Paragraph 218 muss weg!

Demonstration gegen Paragraph 218 zum Schwangerschaftsabbruch 1988 in Göttingen.

Es war eine der vielen Enttäuschungen des Ampel-Koalitionsvertrags: Statt Rückgrat zu zeigen und die seit Jahrzehnten überfällige Lockerung des Abtreibungsrechts unverzüglich anzugehen, entschlossen sich SPD, Grüne und FDP im Herbst 2021, das Thema auf die lange Bank zu schieben und eine Expert*innenkommission zu der Frage einzusetzen – und das, obwohl sich die drei Ampelparteien eigentlich einig sind, das hier Handlungsbedarf besteht.

Nun hat die Kommission ihre Empfehlungen vorgelegt, und eigentlich nur festgestellt, was ohnehin klar war: Als eines der wenigen Länder der westlichen Welt kriminalisiert Deutschland Abtreibungen pauschal – ein unhaltbarer Zustand, der schlicht nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht.

Der Vorschlag der Kommission, Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Schwangerschaftswoche zu legalisieren, wäre das absolute Minimum. In den USA versucht der republikanisch regierte Bundesstaat North Carolina gerade, Abtreibungen ab der zwölften Schwangerschaftswoche zu kriminalisieren. Feminist*innen und Frauenrechtsorganisationen sind darüber entsetzt und suchen den Rechtsweg.

Doch die Parteien der Bundesregierung wurden vom Vorschlag ihrer eigenen Kommission so überrumpelt, dass sie selbst diesen minimalen Schritt medial infrage stellen und dieses „sehr heikle Thema“ nur mit äußerster Zurückhaltung angehen wollen. Es klingt so absurd, wie es ist: Die deutsche Sozialdemokratie, die Grünen – die selbst Waffenlieferungen in Kriegsgebiete noch einen feministischen Mehrwert abgewinnen können – und eine Partei, die sich selbst als „liberal“ bezeichnet, stehen beim Themen Abtreibung damit rechts der Republikaner in einem Südstaat der USA.

Angst vor Liberalisierung
 

Einmal mehr zeigt sich, dass die Ampel als Koalition der gesellschaftspolitischen Erneuerung versagt. Die Trippelschritte in Richtung einer zaghaften, nachholenden Liberalisierung nach 16 Jahren unter Angela Merkel sind durch und durch geprägt von Angst: Angst vor rechter Hetze, Angst davor, selbst absolute politische Selbstläufer nicht medial verkaufen zu können. So bekommen wir nun eine Cannabis-Legalisierung ohne Möglichkeit, Cannabis auch legal kaufen zu können, und ein Selbstbestimmungesetz, das zwar die Situation der Betroffenen verbessert, ihnen aber weiterhin mit Misstrauen entgegentritt. Das vorauseilende Kuschen der Ampel vor dem rechten Backlash bei der Liberalisierung des Abtreibungsrechts zeigt aufs Neue: Mit solchen Linksliberalen braucht man keine Konservativen.

Sehr wohl offenbart sich in dieser Frage allerdings, was dieses Land wirklich braucht: Eine linke Kraft, die die Freiheit und die Würde des Menschen dort verteidigt, wo es wirklich zählt: bei der Verfügungsmacht über den eigenen Körper, bei intimen medizinischen Entscheidungen, bei der eigenen Lebensgestaltung. Historisch gesehen war es den allermeisten Staaten der Welt fast immer die sozialistische Arbeiterbewegung, die das Freiheitsversprechen des Liberalismus letztlich einlösen musste: beim allgemeinen Wahlrecht, bei Freiheitsrechten wie der Rede- und Pressefreiheit, aber ganz besonders, was die Rechte der Frauen betrifft. Politische Kräfte, die bei einer angemessenen Besteuerung von Millionenerbschaften gerne einmal Grundrechte verletzt sehen, sind in diesen Fragen sehr leise – und historisch gesehen waren sie das auch immer.

