«Es geht um die Zukunftsfähigkeit dieses Kontinents»
Martin, das sogenannte Europaparlament, bei dem es sich ja eigentlich um ein EU-Parlament handelt, ist selbst für politisch Interessierte eine Art Blackbox: Man weiß nicht so recht, was da vor sich geht. Könntest du kurz erläutern, wie deine Arbeit als Parlamentarier und Vorsitzender der Linksfraktion im Parlament aussieht?
Ja, gerne. Die linke Fraktion im Europaparlament besteht seit 1994. Derzeit sind wir mit 38 Abgeordneten die kleinste Fraktion im Parlament. Unsere Fraktionsmitglieder stammen aus 13 Mitgliedstaaten der Europäischen Union: aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, den Niederlanden, Portugal, Schweden, Spanien, Tschechien und Zypern.
Es handelt sich um einen ausgesprochen vielfältigen Zusammenschluss. Manche Parteien, wie Syriza und La France insoumise, sind in ihren Ländern echte politische Schwergewichte; andere, wie Podemos, sind aktuell an nationalen Regierungen beteiligt. Zur Fraktion gehören aber beispielsweise auch unabhängige irische Abgeordnete, portugiesische Kommunist*innen und eine Vertreterin der niederländischen Tierschutzpartei. Man sieht also, die politische Vielfalt ist groß. Gemeinsam mit der französischen Ko-Vorsitzenden der Fraktion, Manon Aubry, versuche ich, diese Vielfalt zu nutzen und gemeinsame politische Positionen zu erarbeiten – oft mit Erfolg, aber gelegentlich auch mal ohne.
Wir stellen zwar die kleinste Fraktion im Europäischen Parlament, haben es aber dennoch geschafft, in dieser Legislaturperiode entscheidende Prozesse in Gang zu setzen. So haben wir während der Corona-Krise für die Freigabe der Impfstoffpatente gekämpft und dazu als erste Fraktion einen entsprechenden Antrag gestellt. So konnten wir erheblichen Druck auf die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission ausüben. Irgendwann hatten wir dann tatsächlich die Mehrheit auf unserer Seite.
Wir waren auch die Ersten, die die Einführung einer Übergewinnsteuer forderten. Warum? Weil die Konzerne sich in der Krise dumm und dämlich verdienen und die Menschen das zurecht als ungerecht empfinden. Wir wollen, dass das Geld dort hingeht, wo es gebraucht wird, also in die kleinen Portemonnaies. Damit haben wir die gesamte europäische Debatte um die Übergewinnsteuer angestoßen; mittlerweile weiß jeder Mensch, was eine Übergewinnsteuer ist.
Außerdem waren wir die Ersten, die sich aktiv für «Plattform-Arbeitnehmer*innen», also etwa für die Beschäftigten der Lieferdienste, eingesetzt haben, die von den klassischen Arbeitnehmerschutzgesetzen nicht erfasst werden, da sie von digitalen Unternehmen angestellt sind. Auch hier waren wir maßgeblich an einer großen Gesetzesinitiative beteiligt. Man kann also unschwer erkennen, dass wir eine sehr wichtige Rolle im Parlament spielen.
Das Europaparlament sorgte ja unlängst für extrem negative Schlagzeilen…
Du meinst den großen Korruptionsfall, stimmt’s? Das war allerdings wirklich krass. Da waren italienische, griechische und belgische Abgeordnete aus der sozialdemokratische Fraktion involviert. Diese Abgeordneten haben sich bestechen lassen von den Regierungen Katars, Marokkos und Mauretaniens, die politische Entscheidungen kaufen wollten. Das Ganze klingt wie eine Räuberpistole, ist aber wahr. Und es zeigt, dass wir im Parlament viel mehr Transparenz und die Offenlegung möglicher Interessenkonflikte brauchen, und dass es dafür ein unabhängiges Ethik-Gremium geben muss, das die Abgeordneten überprüfen und auf die Einhaltung der Transparenzvorschriften drängen kann.
Weit verbreitet ist im Europaparlament und in der EU-Politik darüber hinaus der sogenannte Drehtüreffekt, also dass Leute aus der Privatwirtschaft direkt in die Politik wechseln und umgekehrt. Das führt regelmäßig zu massiven Interessenkonflikten, wie wir es 2019 bei der Wahl des französischen EU-Kommissars, Thierry Breton, angeprangert haben. Breton war CEO von Atos, einem weltweit führenden IT-Unternehmen, das auch in der Rüstungsindustrie tätig ist, und wechselte von dieser Position aus direkt ins Amt des EU-Binnenmarktkommissars. Solche Interessenkonflikte darf es nicht geben.
