Debatte

Unproduktive Machtpolitik überwinden

Plädoyer für die solidarische Bearbeitung offener Fragen.

Clara Zetkin Zitat im Fraktionssaal der Fraktion Die Linke im Bundestag

Zur Beantwortung der Frage, wie Die Linke in ihre tiefe Krise rutschen konnte, müssen neben der enormen gesellschaftlichen Rechtsverschiebung, die wir gerade in Deutschland und europaweit erleben, und der Rechts-Abspaltung des BSW auch die eigenen Strukturen kritisch in den Blick genommen werden.

Ich möchte den Fokus auf die Entwicklung des wahrscheinlich größten Machtzentrums in der Partei, auf die Bundestagsfraktion (jetzt Gruppe), lenken, der ich jetzt fast 16 Jahre angehören darf, und die sich im Laufe von fast 20 Jahren, seit 2005, von einer Institution, auf die die Mitglieder und Sympathisant:innen mit Stolz blickten, die gesellschaftliche Debatten anstieß und die Partei politisch und strukturell stärkte, mehr und mehr zu einem für die Partei belastenden, dysfunktionalen Faktor wandelte und aus deren Reihen heraus am Ende die Rechtsabspaltung und Gründung einer neuen Partei organisiert wurde. Manche Mitglieder sagten sogar, das Beste sei noch, wenn man „einfach gar nichts von ihr mitbekommt“. Letztlich hatte sich eine (Un-)Kultur etabliert, in der die Machtpolitik alles andere dominierte, und in der Flügelkämpfe fast schon ritualisiert geführt wurden, ohne noch einen Beitrag zur Klärung inhaltlicher und strategischer Fragen zu leisten.

Obwohl die einzelnen Abgeordneten eine hervorragende Fachpolitik und eine tolle Arbeit vor Ort machen und eine hohe Anerkennung in der Partei und bei Bündnispartner:innen genießen, waren wir nicht in der Lage, das was Gregor Gysi auf dem Göttinger Parteitag 2012 als „Hass in der Fraktion“ bezeichnete, zu überwinden – im Gegenteil: Die machtpolitische Dynamik in der Fraktion hat sich verfestigt und vieles von dem, was es an Aufbrüchen und positiven Entwicklungen in der Partei gab, blockiert.

Eine linke Partei muss aus dieser Fehl-Entwicklung lernen – besonders, wenn wir 2025 oder 2029 noch einmal die Chance nutzen wollen, eine solidarische linke Kraft im Bundestag zu verankern.

Flügelkämpfe ohne Inhalt. 

Die Linke war seit jeher - zumindest die letzten 20 Jahre, die ich in der Partei bin - von heftigen Strömungsauseinandersetzungen und Flügelkämpfen geprägt.

Auch ich war gerade in den Anfangsjahren intensiv daran beteiligt. Es erschien logisch, als WASGlerin aus Bayern, dafür sorgen zu müssen, das politische Erbe, das die nur kurz existente WASG mit in die Parteifusion einbrachte, organisiert in die neu gegründete LINKE zu tragen: die Orientierung auf betriebliche und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen, die Verbundenheit mit Bewegungen auf der Straße, wie die Anti-Kriegs-Bewegung oder die globalisierungskritische Bewegung der Nuller Jahre oder eine nach der Erfahrung mit der rot-grünen Agenda2010-Regierung kritische Haltung gegenüber Regierungsbeteiligungen mit ebendiesen Parteien.

Unsere Idee, zuerst mit der WASG, dann mit der LINKEN, eine neue Partei begründen – stand im Gegensatz zu der Situation, auf die wir trafen: denn wir trafen durch die Fusion von WASG und PDS auf bereits existente Strukturen, Debatten und Strömungen - sprich auf eine Partei mit Geschichte, die auch etwas zu verteidigen hatte: die Biografie ihrer Mitglieder, ihre als PDS in teilweise schmerzhaften Prozessen errungenen Positionierungen und ihre teilweise erfolgte Etablierung im bundesdeutschen Parteiensystem.

