Wer sind die potenziellen Linken-Wähler*innen und wenn ja, wie viele?

Nach den schwierigen Wahlergebnissen in den vergangenen Jahren und der Abspaltung des BSW wird viel darüber gesprochen, welche Wähler*innen Die Linke ansprechen kann und muss, um 2025 wieder in den Bundestag einzuziehen. Im Januar hat Mario Candeias mit der Rosa-Luxemburg Stiftung einen Fokus auf die Beschäftigten im Wähler*innenpotenzial der Linken gelegt.[1] Carsten Braband hat in den vergangenen Monaten untersucht, mit welchen Positionen Die Linke bei ihren potenziellen Wähler*innen gewinnen und verlieren kann.[2] Jetzt liegt eine neue repräsentative Studie vor.[3] Hier finden wir einige Antworten auf die Fragen: Wer sind die potenziellen Wähler*innen und was denken sie?

Gibt es noch eine Wähler*innenbasis für Die Linke?

Die erste und wichtigste Frage, die sich nach den schlechten Wahlergebnissen seit der Abspaltung des BSW stellt: Gibt es überhaupt noch Wähler*innen, die sich vorstellen können, Die Linke zu wählen? Die Antwort darauf ist Ja. 16 % der Menschen können sich vorstellen, Die Linke zu wählen, hochgerechnet auf die Wahlberechtigten sind das knapp 10 Millionen Menschen in Deutschland.

Das Wähler*innenpotenzial ist damit kleiner geworden – vor einem Jahr waren es noch ca. ein Fünftel der Wahlberechtigten, die sich vorstellen konnten, Die Linke zu wählen. Einige Wähler*innen können das nach der Gründung des BSW also vorerst nicht (mehr) vorstellen. Im Osten hat sich das Potenzial stärker verringert als im Westen. Das Wähler*innenpotenzial in West- und Ostdeutschland hat sich angenähert und ist jetzt nahezu gleich groß. Im Westen wohnen mehr Menschen, daher wohnen ungefähr drei Viertel der (potenziellen) Wähler*innen der Linken im Westen.

Wer sind die potenziellen Wähler*innen?

Die allermeisten potenziellen Wähler*innen leben in den größeren Ballungsräumen. Einerseits, weil dort sowieso die meisten Menschen wohnen. Und Die Linke hat in Ballungsräumen ein prozentual höheres Potenzial: In Ballungsräumen mit mehr als 500 000 Einwohner*innen können sich 19% der Menschen vorstellen Die Linke zu wählen – in Regionen mit weniger als 20 000 Einwohner*innen sind es nur 9%. Das bedeutet: Drei Viertel der Wähler*innen der Linken wohnen in Regionen mit mehr als 100 000 Einwohner*innen. Diese urbanen Regionen sind sehr unterschiedlich zusammengesetzt und umfassen auch Vororte bzw. Metropolregionen – so zählt z.B. Strausberg zum Ballungsraum Berlin. Ein Schwerpunkt auf Regionen mit mehr als 100 000 Einwohner*innen würde nicht bedeuten, sich nur auf „linke Szeneviertel“ zu konzentrieren, sondern auch Arbeiterviertel, Plattenbaugebiete, ländliches Umfeld.       

Jede vierte Person unter 29 kann sich vorstellen, Die Linke zu wählen – bei den über 60-Jährigen ist es nur jede 10. Person. Zwar ist unser Wähler*innenpotenzial bei den Unter-29-Jährigen am größten, doch in absoluten Zahlen machen sie nur ein Viertel der potenziellen Wähler*innen aus – die über 60-Jährigen machen ein weiteres Viertel des Potenzials aus. Über die Hälfte unseres Potenzials ist erwerbstätig (56 %), knapp ein Fünftel unseres Potenzials ist in Rente, 10 % studiert, 4 Prozent sind (Fach-)Schüler*innen und 4 Prozent sind erwerbslos.

