Halbierter Fortschritt
Der Koalitionsvertrag bringt eine nachholende Modernisierung des Landes. Aber an entscheidenden Punkten versagt die Ampel: Fortschritt gibt es vor allem, solange er wenig kostet - und Konzernen und Reichen nicht weh tut. Der nötige Politikwechsel ist so nicht zu schaffen.
Mehr Fortschritt wagen?
Die neue Koalition geizt nicht mit großen Worten: „Mehr Fortschritt wagen“ ist die Überschrift des Koalitionsvertrages von SPD, Grünen und FDP. Ganz unbescheiden stellt sich Kanzlerkandidat Olaf Scholz damit in die Tradition von Willy Brandt. Im Vergleich zu 16 Jahren CDU-geführter Regierung gibt es tatsächlich einige Fortschritte. Sie finden sich vor allem auf gesellschaftspolitischer Ebene - und wurden von der Zivilgesellschaft (und auch der LINKEN) seit Jahren eingefordert: Eine Mehrfachstaatsangehörigkeit wird ermöglicht; Einbürgerung soll es schon nach 5 Jahren (bzw. bei „besonders guter Integration“ nach 3 Jahren) geben, ein Partizipationsgesetz soll kommen, das Wahlalter wird auf 16 Jahre abgesenkt, Cannabis-Konsum soll legalisiert werden. Der Paragraph 219a (Einschränkung der Information über Schwangerschaftsabbrüche) wird ebenso abgeschafft wie das Transsexuellengesetz, das Familien- und Abstammungsrecht wird reformiert. Auch auf bürgerrechtlicher Ebene gibt es Verbesserungen: Es soll ein Demokratiefördergesetz für die engagierte Zivilgesellschaft und eine Kennzeichnungspflicht bei der Bundespolizei geben. Nicht zuletzt werden große Ziele hinsichtlich des Klimaschutzes formuliert: Der Kohleausstieg soll „idealerweise“ bis 2030 erreicht, der Ökostromausbau beschleunigt, ein Qualifizierungsgeld für den Strukturwandel eingeführt und die E-Mobilität gefördert werden. Hier zeigt sich aber schon das zentrale Problem der Ampel - mit Reichen und Konzernen will sie sich nicht anlegen. Fast überall, wo es darauf ankäme, endlich den Markt zu regeln, hat sich die marktradikale FDP durchgesetzt.
Gebrochene Wahlversprechen
Die Liste gebrochener Versprechen ist lang. Verkehrswende? Faktisch abgesagt, es gibt keinen Ausstieg aus dem Verbrennermotor bis 2030, kein Ende klimaschädlicher Milliarden-Subventionen (Dienstwagenprivileg) und kein Tempolimit. Dafür übernimmt die FDP das Verkehrsministerium. Fahrpreise bei der Bahn sollen nur gesenkt werden, wenn im Haushalt Mittel gefunden werden. Alle öffentlichen Investitionen stehen unter Vorbehalt der Schulden- bzw. Investitionsbremse und eines FDP-Finanzministers. Höhere Steuern auf Vermögen sind zugleich ausgeschlossen. Sozialpolitisch hat die SPD zwar eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro durchgesetzt, aber der ist zu gering, um vor Altersarmut zu schützen. Das Rentenniveau wird stabilisiert, aber das ist längst zu niedrig. Zudem soll mit der Rente jetzt an der Börse spekuliert werden. Hartz IV wird durch größere Schonvermögen und längere Fristen abgemildert, es gibt Geld für Weiterbildung und die Sanktionen werden entschärft. Aber von einer Erhöhung der viel zu niedrigen Regelsätze ist keine Rede mehr. Die Höhe der Kindergrundsicherung ist ebenfalls unklar. Die Erfolge bei der Pflege (Personalbemessung, Gehaltslücke zwischen Altenpflege und Krankenpflege schließen) sind vor allem Ergebnis von Streiks und Druck, auch von der LINKEN. Jenseits dieser "Leuchtturmprojekte" wird es richtig düster. Obwohl SPD und Grüne bezahlbares Wohnen zu „der sozialen Frage“ erklärt haben, gibt es keinen Mietenstopp. Die Senkung der Kappungsgrenze, der Bau von Sozialwohnungen und die Einführung einer Wohngemeinützigkeit wird die Mietenexplosion nicht stoppen. Die Profitorientierung der Krankenhäuser bleibt und eine Bürgerversicherung kommt immer noch nicht. Dafür gibt es höhere Beiträge für die Pflegeversicherung, die vom Lohn abgehen. Für die Pflegekräfte gibt es nur eine Bonuszahlung statt endlich mehr Grundgehalt. Kleine und mittlere Einkommen werden steuerlich nicht entlastet, so verstärkt sich die Ungleichheit. Befristungen werden nur symbolisch eingeschränkt, die Leiharbeit gar nicht. Die Patente auf Impfstoffe bleiben in Kraft.
Auch in der Europapolitik gibt die Ampel das große Ziel aus, einen „föderalen europäischen Bundesstaat“ zu schaffen. Aber in der Finanz- und Währungspolitik verteidigt sie den Status Quo. Zwar ist von einer Investitionsinitiative zu lesen. Doch zusätzliche Schulden sind nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Der Stabilitätspakt soll die Regel, der kreditfinanzierte Corona-Wiederaufbaufonds ein »zeitlich und in der Höhe begrenztes Instrument« bleiben.
Aufrüstung und Waffenexporte gehen mit der Ampel weiter. Die konkrete Ausgestaltung des Rüstungsexportkontrollgesetz ist offen, sicher ist, dass die Bundeswehr Killerdrohnen bekommt. Und selbst beim Flüchtlingsschutz zeigt sich, dass die „Weltoffenheit“ der Ampel scharfe Grenzen hat: Sie kündigt eine "Rückführungsoffensive" an, die Kooperation mit Diktatoren zur Flüchtlingsabwehr geht weiter.
Das zeigt: In den entscheidenden Konflikten hat sich die FDP gegen die Wahlversprechen von SPD und Grünen durchgesetzt. Der Fortschritt der Ampel ist halbiert und lässt die Menschen außen vor, die weniger Geld und keine starke Lobby haben. Wo Maßnahmen Geld kosten, steht ihre Finanzierung unter Vorbehalt. Da Steuererhöhungen für Reiche und Konzerne ausgeschlossen sind und alle Ausgaben vom FDP-Finanzminister überprüft werden sollen, drohen, spätestens im Fall einer Abkühlung der Konjunktur, sogar Kürzungen. Macron hat in Frankreich gezeigt, dass diese Politik ein echter Booster für die extreme Rechte ist.
Eine umfassende Einschätzung des Koalitionsvertrags der Ampel-Parteien durch den Bereich Strategie und Grundsatz der Partei DIE LINKE findet sich hier.