Die Linke muss klar und furchtlos herausstellen, dass sie als einzige politische Kraft für die Freiheit einsteht – dort, so es wirklich zählt. Und wir müssen dies gerade auch als explizit feministische Partei tun. Antifeminismus ist weltweit zu einer zentralen Rekrutierungsstrategie der Rechten geworden. Insbesondere unter jungen Männern schürt sie gezielt Ressentiments gegen Frauen, die selbstbestimmt leben wollen und macht sie zu Sündenböcken für die Zumutungen von kapitalistischer Lohnarbeit und Leistungsdruck, aber auch ganz normalen menschlichen Erfahrungen, wie bei mal bei jemandem abzublitzen.

In der toxischen Atmosphäre der gesellschaftlichen Atomisierung und Verrohung verfängt diese Botschaft leider ziemlich gut. Das Versprechen der Rückkehr zu tradierten Geschlechterrollen, gegen die sich Frauen aus guten Gründen auflehnten, funktioniert nur solange, wie man jungen Männern – und Frauen – die enormen gesellschaftlichen Zwänge, auf denen sie basierten, verschleiern kann. In TikTok-Videos mit gemütlicher Naturästhetik lässt sich das Patriarchat und die Rolle der Hausfrau in romantisierter Form neu vermarkten – doch sobald es um die Eingriffe in Grundrechte geht und die medizinische Versorgung von Frauen auf der Suche nach einem Schwangerschaftsabbruch geht, verliert dies für die große Mehrheit zu Recht seinen Charme. Die meisten wünschen sich heute ein selbstbestimmtes Leben und eine freie Entscheidung über Familiengründungen und das gemeinsame Zusammenleben. 

Wer der Gesellschaft traditionelle Geschlechterrollen als die einzig richtigen verkaufen will, muss die körperliche Selbstbestimmung von Frauen früher oder später notwendigerweise infrage stellen. Jede, die schon einmal in der Situation war, einen Schwangerschaftsabbruch in Betracht zu ziehen, wird das sehr gut nachempfinden können. Das Letzte, was man in diesem Moment braucht, ist ein Staat, der sich in persönliche medizinische Entscheidungen einmischt. Alle anderen können das hoffentlich ebenfalls gut nachvollziehen. An dieser Stelle bricht die rechte Erzählung von einer der Gesellschaft angeblich extern aufgezwungenen Befreiung zusammen: Niemand kann staatlichen Zwang über den eigenen Körper ernsthaft als Freiheit verkaufen.

Für Fortschritt und eine bessere Versorgung

Die Linke sollte die Auseinandersetzung um die Liberalisierung des Abtreibungsrechts also nicht scheuen, sondern aktiv suchen. Wir können hier beweisen, dass wir als einzige politische Kraft wirklich für gesellschaftlichen Fortschritt einstehen. Unsere Forderung muss deshalb lauten: Der Paragraph 218 gehört weg. Die Entscheidung über die medizinische Versorgung und Behandlung von Schwangeren gehört alleine in ihre Hände. Sie haben das Recht, eigenverantwortlich in Konsultation mit ihren Ärzt*innen diese Entscheidungen zu treffen. In Ländern ohne Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch – wie etwa Kanada – sind die Horrorszenarien der Rechten nie eingetreten. Keine Frau fällt solche medizinischen Entscheidungen leichtsinnig.

Die Umfragen hierzu in Deutschland mögen ein gemischtes Bild zeichnen, abhängig von der genauen Fragestellung. Zumindest in der Kernforderung, dass es einen legalen Weg für Schwangerschaftsabbrüche geben muss, stimmt uns eine große Mehrheit zu: Laut einer repräsentativen Umfrage vom März sind 80 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass es falsch ist, dass eine Abtreibung nach einer Beratung immer noch rechtswidrig ist. 75 Prozent meinen, dass Abtreibung nicht ins Strafgesetzbuch gehört.

Den aktuellen „Kompromiss“ beim Abtreibungsrecht verdanken wir einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993, die schon damals bizarr und aus der Zeit gefallen war und gesellschaftliche Wirklichkeiten ignorierte – insbesondere im Osten, wo Frauen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nach Jahrzehnten der Selbstverständlichkeit über Nacht genommen wurde. Am 8. März sagte eine Genossin bei einer Veranstaltung zu mir: „Damals, als wir noch anerkannte Wesen waren“, was ich für einen beeindruckenden Satz hielt, der aber nicht mehr verwundert, wenn einer plötzlich diese Freiheit und damit auch eine Selbstverständlichkeit weggenommen wird.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde das Gericht heute anders entscheiden. Und Fakt ist, dass wo immer in den letzten Jahren eine intensive gesellschaftliche und politische Debatte zum Thema Abtreibung geführt wurde – sei es in Irland oder den USA – eine breite Mehrheit sich für die Liberalisierung entscheidet.