Was sind denn derzeit die wichtigsten Themen der Europapolitik, im Parlament und außerhalb des Parlaments?
Das dominante Thema des letzten Jahres war zweifellos der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, hat im Februar das Europäische Parlament besucht. Dort hat er eine sehr emotionale Rede gehalten und seinen Dank für die Unterstützung zum Ausdruck gebracht. Ich selbst habe mich ja in der Vergangenheit kritisch zu den deutschen Waffenlieferungen geäußert, und Selenskyj vertritt hinsichtlich der Frage, wie der Krieg beendet werden kann, eine andere Idee als ich. Für mich war es dennoch eine Selbstverständlichkeit, dem demokratisch gewählten Präsidenten eines angegriffenen Landes die Hand zu geben.
Meines Erachtens müssen wir angesichts des Krieges dringend darüber nachdenken, wie eine zukünftige Sicherheitsarchitektur in Europa aussehen kann. Das ist langfristig die große Aufgabe, vor die uns dieser Angriffskrieg stellt. Und wir werden uns als europäische Linke dieser Diskussion nicht entziehen können, sondern müssen eine für die Menschen überzeugende Antwort auf die Frage geben, wie kollektive europäische Sicherheit organisiert werden kann.
Eine weitere große Herausforderung für Europa stellt der fortgesetzte Protektionismus der Vereinigten Staaten dar. Präsident Joe Biden hat ja ein riesiges Investitionsprogramm aufgelegt, das darauf abzielt, die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten nachhaltig zu gestalten und neue Arbeitsplätze, auch in der Industrie, zu schaffen. Dabei handelt es sich um ein gewaltiges, aber auch ziemlich kluges Programm, das die Vergabe der Mittel an soziale Faktoren bindet, wie gute Jobs und gute Löhne, gewerkschaftliche Organisierung und Ausbildungsplätze. Das Programm gewährt auch Steueranreize, die allerdings nur jenen Unternehmen zugutekommen, die in den USA produzieren. Das klingt erstmal nach «America first», wird aber ergänzt durch eine sozial ausgewogene Finanzierung in Form einer Mindestbesteuerung der großen Konzerne.
Ein Alleinstellungsmerkmal linker Politik ist meiner Erfahrung nach, dass wir tatsächlich die Systemfrage stellen und deshalb in Konflikt geraten.
Das Problem für die EU besteht darin, dass diese Steuervorteile einen direkten Angriff auf die industrielle Basis und damit auch auf die Arbeitsplätze in Europa bedeuten, indem sie einen Anreiz zur Produktionsverlagerung in die USA schaffen.
In Europa gibt es ein solches Programm bislang ebenso wenig wie eine Mindeststeuer für Konzerne. Dabei stehen wir auch hier vor der Herausforderung, eine nachhaltige Industrie und neue, gute Arbeitsplätze zu schaffen. Die EU-Kommission hat kürzlich zwar erklärt, reagieren zu wollen, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie einfach den Schuss nicht gehört hat. Denn sie will das Ganze über Umstrukturierungen aus anderen Programmen finanzieren, die Gelder also einfach irgendwo anders herholen. Das ist der Unterschied zu dem, was die US-Regierung macht – anders als dort werden nämlich keine zusätzlichen Steuergelder von den großen Konzernen oder durch das Stopfen von Steuerschlupflöchern generiert, sondern einfach bestehende Einnahmen anders verteilt. Das wird jedoch nicht ausreichen für ein ambitioniertes Programm. Darüber hinaus gibt es keine soziale Konditionierung, wie ich sie vorhin für Bidens Programm beschrieben habe. Das treibt mich derzeit um, weil es dabei schlicht und ergreifend um die Zukunftsfähigkeit dieses Kontinents geht.
Historisch betrachtet wurde die EU ja von vielen linken Parteien als eine «Union der Bosse» gesehen, die Regelungen im Interesse der Konzerne trifft und nationale Standards untergräbt. In letzter Zeit gibt es aber auch Bewegung in eine andere Richtung, beispielsweise hinsichtlich der Errichtung europäischer Mindeststandards. Siehst du Spielraum für deine Fraktion, da mehr rauszuholen?