Bereits in den Anfangsjahren der Parteifusion waren die innerparteilichen Auseinandersetzungen demnach heftig und auch nicht ohne persönliche Verletzungen - aber sie waren nicht derart zerstörerisch, weil es eine gemeinsam getragene Erzählung gab: gegen den Irak- und Afghanistan-Krieg, gegen die Agenda 2010 und den Neoliberalismus, und weil es den gemeinsamen politischen Erfolg gab. Sogar die inhaltliche Auseinandersetzung selbst war in gewissem Maße nach außen vermittelbar.

Alle drei Dinge sind uns in den letzten Jahren abhandengekommen. 

Es gibt seit Jahren für uns mehr Niederlagen als Erfolge - und wir verfügen schon länger nicht mehr über ein gemeinsames Narrativ - es gibt fragmentierte Erzählungen Einzelner oder von Teilen der Partei, die sich aber nicht zu einer gemeinsamen verbinden und die Partei in ihrer Breite zu erfassen vermögen. 

Und kein Mensch, nicht mal mehr Mandats- und Funktionsträger:innen der eigenen Partei, verstehen noch, um was wir eigentlich streiten, warum sich die Bundestagsgruppe selbst nach der Abspaltung des BSW noch Kämpfe um den Gruppenvorsitz lieferte. Lediglich ganz Eingeweihte wissen, wer in wessen Machtbündnis eingebunden ist und darum für einen Teil der Fraktion/Gruppe wählbar oder eben inakzeptabel ist. 

Diese Entwicklung ist fatal: wenn wir streiten, nur noch aus machtpolitischen Haltungen und Bündniskonstellationen heraus, aber ohne dabei nachvollziehbar nach außen um Inhalte zu ringen und sie im besten Fall auch zu klären, bleibt nur die (Selbst-)Zerstörung. 

Und das beständige Kreisen um uns selbst und die innerparteiliche Auseinandersetzung haben uns gelähmt bei unserer eigentlichen Aufgabe: beim Kampf um die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen und in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Positionen und Standpunkte wurden nicht mehr aus dem Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung oder der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse heraus entwickelt, sondern vor der Folie der machtpolitischen Auseinandersetzung analysiert und degradierten zu Formelkompromissen als Kitt eines machtpolitischen Bündnisses oder um das Auseinanderfallen der Fraktion zu verhindern – was am Ende aber nicht zu verhindern war.

Von Machtpolitik überwältigt. 

Das alles ist keine zufällige Entwicklung – sondern die Machtpolitik hat sich über die Jahre zur dominanten Arbeitsweise in der Fraktion entwickelt - und obwohl die zerstörerische Kraft für alle spürbar war, gab es kaum Versuche, dem entgegenzuwirken. 

Die Fraktion hat sehr fähige Genoss:innen verschleißt - wegen des unsolidarischen Umgangstons, wegen ihrer Dysfunktionalität und mangelnden Produktivität.

Ich erinnere mich während meiner fast 16 Jahre in der Fraktion bzw. Gruppe an nur wenige Momente der Solidarität - bezeichnenderweise konnte sie (der Rausschmiss der Bundestagsfraktion nach unserer Schilder-Aktion zu Kunduz oder der Angriff von AfD und Union auf Petra Pau als Vizepräsidentin nach der Auflösung der Fraktion) nur durch Angriffe von außen hergestellt werden.

Nun sind Machtpolitik und mangelnde Solidarität unter Abgeordneten und Berufspolitiker:innen absolut kein Alleinstellungsmerkmal der Linken. Abgeordnete aller Parteien berichten, dass die berühmte Steigerung „Feind, Todfeind, Parteifreund“ tatsächlich mehr oder minder gelebte Realität ist, zumindest ab einer gewissen Funktionärsebene. Dass es Teil der parlamentarischen „Kultur“ ist, „über Bande zu spielen“, die Presse oder den politischen Gegner mit Interna über den Konkurrenten in der eigenen Partei zu versorgen, irgendwelche Zusicherungen auf Posten zu machen, um sich der notwendigen Stimmen bei einer Wahl zu versichern, und dass nur auf den „richtigen Moment“ gewartet wird, um irgendeinen innerparteilichen Gegner endlich abzusägen. 

