Landtagswahlkampf in Leipzig: Alle für einen
- Die Linke Leipzig
„Wir wollen eine Woche lang jeden Tag mit über 100 Leuten an die Türen gehen. Das gab es, soweit wir wissen, in der gesamten Geschichte der Partei noch nicht!“ Mit dieser Ansage empfängt Hannah aus dem Wahlkampfteam die etwa 140 überwiegend jungen und aus der ganzen Republik angereisten Genoss:innen am Morgen des 27. Juli in der Galerie KUB in der Leipziger Südvorstadt. „Aber gerade haben die Grünen noch die Nase vorn, das wird eine knappe Kiste,“ erklärt sie weiter: „Unser Ziel sind 1.500 Wahlzusagen, das ist so in etwa der Stimmenvorsprung, den sie haben.“ Die Stimmung unter den Zuhörenden ist gespannt, als kurz darauf die konkrete Strategie und der Gesprächsleitfaden für die geplanten Haustürgespräche vorgestellt werden und auch das darauffolgende Rollenspiel wird mit Elan geprobt.
Über Monate haben Hanna und ihr Team auf diesen Tag hingearbeitet. Eine Woche lang, so der Plan, sollen die 150 Unterstützer:innen an den Leipziger Haustüren für ihren Direktkandidaten werben: Nam Duy Nguyen. Der steht wie kaum ein anderer Kandidat für die viel diskutierte Erneuerung der Linkspartei: 1996 als Kind vietnamesischer Vertragsarbeiter:innen in Riesa geboren, kommt er selber aus der migrantischen Arbeiter:innenklasse und wäre der erste nicht-weiße Abgeordnete in der Geschichte des sächsischen Landtags.
Nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) will Nam Duy (gesprochen: Nam-Süü) sein eventuelles Abgeordneten-Gehalt freiwillig auf 2.500 Euro reduzieren und den Rest in seiner wöchentlichen Sozialsprechstunde an Menschen in Notlagen umverteilen. In den Monaten vor der Aktionswoche haben er und sein junges, von Neueintritten in die Partei geprägtes Team bereits an über 11.000 Türen im Wahlbezirk Leipzig Mitte-Ost geklingelt und die sozialen Kernanliegen der Stadtteilgesellschaft herausgearbeitet: Wohnen, Nahverkehr und die anhaltende Inflation.
Diese Themen sollen nicht nur thematische Schwerpunkte im nun beginnenden Haustürwahlkampf sein, sondern auch den Kurs für das mögliche Mandat vorgeben. Hier orientieren sich die Leipziger:innen wiederum an der Belgischen Partei der Arbeit (PTB/PvdA), die 2023 über 100.000 Belgier:innen ausführlich befragt hatte, um aus den Ergebnissen ihr Wahlprogramm für die Parlamentswahl im Juni 2024 zu erheben.
In Leipzig zeigt die Linke, dass sie kämpfen kann – und will: Statt den ursprünglich angepeilten 150 Teilnehmenden haben sich bereits zu Beginn der Aktionswoche über 300 Aktivist:innen angemeldet, die in Leipzig für Nam Duy an die Haustüren wollen. Von Lübeck, über Aachen bis nach Freiburg ist bei der Abfrage, woher die angereisten kommen, jedes noch so weit entfernte Eck der Republik vertreten. Ein Genosse reist sogar aus Innsbruck an, kurz bevor dort der Nationalrats-Wahlkampf für die KPÖ beginnt. Ein paar ältere Linkspartei-Ortsverbändler sitzen verstreut zwischen jungen Antifas, Queers und Klimaaktivist:innen. Etwa ein Drittel meldet sich, als gefragt wird, wer (noch) kein Parteimitglied sei. Viele mehr sind frisch eingetreten. Sogar einige Abtrünnige von der Grünen Jugend sollen angereist sein.
Dabei orientiert sich Nam Duy's Wahlkampf sich inhaltlich weniger an sozialen Bewegungen. Als studiertes Kind der prekarisierten Arbeiter:innenklasse und aktiver Gewerkschafter will der 28-jährige an der Haustür und auf der Straße mit einer „klassenorientierten Ansprache“ überzeugen. Er will mit den Menschen über zu hohe Mieten sprechen, über fehlendes Personal in Krankenhäusern, über Armut und Rassismuserfahrungen. Allzu oft wurden die vermeintlichen „zwei Pole“, soziale Bewegungen und Klassenpolitik, in den jüngeren Diskussionen um die zukünftige Ausrichtung der Linkspartei gegeneinandergestellt – in Leipzig ist davon nichts zu spüren.
Der Haustürwahlkampf bringt stattdessen beides zusammen: Junge Aktivist:innen, die sich sonst vielleicht eher mit Klimapolitik und Genderfragen beschäftigen, treffen an den Haustüren von Leipzig Mitte-Nord auf Anne, die seit sie denken kann SED/PDS/Linke wählt, auf Kevin, der genau das Gegenteil tut; auf Stefan, der mit den Positionen sympathisiert, die Linke aber aufgrund, seinem Eindruck nach, mangelnder Stasi-Aufarbeitung für unwählbar hält oder auf Hamza, der mit Politik grundsätzlich nichts mehr zu tun haben will, seit er infolge der Revolution aus Syrien flüchten musste. (die Namen sind hier generisch gewählt, die Geschichten nicht.) Die vielbeschworene „verbindende Klassenpolitik“ wird greifbar, wenn auch Leipziger:innen ohne Wahlberechtigung eine Einladung zum Sommerfest und einen Hinweis auf die Sozialsprechstunde bei Nam Duy in die Hand gedrückt bekommen, oder wenn der junge Rettungsassistent, der gerade nach seiner Nachtschicht aus dem Bett geklingelt wurde, ein Stück selbstgebackenen, veganen Käsekuchen über die Türschwelle reicht.
Am Ende der Woche werden die Haustür-Aktivist:innen an 25.828 Türen geklopft, tausende Gespräche geführt und fast 2.000 feste Wahlzusagen eingesammelt haben. „Es ist so krass; man geht durch die Stadt und Die Linke ist überall,“ begeistert sich dann auch Orga-Teammitglied Vincent bei der Aktionsbesprechung am Sonntagmorgen: „Das sind die Momente, in denen man sieht, wie Partei aussehen könnte.“