Das ist ein wichtiger Punkt, denn in der Tat ist es ein großes Problem, dass die Struktur des Binnenmarktes die heilige Kuh des europäischen Integrationsprozesses ist. Da will keiner rangehen, obwohl das dringend nötig wäre, weil die spezifische Struktur des Binnenmarkts die öffentliche Daseinsvorsorge in den Mitgliedstaaten massiv unter Druck setzt. Es gab zahlreiche Privatisierungen, etwa in der Energiebranche, aber auch in anderen Sektoren, die eigentlich in die öffentliche Hand gehören. Da sind in der Vergangenheit gravierende Fehler gemacht worden, die man jetzt korrigieren muss. Denn die Mitgliedstaaten, und nicht zuletzt die Bundesrepublik Deutschland, brauchen die Möglichkeit, massiv in den sozialen Wohnungsbau zu investieren und den Energiesektor wieder unter öffentliche Kontrolle zu bringen, um nur zwei besonders offensichtliche Beispiele zu nennen.
Hinzu kommt, dass das Beihilferecht den Staaten viele Optionen untersagt. Das Wettbewerbsrecht der EU hat die öffentliche Daseinsversorgung weitestgehend mit privaten Dienstleistungen gleichgestellt, und die Kommission hat den Mitgliedstaaten die Privatisierungen und Liberalisierungen ausdrücklich empfohlen, selbst in der Gesundheitsversorgung. Da stand dann zu lesen: Ihr gebt zu viel Geld für die Gesundheit der Bevölkerung aus. Aber die Aufgabe eines Krankenhauses ist es doch, die Leute gesundzupflegen – und nicht dem Wunsch der Kommission zu folgen, dass das Gesundheitssystem in irgendeiner Form rentabel sein muss. Aus unserer Sicht darf Gesundheit keine Ware sein, sondern muss als öffentliche Aufgabe definiert werden.
Den zweiten Teil deiner Frage, ob wir als Linke da mehr rausholen können, würde ich mit «Ja» beantworten. Denn durch den enormen Handlungsdruck öffnen sich derzeit an der ein oder anderen Stelle windows of opportunity, Gelegenheitsfenster, Dinge anders zu regeln. Das betrifft etwa die Diskussion um die Neugestaltung der Schuldenregeln, in der Beihilfe- und Wettbewerbsrecht infrage gestellt werden. Oder wenn man sich ansieht, was in der Debatte um die Regulierung des Energiemarkts ansteht. Auch die Diskussion zur Übergewinnsteuer, über die ich bereits sprach, und die nationalen Gesetze, die aus ihr folgten, wären hier zu nennen. Kurz: Es gibt derzeit durchaus Felder in der Europapolitik, wo die Linke mit einer klaren Positionierung für die Stärkung des Öffentlichen, für öffentliche Investitionen, Steuergerechtigkeit usw. punkten kann.
Die Europäische Union wird ja geregelt über eine Reihe von Verträgen und ein komplexes institutionelles Gefüge. Das scheint mir ein Grund dafür zu sein, dass das Interesse an der Europapolitik begrenzt ist, wie auch die sinkende Wahlbeteiligung nahelegt. Wie können die linken Parteien Europapolitik greifbarer und zugänglicher machen?
Das ist eine Frage, die ich mir auch jeden Tag stelle. Ein Teil der Antwort liegt darin, dass man anfängt, Politik so zu übersetzen, dass sie erfahrbar wird. Und damit meine ich gar nicht das, was die Institutionen machen, sondern das, was eine Linke auf europäischer Ebene anstoßen kann – und wie man das verzahnen kann mit dem, was die Linke hier in Deutschland macht.
Ein – wie ich finde – gutes Beispiel dafür, wie wir als Fraktion die Europapolitik greifbarer machen können, sind unsere Kampagnen. Wir haben beispielsweise eine Kampagne «Power to the People» ins Leben gerufen, in der es um den Energiemarkt geht. Dabei haben wir zum einen deutlich gemacht, dass die Energiefrage mit der Gerechtigkeitsfrage zusammenhängt. Und wir wollten zeigen, dass die Liberalisierung des europäischen Strommarktes vor zwanzig Jahren uns überhaupt erst in diese Situation gebracht hat. Damals wurde nämlich das Design entworfen, das uns jetzt dazu führt, dass die Gaspreise durch die Decke gegangen sind und auch der Strom zu teuer geworden ist. Das muss man begreifbar machen, und das geht meines Erachtens am besten durch eine Zuspitzung in Form von Kampagnen mit klaren politischen Forderungen – etwa jene nach Abschaffung des sogenannten Merit-Order-Prinzips, also dass die Strompreise sich nicht länger nach der letzten – und teuersten – Stufe der Netzeinspeisung richten. Man muss also die komplexen Zusammenhänge europäischer Politik in einfacher Sprache darstellen und klare politische Forderungen formulieren, die wiederum mit dem verzahnt sind, was die Menschen im Alltag erleben.