Aber wir sind die Linke. Die Linke darf keine Partei wie jede andere sein - wir sind die Partei der Solidarität, und wir müssen tun, was wir sagen. 

Es ist ein großes Versäumnis, dass wir weder in der Partei noch als parlamentarische Vertretung von Sozialist:innen über die Jahre Gegenstrategien entwickelt haben, um gegen diese machtpolitische Überwältigung von emanzipatorischer Politik anzugehen - sie stattdessen zugelassen und sich ihrer - ob wissentlich oder unwissentlich - bedient haben.

Die Funktionsweise und Logik parlamentarischer Apparate, die teilweise Entkopplung von der Parteibasis, ihr mögliches Eingebundensein in Regierungen, die materiellen wie persönlichen Abhängigkeiten von Abgeordneten und Mitarbeitenden vom Mandat, die Eigenlogik von Medien im profitorientierten System und die Versuche des politischen Gegners und Konkurrenten, sich zerstörerische Mechanismen zunutze zu machen - all das hätten wir reflektieren und gemeinsame, verbindliche Gegenstrategien festlegen müssen. 

Diese Strukturen und Mechanismen können nicht einfach ausgeschaltet oder gänzlich überwunden werden – aber eine sozialistische Partei muss Regeln finden, wie sie trotz dieser Verhältnisse solidarische Formen der inhaltlichen Auseinandersetzung entwickeln und leben will. 

Viele Überlegungen zum Umgang mit Mandaten, seien es Mandatszeitbegrenzungen oder die Deckelung von Diäten zeugen von dem Wunsch, mehr Kontrolle über das Agieren von Mandatsträger:innen und Fraktionen zu bekommen – insbesondere die Begrenzung der Mandatszeit sehe ich kritisch, weil wir uns vermutlich damit systematisch um die Chance bringen, Personen aufzubauen und medial und gesellschaftlich zu verankern. Aber völlig richtig ist: die Linke muss (zurück) zum politischen Grundverständnis: der Parteitag und der Parteivorstand sind der Souverän, sie bestimmen die politischen Grundlinien, und Fraktionen und deren Führungen haben sich nicht als Gegengewichte oder Korrektive zur Partei zu verstehen, sondern als deren Verbündete in den Parlamenten.

Mit Etablierung des Bündnisses aus Reformerlager um Dietmar Bartsch und der Gruppe um Sahra Wagenknecht passierte aber genau das: Die Fraktionsführung verstand sich immer mehr als organisierter Gegenpol zur Parteispitze. Weil die eigene Position in der Partei nicht mehrheitsfähig war, wurden (meist mit knappen Mehrheiten) in der Fraktion Führungen durchgesetzt, deren Ansinnen zunehmend weniger die Suche nach Kompromissen war oder im Dialog mit der Parteispitze Gemeinsamkeiten auszuloten, sondern die ihre Funktion darin sah, Gegenpositionen zur Partei und damit auch die organisierte Vielstimmigkeit nach außen zu halten, und die schlussendlich Amira Mohammed Ali und dem jetzigen BSW eine Plattform bot, Positionen und Ressourcen zu nutzen, um die Fraktion zu spalten und ein konkurrierendes Parteiprojekt aufzubauen.

Dass dies vor unser aller Augen geschehen konnte, ist meines Erachtens durch zwei Dinge zu erklären: mit einer machtpolitischen Konstruktion, deren zerstörerischer Dynamik am Ende so gut wie alle Ebenen und Akteur:innen verhaftet waren – auch die in Reaktion auf das Bündnis Wagenknecht/Bartsch gegründeten neuen Strömungen „Bewegungslinke“ und „Progressive Linke“ (ersterer habe ich auch angehört) – und mit dem fatalen Diskurs um den vermeintlichen Verrat an der sozialen Frage.

