederwahl zu gratulieren. Der Türkei steht die weitere Verschärfung ihrer gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Krise bevor. Die AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Erdoğan hat nicht nur islamistische Wurzeln, sondern steht auch in der Tradition jener konservativen und islamistischen Parteien, die seit Jahrzehnten zusammen die Mehrheit stellten. So konnte sie breite Bündnisse für den autoritären Umbau des Landes mobilisieren, anfangs gar mit dem Versprechen der politischen Liberalisierung. Der strenge Kemalismus und die Militärdiktatur hatten das Land tief geprägt. Doch die Bündnisbildungen im Vorfeld und die knappe Wiederwahl Erdoğans mit etwa 52 Prozent der Stimmen haben einmal mehr gezeigt: Inzwischen kann die AKP nicht einmal mehr alle konservativen Kräfte hinter sich vereinen. Dennoch gibt es eine große konservative Mehrheit und rechtsradikale Kleinparteien konnten großen Einfluss entfalten.
Das Dilemma der linken Opposition
Für oppositionelle Kräfte, wie die HDP (Demokratische Partei der Völker), die YSP (Grünlinke Partei) und auch die TİP (Arbeiterpartei der Türkei) ist dies ein schweres Terrain. Sie sind gezwungen, langfristige gesellschaftliche Alternativen entwickeln und zugleich tagespolitische Chancen zu nutzen. Deshalb unterstützte die HDP/YSP den Kandidaten der kemalistischen Opposition Kemal Kılıçdaroğlu und stellte eigene inhaltliche Bedenken bewusst zurück. Mit der möglichen Abwahl Erdoğans war keine Hoffnung auf eine unmittelbare und tiefgreifende Demokratisierung verbunden, aber eine reale Perspektive darauf, zumindest die Dominanz der AKP in Parlament und Präsidialamt zu sprengen. Kein hinreichender, aber doch ein notwendiger Schritt der Liberalisierung hin zu einer späteren Perspektive der Rückkehr zur Demokratie.
Darum waren diese Wahlen nicht frei
Um diese Chance wurden die Menschen in der Türkei betrogen, denn Wahlen dienen nach dem Willen der herrschenden AKP und des amtierenden Präsidenten nicht mehr dazu, die Machtfrage zu stellen. Sie dienen der Machtabsicherung nach innen du dem Gewinn von Ansehen nach außen. Die Mittel, mit denen dies erreicht wurde, illustrieren die Fragilität der herrschenden Verhältnisse. Die Wahlen waren unfair, weil die Regierung die zentralen Mittel kontrolliert, um den öffentlichen Diskurs über Medienmacht zu lenken. Weil zudem der Zugang oppositioneller Kräfte zu Sendezeit in staatlichen Sendern aktiv behindert wurde, waren sie sogar unfrei. Die Wahlen waren auch unfrei, weil sie der HDP im Vorfeld mit Verbot drohten und sie so dazu zwangen unter dem Namen einer anderen weniger bekannten Partei, der YSP, anzutreten. Sie waren unfrei, weil die bekanntesten HDP Ko-Vorsitzenden, trotz Forderung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nach Freilassung, nun schon viele Jahre inhaftiert sind. Auch der aussichtsreichste Kandidat der kemalistischen Opposition, Ekrem İmamoğlu, konnte, wegen laufender (fadenscheinig begründeter) Verfahren, nicht kandidieren.
Diese und viele andere Einschränkungen für die oppositionellen Kräfte machen es unmöglich, von zu von freien Wahlen zu sprechen. Sie gibt es nur dort, wo politische Betätigung in Freiheit stattfinden kann. Wer auch immer angesichts dessen von unfairen, aber freien Wahlen in der Türkei spricht, verharmlost die dort herrschenden autokratischen Verhältnisse. Wieder einmal wurden aus dem Wahlprozess an sich viele Unregelmäßigkeiten und Übergriffe gemeldet. Bis zu welchem Grad hierbei direkt Einfluss auf das Wahlergebnis genommen wurde, ist seriös nicht abschätzbar. Dafür bedürfte es transparenter Institutionen und eines Mindestmaßes an Gewaltenteilung.
Doch das eigentliche Problem liegt tiefer: Von Manipulation können wir nur sprechen, wenn es zuvor einen Prozess der demokratischen, fairen und freien Willensbildung gegeben hat, auf den hinterher Einfluss genommen wurde. Unter den Bedingungen einer de facto Autokratie mit kontrolliertem Wettbewerb gibt es eine solche freie Willensbildung nicht mehr.
Heuchlerische Glückwünsche aus der EU
Die Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans drückt auf politischer Ebene die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse aus, die im Mai 2023 in der Türkei herrschen. Der Kampf um die Veränderung dieser Kräfteverhältnisse geht zwischen den Wahlen weiter. Als Partei DIE LINKE stehen wir solidarisch an der Seite jener, die für emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung, für Befreiung von Autoritarismus, Ausbeutung und Unterdrückung jeder Art kämpfen. Zahlreiche islamistische und ultranationalistische Vorfeldorganisationen von AKP und MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) sind auch hierzulande aktiv. Auch deswegen verlangen wir von der Bundesrepublik, türkeistämmige Oppositionelle hierzulande aktiv zu schützen. Der sogenannte Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist nicht nur inhuman gegenüber Geflüchteten, er hat die EU auch erpressbar gemacht. Deshalb die raschen Glückwünsche aus den Hauptstädten Europas.
Wer dieser Tage Erdoğan zur Wahl gratuliert, unterstützt damit ein Regime, dass Oppositionelle unterdrückt und weder Respekt gegenüber Menschenrechten noch Menschenleben überhaupt hat, wie zuletzt der Umgang mit dem Erdbeben, aber auch der Austritt aus der İstanbuler Konvention zum Schutz von Frauen, klar zeigten. Die fortschrittlichen feministischen und queeren Kämpfe werden nun weiter erschwert, sie bedürfen unserer Solidarität.