In den letzten Monaten wurde viel darüber diskutiert, ob Die Linke „die Arbeiter*innen“ verloren hat – auch um daraus wahlstrategische Überlegungen abzuleiten. Unter den Erwerbstätigen im Potenzial der Linken werden 13% als Arbeiter*innen und 76% als Angestellte ausgewiesen. In Deutschland sind 16 Prozent der Erwerbstätigen Produktionsarbeitende, damit sind diese im Potenzial leicht unterrepräsentiert. Hierbei ist aber zu beachten, dass die Arbeiter*innenklasse eben nicht nur aus (männlichen) Produktionsarbeitenden besteht: Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bezeichnen sich ca. die Hälfte der Erwerbstätigen und 70 Prozent der Dienstleistenden als Arbeiter*in – damit müssen viele der Angestellten im Linken Potenzial der Arbeiter*innenklasse zugeordnet werden.[4] Unter anderem hat Die Linke bei vergangenen Wahlen unter  Erzieher*innen, Pflegekräften und Sozialarbeiter*innen überproportional gut abgeschnitten.[5]

Wen wählen die potenziellen Wähler*innen bisher?

30% der Grünen Parteianhänger*innen (~1,5 Mio. Personen) und 21% der SPD Anhänger*innen (~1,5 Mio. Personen) können sich vorstellen, Die Linke zu wählen– aber nur 12% der BSW-Wähler*innen (etwa 450 000). 1,7 Mio. Personen sind sich bezüglich ihrer Wahlentscheidung unsicher bzw. tendieren zur Nicht-Wahl – das ist damit die größte Gruppe im Linken Potenzial. Tendenziell sind Menschen mit niedrigen Einkommen, formal niedriger Bildung und Migrationshintergrund unter Nichtwähler*innen überrepräsentiert – auch, weil viele Menschen in dieser Gruppe sich nicht (mehr) mit Politik befassen. Aufsuchende Arbeit wie Haustürgespräche und eine Konflikt- und klassenorientierte Kommunikation sind notwendig , um Nicht-wähler*innen zu erreichen.[6]

Zudem gibt es ca. 1,4 Mio. Menschen, die momentan vorhaben, Die Linke zu wählen: Erstes Ziel muss sein, diese Wähler*innen zu halten und zur Wahl zu mobilisieren. Bei der Europawahl hat es Die Linke kaum geschafft, Wähler*innen anderer Parteien von der Wahl zu überzeugen – zwar konnten jeweils mehr als 100 000 Wähler*innen von SPD und Grünen gewonnen werden, ebenso viele wanderten aber von der Linken zu SPD und (etwas weniger) zu den Grünen.

Es kann bei der Bundestagswahl nicht gelingen, alle potenziellen Wähler*innen gleichzeitig anzusprechen. Einen Teil des Potenzials teilen wir mit den konkurrierenden Parteien, keine Partei kann ihr Potenzial voll ausschöpfen. Und die inhaltlichen Differenzen sind zum Teil groß: Um die Grünen-Wähler*innen im Potenzial zu gewinnen, braucht es etwas anderes als für die  BSW-Wähler*innen. Für den Wiedereinzug in den Bundestag muss es aber gelingen, Wähler*innen von mehr als einer anderen Partei von der Wahl der Linken zu überzeugen.

Was denken die potenziellen Wähler*innen?

Gefragt, um welche Probleme sich die Politik kümmern sollte, nennen die potenziellen Linken-Wähler*innen am häufigsten Themen der sozialen Gerechtigkeit (Ungleichheit, gerechte Steuern, Sozialpolitik) und öffentliche Daseinsvorsorge (Bildung, Gesundheit, Mobilität). Dazu werden Klimaschutz, Migration und Friedenspolitik genannt – andere Themenfelder dagegen kaum.

Egal wie alt sie sind, wo sie wohnen oder welche Parteipräferenz sie haben: Für alle potenziellen Wähler*innen der Linken ist die soziale Frage das wichtigste Thema und der Hauptgrund, Die Linke zu wählen. Gleiches gilt für abgefragte Forderungen: Mehr Personal in Gesundheit und Bildung, Forderungen nach einem höheren Mindestlohn und mehr Tarifverträgen, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und eine Begrenzung der Mieten werden allesamt als wichtige Forderungen eingestuft.