Die irreführende Debatte um den „Verrat der sozialen Frage“.  

Der destruktive Diskurs um den angeblich verratenen sozialen Markenkern der Linken hat nicht nur die Rechtsabspaltung begünstigt – er führt auch heute dazu, dass die Linke sich nicht schneller von der Spaltung erholen kann und sich viele Genoss:innen an der Basis, die aktiv sind in Mietenbündnissen, in der Sozialberatung, usw. vor dem Kopf gestoßen, desillusioniert und von der eigenen Partei entfremdet fühlen.

Denn auch nach der Rechtsabspaltung des BSW kehrt diese irreführende Debatte als Vorwurf wieder, die Parteiführung um Janine Wissler und Martin Schirdewan hätte die Abspaltung zu verantworten gehabt, und in dem Glauben, die Abspaltung sei zu verhindern gewesen.

Aber das Tempo, in dem die ehemaligen Genoss:innen des BSW linke Grundsätze über Bord werfen und völlig inakzeptable Positionen vertreten - von der Leugnung des Asylrechts über Sanktionen und Kürzungen für Bürgergeldempfänger:innen bis hin zu einer neuen Milde gegenüber Superreichen und Arbeitgeber:innen – macht mehr als deutlich, dass sich viele schon sehr lange von der Idee einer emanzipatorischen und sozialistischen Linken entfernt hatten - und es sagt einiges aus über den Opportunismus unter Berufspolitiker:innen, wenn ihre Karrieren und beruflichen Perspektiven bedroht sind.

Spätestens mit dem Wissen von heute muss jedem klar sein, dass innerhalb der Linken kein inhaltliches Zusammenkommen, keine Kompromisse und schon gar kein Konsens mehr möglich waren – der Preis wäre in die Aufgabe unserer linken Grundsätze gewesen – auch und gerade bei der sozialen Frage, die vom BSW in einem atemberaubenden Tempo entsorgt wird.

Ein Neuanfang wird der Linken nur dann gelingen, wenn der Mythos, Die Linke sei selbst schuld an der Rechtsabspaltung, endet, und wir selbstbewusst zu unserer linken Programmatik stehen.

Die Versuchung als parlamentarische Partei oder als von der Wählergunst abhängige Mandatsträger:innen, mehr als nur strategische und taktische Überlegungen, nämlich die eigene Haltung von Wahlumfragen und Forsa-Trends abhängig zu machen, ist groß - aktuell zu sehen bei SPD und Grünen, die im Wochentakt die eigene Programmatik über den Haufen werfen und ihre Wahlslogans entsorgen: sei es bei der Kindergrundsicherung, beim Bürgergeld oder bei Grenzkontrollen und Abschiebungen.

Auch die Linke ist davor nicht gefeit. Wir müssen weiterhin der Versuchung widerstehen, schwache Wahlergebnisse damit zu beantworten, die Programmatik an den Zeitgeist „anzupassen“, so wie die Ampelparteien oder das BSW das entschieden haben, sondern nach den sehr viel schwierigeren Wegen suchen, auch aus Minderheitenpositionen heraus, die Mehrheit zu erreichen. Als sozialistische Partei werden wir auch weiterhin im Spannungsverhältnis stehen, Politik für die Interessen der Mehrheit zu machen, aber in diversen Fragen des sogenannten Alltagsverstandes nicht die unmittelbare Position der Mehrheit zu vertreten.

Außenpolitischer Klärungsbedarf.  

Nicht nur Carola Rackete – auch Gerhard Trabert, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow – um ein paar herausgehobene Genoss:innen oder Kandidat:innen der Linken zu nennen – haben sich auf die ein oder andere Weise öffentlich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen.

