Moralische sozialdarwinistische Ramschpreise
Ende 2021 bebten die sozialen Netzwerke: Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) wetterte mit Blick auf das Tierwohl, Klima und die Bauern gegen "Ramschpreise" für Lebensmittel. Der neue grüne Landwirtschaftsminister kritisierte, dass uns "ein gutes Motorenöl wichtiger sei, als ein gutes Salatöl". Als "Chef der Bauern" hat er natürlich das Wohl der Agrarwirtschaft im Blick. Als Vertreter einer Klimapartei das Klima. Und als Esser, selbst Vegetarier, das Tierwohl. Özdemir hat natürlich damit recht, dass das Tierwohl in Massenbetrieben katastrophal ist. Die Arbeitsbedingungen in den Schlachtbetrieben stehen diesen aber übrigens auch nichts nach: Die Ausbeutung der Arbeiter*innen ist oftmals an der Tagesordnung. Mit der Jahreswende gibt es immerhin 11 Euro Mindestlohn. Nun ja, ob es etwas an den Arbeitsbedingungen ändert, an den mangelnden Mindestlohnkontrollen oder den kärglichen Unterbringungsbedingungen der ausländischen Mitarbeiter*innen wird sich zeigen. Wenn der „Bauernchef“ jetzt Vorgaben für die Produktion plant, die zu mehr Tier- und Klimaschutz und damit auch zu steigenden Preisen führen, bleiben wir bei der Variablen der Landwirtschaftsbetriebe, die auf Gewinnmaximierung setzen. Geringster Platz, größter Gewinn. Angedachte Investitionsförderungen für gute Haltungsbedingungen liegen dann in der Eigenverantwortung der Bauern. Es ist ein großes Thema und nicht in einem „Sozial-Kommentar“ agrarpolitisch zu behandeln.
Soziales und ökologisches gehören zusammen
Was führte nun zum Beben in den sozialen Netzwerken? In meinen Augen die schlichte Angst um noch teurere Lebensmittel in Anbetracht der Inflation von derzeit rund fünf Prozent. Nicht zu vergessen die steigenden Energiekosten bei den Strom-, Heiz,- und Mobilitätskosten. Menschen mit einem niedrigen Einkommen, seien es die, die Sozialleistungen aller Arten, niedrige Einkommen oder Armutsrenten beziehen, können diese Kosten kaum oder gar nicht mehr kompensieren. Sie müssen zu wahren Umschichtungskünstler*innen werden. Steigen die Stromkosten, wird an der Kleidung gespart. Oder am Essen. Oder an anderen Dingen - sofern es noch irgendwo etwas zum Einsparen gibt. Sozialleistungen wurden 2022 für eine alleinstehende Person gerade mal um drei Euro erhöht, für Kinder und Jugendliche um zwei Euro. Der Mindestlohn liegt derzeit bei 9,82 Euro. Wann die 12 Euro kommen, ist derzeit ungewiss. De facto gab es unter der Berücksichtigung der Inflation eine Kürzung der Sozialleistungen. Und bis heute vermisse ich in der Ampelkoalition das Engagement, die Umsetzung ihres Wahlversprechens, die Regelleistungen zu erhöhen. Nicht mal die 50 Euro waren drin. Und dann kommt neben all den sonstigen bereits beschlossen Verteuerungen ein weiterer Vorstoß aus der Klimapartei und nimmt die von Armut Betroffenen erneut nicht mit. Ohne einen Gedanken daran, der Soziales und Ökologisches miteinander verbindet, machen die Grünen denselben Fehler wie in der Schröder Ära wieder: Sie verlieren die Unterstützung der Bevölkerung – insbesondere, aus der Gruppe, die jeden Euro umdrehen müssen. Für mich ist das ein moralischer Sozialdarwinismus. Das macht mich wütend. Es ist respektlos.
Nur Mut Bündnis 90/Die Grünen!
Özdemir nennt es „Ramschpreise“. Aber wer wenig Einkommen hat, für den sind es Sonderangebote, mit denen man überhaupt über den Monat kommt, um sich oder die Familie zu ernähren. Natürlich ist ein Klimaminister nicht für Sozialpolitik zuständig. So könnte man argumentieren. Und so argumentiert auch Özdemir, wenn er in einem Interview sagt: „Landwirtschaftspolitik muss selbstverständlich sozial sein – aber sie ersetzt eben nicht die Sozialpolitik.“ Nur, wenn die Ampel-Sozialpolitik unter ferner liefen läuft und die Regelsatzerhöhungen bei den Sozialleistungen nur aus warmen Worten besteht, dann klingt es nach: irgendwann. Ihre "Sozialpolitik" ist dann schlicht nicht mehr greifbar. Das macht jedoch angreifbar – auf der Seite des Klimaministers. Und diese Kritik muss er sich gefallen lassen. Wer, wie die Grünen, im Wahlkampf sozial spricht, sollte dieses nicht in der Realität der Regierung ausblenden. Und wer in früheren Jahren der Opposition für Soziales gekämpft hat, sollte seine Vergangenheit nicht vergessen und die Fehler der Schröder-Ära nicht wiederholen. Die Lebensmittelpreise werden sich nicht von heute auf morgen analog der Vorstellungen Özdemirs verändern. Aus diesem Blickwinkel ist die Zeit vorhanden, sich als ersten Schritt an die Erhöhung der Sozialleistungen zu setzen, das Versprechen der Mindestlohnerhöhung schleunigst umzusetzen und ein Energiegeld als Bremse der steigenden Energiekosten sofort auszuschütten. Nur Mut Bündnis 90/Die Grünen!