Bei der Energiekrise waren wir die Ersten, die gesagt haben: Dieser Energiemarkt funktioniert nicht mehr. Das wussten wir zwar schon vorher, aber dann haben der Energiemarkt und die Unternehmen freundlicherweise erneut den Beweis dafür angetreten. Und jetzt sieht sich die Kommission gezwungen, einen Entwurf vorzustellen, der zumindest leichte Korrekturen nach sich ziehen wird.
Wo siehst du mit Blick auf die EU spezifisch linke Perspektiven? Gibt es so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal linker Europapolitik?
Ja. Ein Alleinstellungsmerkmal linker Politik ist meiner Erfahrung nach, dass wir tatsächlich die Systemfrage stellen und deshalb in Konflikt geraten: einerseits mit manchen Verträgen oder europäischen Vertragsbestandteilen, und andererseits immer wieder mit den Eigentumsverhältnissen.
Die Verträge sind ja nicht gottgegeben, sondern von Menschen geschrieben, und deshalb kann und muss man sie mitunter auch infrage stellen. Man darf sagen, hier funktioniert etwas nicht, also lasst uns über Änderungen nachdenken. Wenn sich etwa die Ungleichheit in der Gesellschaft so zuspitzt, wie das derzeit der Fall ist, dann muss man natürlich auch darüber nachdenken, wie Vermögen umverteilt werden kann, und entsprechende Instrumente dafür entwickeln.
Klar ist aber auch – und das berührt dann die Eigentumsfrage –, dass man sich damit in die Auseinandersetzung mit den Großkonzernen und Superreichen begeben muss. Das geschieht ja durchaus im Interesse der Bevölkerungsmehrheit. Ihr seid so reich, weil die anderen so arm sind, könnte man in Anlehnung an Bertolt Brecht sagen. Also es gibt diesen Zusammenhang, und wir brauchen dringend eine massive Umverteilung von oben nach unten. Und wir brauchen eine neue Struktur der Eigentumsformen, vor allem im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge. Bei dem, was wir zum Leben benötigen, wie Gesundheit, Energie, Wohnen, muss das öffentliche Interesse dominieren, nicht das private. Und um dahin zu kommen, braucht es uns, weil es keine andere politische Kraft gibt, die diese Position vertritt.
Welche Möglichkeiten siehst du, bei bestimmten Themen auch eine europaweite Mobilisierung hinzubekommen?
Für mich ist das zum Beispiel die Frage der Zukunft des Energiesektors. Meines Erachtens ist auch die Frage von social housing, also von bezahlbarem Wohnraum, ein europaweit mobilisierungsfähiges Thema, denn rasant steigende Mieten gibt es nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. In diesem Zusammenhang steht auch die Auseinandersetzung mit den Kurzzeitvermietungsplattformen wie Airbnb, Booking.com usw., die mir sehr am Herzen liegt. Ich habe eine Studie zum Thema herausgegeben, die deren Geschäftsmodell analysiert und belegt, dass diese Kurzzeitvermietungen dazu führen, dass effektiv Wohnraum entzogen wird, weil er von Airbnb und anderen Anbietern für Tourist*innen und nicht mehr für die Menschen, die in der Stadt leben, zur Verfügung gestellt wird. In der Folge steigen die Mieten in den Vierteln, die besonders davon betroffen sind – in der Regel in zentralen Lagen oder da, wo das kulturelle Leben tobt –, rasant an. Das ist ein Riesenproblem, weil es für den Mietmarkt in Barcelona, Amsterdam, Berlin, Hamburg und anderswo eine zusätzliche Anspannung bedeutet und die Preise nach oben treibt. Ich halte das durchaus für ein Thema, zu dem man europaweit mobilisieren kann.