Zentrale Aufgabe muss sein, all diese Menschen davon zu überzeugen, dass Die Linke die Partei ist, die sich wirklich für soziale Gerechtigkeit einsetzt – und eben nicht die SPD, die Grünen oder das BSW, die das auf unterschiedliche Weise auch von sich behaupten. So entdeckt die SPD gerade pünktlich zum Bundestagswahlkampf ihre sozialdemokratischen Wurzeln wieder.[7]

„Problemfelder“ Migration und Frieden

Im Europawahlkampf war die öffentliche Debatte so sehr auf Migrations- und Friedenspolitik fokussiert, dass Die Linke mit ihrem Fokus auf sozialer Gerechtigkeit nicht durchgedrungen ist. Wie Carsten Braband in seiner aktuellen Studie herausgearbeitet hat, gibt es neben Gewinn- auch Verlustpositionen. Deshalb ist die Frage, was die potenziellen Wähler*innen von der Wahl der Linken abhält, besonders relevant. In der Strategiedebatte in der Linken sind die Friedens- und die Migrationsfrage besonders umstritten. Dies betrifft auch die potenziellen Wähler*innen. In beiden Themenfeldern stimmt eine große Anzahl unserer Wähler*innen mit einigen der Positionen der Linken nicht überein, bei beiden Themen besteht also die Gefahr, dass wir damit Wähler*innen verlieren. Es gibt Haltungen, die im Parteiprogramm fest verankert sind, wie zum Beispiel die Forderung nach einem Bleiberecht für Alle oder dem Stopp von Waffenexporten, bei denen die potenziellen Wähler*innen gespalten sind. Um weiter politisch wichtige und richtige Positionen zu vertreten und trotzdem die Wahlstrategie daran auszurichten, möglichst wenig Wähler*innen an die Konkurrenz zu verlieren, ist es wichtig, Forderungen zu formulieren, die möglichst viele potenzielle Wähler*innen binden und sich auf diese zu fokussieren. Das kann in den Themenfeldern Unterschiedliches bedeuten.

Die Friedenspolitik der Linken ist für 17% der potenziellen Wähler*innen ein Grund, Die Linke nicht zu wählen – und nur für 5% ein Wahlgrund. Zusätzlich sagen 10 Prozent, dass die Haltung der Linken zu Russland sie davon abhält, Die Linke zu wählen. Unter Grünen-Anhänger*innen im Potenzial ist dieser Wert höher, unter BSW-Anhänger*innen sehr viel niedriger. Rund die Hälfte der potenziellen Wähler*innen stimmen der Forderung nach einem Verbot von Waffenexporten oder der Senkung von Rüstungsausgaben in Deutschland nicht zu – das war vor dem Ukrainekrieg noch deutlich anders. Damals war die Ablehnung von Waffenexporten eine einigende Forderung. Da Friedenspolitik für ca. ein Fünftel der potenziellen Wähler*innen eine wichtige Frage ist, die auch gesellschaftlich breit diskutiert wird, geht es nicht darum, das Thema zu verschweigen: Es gilt , Forderungen zu formulieren, die unter potenziellen Wähler*innen auf möglichst breite Zustimmung stoßen und dennoch die Haltungen der Partei widerspiegeln. Zum Beispiel hat Carsten Braband gezeigt, dass Forderungen nach beidseitiger Abrüstung und mehr Diplomatie unter den potenziellen Wähler*innen der Linken auf breite Zustimmung stoßen – dies gilt es weiter zu überprüfen.[8]

Im Gegensatz zur Friedenspolitik sind die Positionen der Linken zu Migration für mehr Menschen ein Grund zur Wahl (11%) als ein Hindernis (6%) – für ein Viertel der Unter-29-Jährigen ist es der Grund Die Linke zu wählen. Carsten Braband deutet in seiner Studie an, dass eine Positionsänderung in der Migrationspolitik notwendig sei – das lässt sich aus den uns vorliegenden Daten nicht ableiten.