In Deutschland bleiben die meisten Abtreibungen zwar straffrei, aber illegal. Ein für Frauen entwürdigender, gesellschaftlich verlogener Zustand. Viele Menschen, die das Thema nicht unmittelbar betrifft, gehen wahrscheinlich davon aus, dass Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland bereits legal sind. Hier müssen wir politische Aufklärungsarbeit leisten. 

Mit der Aufklärung muss auch eine bessere gesundheitliche Versorgung einhergehen. Die Versorgungslage verschlechtert sich stetig, denn auch nach dem Wegfall von Paragraph 219a ist die Ausbildung in diesem Bereich unzureichend. Fast 60 Prozent der Praxen bieten keine Wahlmöglichkeit zwischen medikamentösen und operativen Behandlungsmethoden. 380 bis 580 Patientinnen werden wöchentlich operiert, obwohl sie eigentlich einen medikamentösen Abbruch gewählt hätten. In Ländern wie Schweden, wo der Zugang zu Abtreibungen einfacher ist, wählen über 90 Prozent der Patientinnen medikamentöse Verfahren – über 80 Prozent von ihnen vor der neunten Schwangerschaftswoche. Doch von einer umfassenden, qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung in allen reproduktiven Fragen sind wir in Deutschland sehr weit entfernt. Auch hier müssen wir, in bester feministischer Tradition, ein gesellschaftliches Problem aus der privaten Verschwiegenheit in die politische Öffentlichkeit holen.

Gegen den Rückzug des Sozialstaats

Doch unser politisches Angebot muss darüber hinaus gehen. Denn der globale antifeministische Rollback und die weltweiten Attacken auf reproduktive Freiheit haben einen knallharten materialistischen Kern: Der Kapitalismus ist immer weniger in der Lage, die Krise der sozialen Reproduktion, die uns tagtäglich in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kitas begegnet, zu lösen und Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen gerne Familien in allen Varianten gründen würden und so leben können, wie sie es möchten – alleine, in Beziehungen, in Wohnprojekten, oder ganz anders. Deswegen sollen die Frauen nach dem Willen der Rechten weltweit jetzt Kinder bekommen, ob sie es wollen oder nicht und sie im Privaten, in der hetero-Kleinfamilie, auf sich gestellt, ohne die Hilfe der Gesellschaft, großziehen. Die US-amerikanische sozialistische Feministin Jenny Brown hat diesen Nexus zwischen dem Rückzug des Sozialstaats und dem Angriff auf reproduktive Rechte sehr klar herausgearbeitet.

Aus genau diesem Grund hetzt ein angeblich „liberaler“ Marktradikaler wie Javier Milei in Argentinien, der den Handel mit menschlichen Organen zulassen will, gegen die sogenannte „LGBTQ-Lobby“ und will Schwangerschaftsabbrüche kriminalisieren. Er weiß genau, dass dieses System nur weiter funktionieren kann, wenn es Menschen weiterhin in Lebensumständen gefangen halten kann, die nicht ihren wahren Bedürfnissen entsprechen.

Der feministische Kampf und der Kampf für die Rechte von Schwulen, Lesben, trans Personen und Queers ist ein gemeinsamer Kampf. Und dieser Kampf ist integraler Bestandteil der sozialistischen Bewegung. Es geht um umfassende Emanzipation von allen Zwängen und aller Unterdrückung. Diese Emanzipation muss materielle Sicherheit – für Familien wie für Individuen – immer mit einschließen. Es ist kein Zufall, dass auf eine Bundesregierung, die bei der Kindergrundsicherung versagt, auch beim Thema Abtreibung kein Verlass ist. Der liberale Feminismus wird uns immer wieder enttäuschen. Denn echte Emanzipation ist im Kapitalismus nicht zu haben.