Es ist nicht so, dass durch die fortgesetzten Krisen in den Mitgliedstaaten im Moment irgendeine Linke wirklich durch die Decke ginge oder so. Wir haben alle die gleichen Probleme und die gleichen Aufgaben.
Ich bin mir nicht sicher, ob das in demselben Maße auch für die Frage der Nahrungsmittel der Fall ist, aber es wäre einen Versuch wert. In Deutschland gibt es inzwischen zwei Millionen Menschen, die jeden Monat zu den Tafeln gehen, auch weil die Nahrungsmittelpreise im vergangenen Jahr um rund zwanzig Prozent gestiegen sind. Der europaweite durchschnittliche Preisanstieg lag zwar darunter, aber die Ernährungsarmut wächst auch im europäischen Maßstab massiv. Es gibt also überall das Problem, dass die Leute sich nicht mehr genug Essen leisten können. Ich finde es unglaublich, dass in Deutschland und der EU Hunger existiert, weil es eigentlich überhaupt kein Problem wäre, die 450 Millionen Menschen, die in der EU leben, so zu ernähren, dass alle gesund satt werden.
Ja, das stimmt, da denkt man dann schon an die Systemfrage, wie du sie vorhin beschrieben hast, also dass man statt der Profite die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen müsste. Ihr arbeitet ja als Abgeordnete im Europaparlament, wie du einleitend bereits dargelegt hast, mit vielen anderen linken Parteien aus Europa zusammen. Könntest du ein Beispiel dafür nennen, wo die Linke besonders erfolgreich ist?
Ja, da würde ich Spanien nennen, da gibt es ja eine Mitte-Links-Regierung. Teil dieser Regierung ist auch Podemos, deren Abgeordnete im Europaparlament unserer Fraktion angehören. Podemos stellt den Arbeitsminister und die Sozialministerin, um die Menschen vor den Folgen der Krise zu schützen.
Diese Mitte-links-Regierung hat in der Krise einige Reformen beschlossen, die sich positiv von der Krisenpolitik der Bundesregierung abheben. So erhebt sie beispielsweise eine Übergewinnsteuer, mit deren Erlös sie den öffentlichen Personennahverkehr kostenfrei gemacht hat; das hilft sowohl den arbeitenden Menschen als auch dem Klimaschutz. Sie hat als erste europäische Regierung den Gas- und Strompreisdeckel eingeführt. Und sie hat die Mindestlöhne und die Renten erhöht. Um den Menschen durch die Krise zu helfen, hat man sozialpolitisch also nicht gekleckert, sondern geklotzt.
Das war viel effektiver als das, was die Bundesregierung an sogenannten Entlastungspaketen beschlossen hat. Und das hängt natürlich damit zusammen, dass da eine linke Regierungspartei massiv Druck gemacht hat.
Inwiefern spiegeln sich diese Themen, die in Spanien eine wichtige Rolle spielen, in der Arbeit der Linksfraktion im Europaparlament?
Ganz einfach: Wir sind die Kraft, die im Parlament Politik für Arbeitnehmer*innen macht und den Konflikt mit «denen da oben» nicht scheut. Außerdem sind wir die Kraft, die sich für jene Menschen einsetzt, die sich in ökonomisch sehr schwierigen Situationen befinden und von sich selber sagen, sie hätten nicht genug Geld im Portemonnaie. Die Armutsquote in der EU ist viel zu hoch, das man kann gar nicht laut genug sagen. Wir machen also vor allem Politik für Arbeitnehmer*innen und für von Armut betroffene Menschen. Wir wollen die Interessen dieser Menschen, die sonst keine Interessenvertretung haben, ins Parlament einbringen. Darin sehen wir unsere Rolle, und das zieht sich quer durch alle Politikbereiche.
Dadurch geraten wir automatisch in Widerspruch zur Europäischen Kommission, da deren Vorschläge die Belange dieser Menschen in der Regel nicht im Auge haben. Und wir stehen in Opposition zu der sogenannten Ursula-Koalition, die sich im Europäischen Parlament gebildet hat. Sie wird von den grünen, sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Fraktionen getragen, die diese Kommission in aller Regel unterstützen.
Wir sind aber auch eine Fraktion, die sich den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben hat. Mitglied unserer Fraktion sind ja auch sogenannte links-grüne Parteien aus Skandinavien, aber Klimaschutzpolitik ist für unsere französischen, spanischen und deutschen Genoss*innen ebenfalls enorm wichtig. Auch der Feminismus spielt für uns als Querschnittsthema eine wichtige Rolle.
