Zwang mit Hartz IV: Essen was auf den Tisch kommt
Inge Hannemann ist eine der bekanntesten Kritiker:innen des Hartz-IV-Systems. In ihrer Kolumne für "Links bewegt" schreibt sie regelmäßig zu sozialpolitischen Themen.
Es war Anfang August. Ein Urteil des Bundessozialgerichts Kassel (B 4 AS 83/20 R) führte zu einer großen Empörungswelle in den sozialen Netzwerken.
Was war geschehen? Ein Kellner, der zugleich mit Hartz IV aufstockte, hatte dagegen geklagt, dass ihm von seinem Arbeitgeber bereitgestelltes Essen vom Hartz-IV-Regelsatz abgezogen wird. Die Klage blieb erfolglos. Das Jobcenter berücksichtigte das Essen als monatliches Einkommen von durchschnittlichen 30,18 Euro. Der Kläger hatte von 2008 bis 2018 in Berlin in Vollzeit als Kellner im Schichtdienst gearbeitet. Vom Arbeitgeber erhielt er kostenfrei Getränke und Verpflegung. Parallel bezog er für sich und seine Frau und den drei Kindern aufstockendes Arbeitslosengeld II. Ein zuvor eingereichter Widerspruch und eine Klage vor dem Berliner Sozialgericht blieben ebenfalls erfolglos. Der Vater argumentierte, dass er die Verpflegung nicht in Anspruch nehme, da er lieber zuhause esse, um bei seiner Familie und seiner behinderten Tochter zu sein. Laut Urteil wolle er so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Dem Gericht war es egal, ob der Vater die Leistung in Anspruch nimmt oder nicht und nennt es „unbeachtlich“. Nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) sei es als Einkommen zu bewerten.
Selbstbestimmung passé
Dieser Fall und ähnlich gelagerte Fälle beschäftigen immer wieder die Sozialgerichte. Verlierer sind die Leistungsberechtigten. Ich möchte hier nicht auf die komplexe Rechtsgrundlage eingehen, die leider für die Jobcenter spricht. Die Empörungswelle in den sozialen Netzwerken war berechtigt. Und in jedem neuen Fall ist sie weiterhin berechtigt. Mir geht es um die Selbstbestimmung und die bestehende Abhängigkeit, trotz eines Vollzeitjobs, zum Jobcenter. Da arbeitet jemand in Vollzeit und dazu noch im Schichtdienst und muss gleichzeitig parallel mit Hartz IV aufstocken. Da stellt sich die Frage: War der Lohn zu mickrig? Die Antwort kann nur lauten: Ja. Die Fans des Wirtschaftsneoliberalismus klingeln schon in meinen Ohren: „Die Familie kann dankbar sein für die staatliche Aufstockung. Auch die Gastronomie muss überleben“.
Das Jobcenter steht nun als Bindeglied zwischen dem Arbeitgeber und der Familie und stockt den Lohn auf. Der Vater tut aber alles, um irgendwie den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten: Er nimmt den mickrigen Lohn und den Schichtdienst in Kauf. Nicht einfach bei drei Kindern. Nur wirklich selbstbestimmen, ob er das ihm zur Verfügung gestellte Essen in Anspruch nimmt oder nicht, darf er nicht. Darf er soweit zumindest nicht, was seinen Hartz-IV-Anspruch betrifft. Abzüge hat er immer. Dass er lieber die Zeit mit seiner Familie verbringt: Egal. Seine Familie mutiert in diesem Moment zu einem „Geldeswert“. Das sagt zumindest das Gericht. Gefühle und Familienzeit werden zu einem Geldfaktor. Gesetzlich festgelegt. Staatlich verordnet.
Gesetze stehen über Menschlichkeit
Natürlich können Gesetze keine Menschlichkeit oder Empathie ersetzen. Aber Gesetze und Menschen, die in Institutionen sitzen, bevor es zu Gerichten geht, können Menschlichkeit und Empathie walten lassen. Hier hätte das Berliner Jobcenter dem Vater einen Wink geben können, dass der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag entsprechend ändert, damit das Essen nicht erscheint. Einen Satz zum „Kunden“ und die Familie hätte 360 Euro jährlich mehr gehabt und auch das „Fördern“ des Sozialgesetzbuch II wäre umgesetzt worden. Der Kellner rutscht mit dieser Abhängigkeit in eine Als-Ob-Arbeitnehmer Position. Seine Unabhängigkeit vom Jobcenter kann er damit niemals überwinden. Die Entscheidung des Gerichts verstärkt diese Chancenlosigkeit erneut. Eine Arbeitsaufnahme erfolgt auch, um auf die eigenen Lebensumstände aktiv Einfluss zu nehmen. Mit der Macht, die selbst die Nahrungsaufnahme von außen bestimmt, wird diese Selbstermächtigung immens gestört. Es ist ein Teil des Gesamtbildes von Hartz IV: Eine Erziehungsgewalt, die durch eine Gesetzgebung durch Dritte bestimmt wurde und noch immer wird. Durchbrochen wird sie nur, wenn Hartz IV überwunden wird. Durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung und der Abschaffung des Kleinklein der Verordnungen, die sich hinter dem Sozialgesetzbuch II verstecken.