Die Linke Gruppe im Bundestag hat sich nach mehreren und mit diversen Gegenstimmen zu einem Antrag für einen Waffenstillstand in Gaza und Israel durchgerungen, vermeidet aber jede öffentliche Positionierung zum Thema.  

Es ist offensichtlich: Die Partei diskutiert die politischen Folgen des russischen Angriffskriegs kontrovers. Bei aller Gemeinsamkeit der Ablehnung von Aufrüstung und für Diplomatie gibt es flügelübergreifend uns bis weit hinein in die Wähler:innenschaft, die Bündnispartner:innen und die Gewerkschaften unterschiedliche Haltungen zu Waffenlieferungen. Der Umgang mit dem Krieg gegen die Ukraine ist daher nicht nur "das Problem" eines Flügels oder einiger Mandatsträger:innen – das Thema spaltet die Linke flügelübergreifend und bis weit hinein in die Wähler:innenschaft, in die Bündnispartner:innen und Gewerkschaften.

Genau darum eignet sich das Thema nicht, um es machtpolitisch gegen einzelne Personen, Gremien oder Flügel auszuschlachten, sondern es kann nur mit großer Ernsthaftigkeit und in einem solidarischen Prozess inhaltlich bearbeitet werden.

Gleichwohl ist es kein Thema, das wir weiterhin umschiffen und nicht klären können – wie das etwa beim Bedingungslosen Grundeinkommen der Fall ist, wo buchstäblich niemand in der Gesellschaft eine Klärung von uns verlangt.

Die Linke sollte wieder stärker vernehmbar eine anti-militaristische Sprache sprechen: EADS, Rheinmetall und Krauss-Maffei gehören entwaffnet und in zivile Unternehmen umgewandelt - und nicht mit neuen Rüstungsaufträgen versorgt.

Trotz aller Eindeutigkeit in der Frage der Solidarität mit der angegriffenen Ukraine kann das Ziel ihres Kampfes, nämlich die Integration in einen der imperialistischen Blöcke, kein strategisches Ziel von Linken sein. Wir müssen es besser als bisher schaffen, beides gemeinsam zu vermitteln.

Und die Linke muss endlich mit den zweierlei Maßstäben von Teilen der Partei hinsichtlich der Solidarität mit den Menschen in Gaza/Palästina brechen, die uns viel Glaubwürdigkeit kosten - gerade auch in migrantischen Milieus, in der linken jüdischen Community und bei der israelischen Linken. Die Zahl an Toten und Verletzten und die Verwüstung in Gaza - aber auch die rassistischen Übergriffe im Westjordanland und die militärische Offensive im Libanon sind so unfassbar in ihren Ausmaßen, verletzen so offensichtlich das Völkerrecht und bringen die israelische Bevölkerung in immer bedrohlichere Situationen - die Linke muss sich zu diesem Unrecht eindeutiger und vor allem lauter vernehmbar verhalten.

Und: nicht zuletzt haben wir die Aufgabe, der verunsicherten und durch rechte Abspaltungen und gefährliche Querfrontstrategien stark geschwächten Anti-Kriegs-Bewegung in Deutschland neues Leben einzuhauchen. Die Linke muss wieder zur aktiven Anti-Kriegs-Kraft auf der Straße werden.

Gemeinsam lernen: wie regieren?

Zu den zwar in einigen Kreisen sehr emotional diskutierten, aber in der Gesamtpartei fast schon tabuisierten Debatten gehört die über Regierungsbeteiligungen – meistens folgt hier schnell der Hinweis, es handle sich um eine „Länderangelegenheit“, die die Bundespartei oder irgendeine Gliederung nicht zu beschäftigen habe. Aber natürlich ist es keine „interne Angelegenheit“ oder Sache nur eines Landesverbandes, wenn in Regierungsbeteiligungen Dinge verhandelt und umgesetzt werden, die eventuell der Programmlage der Linken widersprechen. 