Allerdings kommt es darauf an, wie über das Thema gesprochen wird. So ist das Wähler*innenpotenzial der Linken hinsichtlich der Frage gespalten, ob „Einwanderung begrenzt werden soll“, allerdings ist die Mehrheit nicht dafür. Platt gesagt: Die Forderung „Grenzen auf“ wäre kein geeignetes Wahlplakat – das ist allerdings keine neue Erkenntnis und ist auch in der Vergangenheit nicht anders gemacht worden. Die Forderung, dass die Politik dafür sorgen soll, dass keine Menschen an den europäischen Außengrenzen sterben, trifft hingegen auf überwältigende Zustimmung – sogar auf mehr Zustimmung als die Forderung nach einem höheren Mindestlohn. Ein Fokus auf solche Gewinnpositionen – etwa zu skandalisieren, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder die Unterstützung von Kommunen und die Erleichterung von Integration – könnten ein Weg sein, wie Die Linke in der Migrationspolitik etwas zu gewinnen hat.

Kann Klimapolitik zu einem Gewinnerthema werden?

Die potenziellen Wähler*innen benennen Klima- und Umwelt als eines der wichtigsten Themen – es ist aber weder ein herausstechender Wahlgrund für Die Linke noch ein Grund Die Linke nicht zu wählen. Aus Nachwahlbefragungen wissen wir, dass der Partei Die Linke im Feld der Klimapolitik kaum Kompetenzen zugeschrieben werden. Daraus zu schlussfolgern, dass wir das Thema nicht bespielen sollten, wäre aber falsch: Auch den Linken-Anhänger*innen ist das Thema wichtig und birgt die Gefahr, dass sie zu den Grünen abwandern, wenn sie bei der Linken kein Angebot dazu finden. Klimapolitik ist für Menschen mit höheren Einkommen und Bildungsabschlüssen wichtiger als für Menschen mit niedrigen Einkommen – vermutlich auch, weil Menschen mit niedrigem Einkommen Sorgen haben, dass Klimapolitik auf ihre Kosten betrieben wird. In der Klimapolitik gilt es also, die Forderungen so zu formulieren, dass die Dringlichkeit der Klimakrise und sozial gerechte Klimapolitik zusammen gedacht werden. Hierfür hat Die Linke bereits gute Konzepte entwickelt – Die Linke muss hier vor allem zeigen, dass ihre Klimapolitik ernsthafter und sozial gerechter ist als die der Grünen.

Die Linke hat noch eine Wähler*innenbasis - wir müssen es nur schaffen, die Partei gemeinsam stark zu machen und in eine gemeinsame, mutige Kommunikation zu finden. Um die Gemeinsamkeiten herzustellen und in der Partei und bei unseren potenziellen Wähler*innen zu verankern, startet mit dem Bundesparteitag auch die Vorwahlkampagne. Soziale Gerechtigkeit, Öffentliche Daseinsvorsorge und Klimagerechtigkeit sind der Fokus, mit dem wir Menschen gewinnen wollen - bei den Themen Frieden und Migration haben wir Haltungen, hinter denen wir gemeinsam stehen und die wir verteidigen. Die Zahlen aus der Studie zeigen: Das könnte eine gute Mischung sein, für einen Neustart und frischen Wind auf dem Weg zur Bundestagswahl im neuen Jahr.

 

 

[1] https://www.rosalux.de/publikation/id/51679/hat-die-linke-die-arbeiter-verloren-nein-eigentlich-nicht

[2] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_3-24_Linke_Triggerpunkte_web.pdf

[3] Das Wahlforschungsinstitut Verian hat vom 04.-26. September 3006 Personen telefonisch befragt.

[4] https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/21171-20240527.pdf

[5] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_3-24_Linke_Triggerpunkte_web.pdf

[6] https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/nichtwaehler-innen/

[7] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/spd-vorstandsklausur-104.html

[8] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_3-24_Linke_Triggerpunkte_web.pdf