Dabei ist die Ausklammerung der strategischen Frage des Regierens umso unverständlicher, weil die Gretchenfrage in der Linken dieser Tage ist, wie es passieren konnte, dass die Linke in so großem Maße Vertrauen verloren hat, warum die Linke als Partei „wie jede andere“ wahrgenommen wird, oder wie wir uns wieder stärker als oppositionelle und kämpferische Kraft profilieren können.

Die Haltungen zum Regieren haben sich in der Partei in den letzten Jahren verändert: auch die regierungsskeptischen Teile der Partei wissen, dass es kaum zu vermitteln ist, als stärkste oder zweitstärkste Kraft nach einer Wahl Regierungsverantwortung zu verweigern oder im Angesicht der Gefahr einer rechtsextremen Regierungsbeteiligung nicht alles zu versuchen, um diese auch auf parlamentarischem Wege zu verhindern. 

Und gerade der Berliner Landesverband hat erkennbar darum gerungen, den Konflikt zwischen einer oppositionellen Straßenpolitik und Regierungsverantwortung nicht schlicht im Sinne des zweiten zu befrieden und dem Anspruch als Bündnispartnerin für Bewegungen und Gewerkschaften, auch in der Regierung, gerecht zu werden. 

Aber seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es keine organisierte Debatte, keinen kollektiven Lernprozess zu den (vergangenen) Regierungsbeteiligungen in Brandenburg, MV, Thüringen, Berlin oder Bremen. Wir müssen uns aber gemeinsam fragen, welche Bedingungen, welche Voraussetzungen für den Gang in eine Regierung gegeben sein müssen. 

Wenn nur Teile unserer Kritik an der Ampel-Regierung und an diversen schwarz-grünen, schwarz-roten oder Ampel-Landesregierungen stimmen – wenn es stimmt, dass sich jede Regierung, gerade in diesen Zeiten des massiven Rechtsrucks, daran messen lassen muss, ob sie dabei mithilft, die Lebensbedingungen der arbeitenden und ärmeren Bevölkerungsteile im großen Stil zu verbessern, und dafür bereit ist, sich in gesellschaftliche Konflikte zu begeben, müssen wir zumindest konstatieren, dass wir trotz des ehrlichen Ringens um Verbesserungen unseren eigenen Ansprüchen in den meist SPD-geführten Regierungen und unter den Bedingungen von Schuldenbremse und klammen Haushalten nicht immer gerecht geworden sind bzw. werden konnten. 

Und wir müssen mit der taktischen Falle umgehen, dass es für die Linke tödlich sein kann, wenn sie nicht alles dafür tut, um eine faschistische Regierungsbeteiligung zu verhindern - dass es aber genauso zerstörerisch sein kann, sich in Allianzen und Verpflichtungen mit konservativen oder zum Klassenkonflikt nicht bereiten Kräften zu verstricken und so das Vertrauen der Klasse auf lange Sicht zu verspielen. Wir sollten beginnen, diese Debatten gemeinsam zu führen.

Es ist eine große Aufgabe, vor der eine neue Parteiführung steht – ein Neuanfang kann nur gelingen, wenn die Fehler der Vergangenheit ausgewertet und Strategien entwickelt werden, die ihre Wiederholung zumindest unwahrscheinlicher machen.

Um wieder Ausstrahlungskraft nach außen zu gewinnen, muss es uns gelingen, die innerparteiliche Kultur zu verändern und die unproduktive Machtpolitik zu überwinden.

Nur wenn es uns gelingt, inhaltliche Fragen auch selbstkritisch und schonungslos, aber solidarisch im Umgang miteinander zu diskutieren, können wir vorankommen – und am Ende vielleicht eine neue Erzählung finden, die uns gemeinsam trägt.

Solange es bei Sachfragen mehr um innerparteiliche Geländegewinne und Rücksicht auf innerparteiliche Bündnispartner:innen geht, werden wir sie nicht nach vorne auflösen können.

Das müssen wir aber, wenn wir wieder erfolgreich sein wollen.