Es gibt ja auch Linke in den kleineren Ländern, die selbst bei sehr guten Ergebnissen kaum eine Chance haben, jemals ins Parlament einzuziehen, weil sie für einen Abgeordneten einen hohen Stimmenanteil benötigen. Werden diese Parteien, oder sagen wir mal die Linke aus diesen Ländern, in irgendeiner durch diese Fraktion, die du anführst, mit vertreten?
Na klar. Wir haben so was wie einen Mapping-Prozess, bei dem wir darauf gucken, wo andere linke Partnerparteien aktiv sind, die den Weg ins Europaparlament bislang noch nicht geschafft haben, sei es aufgrund hoher Wahlhürden oder durch eine zeitweilige Schwäche der Parteien. Mit denen arbeiten wir natürlich auch zusammen.
Alle Demokratinnen und Demokraten sind aufgefordert, sich klar nach rechts abzugrenzen. Denn nur so können wir den Aufschwung der Rechten aufhalten.
So sind etwa von jenen Parteien, die früher in der Fraktion vertreten waren, dann aber nicht wiedergewählt wurden, immer noch Mitarbeiter*innen vorhanden, sodass wir einen ständigen Austausch zwischen den Parteien und der Fraktionsarbeit organisieren können. Wir laden Vertreter*innen von Parteien, die aussichtsreich in ihrem Parteiensystem agieren und voraussichtlich 2024 ins nächste Parlament einziehen werden, auch zu Treffen ein. Es gibt andere Parteien, wo es ja tatsächlich äußerst unwahrscheinlich ist, dass sie schaffen, weil es so kleine Länder sind mit nur wenigen Abgeordneten. Aber mit denen können wir trotzdem zusammenarbeiten.
Und dann gibt es neben der Fraktion noch die Partei der Europäischen Linken, die EL, die so etwas wie ein Dachverband europäischer Linksparteien ist. Derzeit gehören über zwei Dutzend Parteien zur EL, darunter eben auch solche aus kleinen Ländern wie Luxemburg, die im Grunde keine Chance haben, einen Abgeordneten ins Europaparlament zu entsenden. Teil der EL sind außerdem Parteien aus Ländern, die nicht zur EU gehören, etwa aus der Schweiz und der Türkei. Deshalb ist die EL der beste Ort, die unterschiedlichen Positionen breit auszutauschen und gemeinsame Stellungnahmen zu erarbeiten.
Eine der größten, wenn nicht gar die größte Herausforderung der Europäische Union ist der massive Aufschwung rechtsradikaler Parteien, die ja inzwischen bis in die Regierungen vorgedrungen sind, etwa in Ungarn, Polen und jetzt auch in Italien, oder auch die indirekten Regierungsbeteiligungen durch Tolerierung, die es immer wieder mal in Skandinavien und aktuell in Schweden gibt. Was können wir, was könnt auch ihr im Parlament tun, um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Ich bin der Auffassung, dass deren Konzept, an Stärke zu gewinnen, darauf aufbaut, einen Spaltpilz in die unteren Klassen zu treiben. Das heißt sie machen in der zugespitzten sozialen Situation Angebote, die sich durchaus auch an Teile der unteren Klassen richten, aber eben nur an Teile derselben, anstatt an alle – und sie tun das nicht in der Auseinandersetzung mit oben, sondern in aller Regel durch die Diffamierung Schwächerer. Etwa indem sie gegen Geflüchtete hetzen oder gegen Diversität, die nicht ihren überkommenen Normen entspricht. Auf diese Weise versuchen die Rechtsradikalen, die unteren Klassen zu spalten.
Die Antwort darauf kann nur lauten, dass man sich nicht spalten lässt. Wir müssen inklusiv argumentieren und all diejenigen zusammenbringen, die eigentlich ein gemeinsames soziales Interesse haben – nämlich, dass sie endlich auch ein gutes Leben führen können, statt dass sich weiterhin einige wenige auf Kosten vieler bereichern.
Damit schützt man übrigens auch die Demokratie. Wir müssen verhindern, dass die radikale Rechte weiter erstarkt, dass sie weiter Personengruppen gegeneinander ausspielt und auf diese Weise erstarkt. Aber das ist, ehrlich gesagt, angesichts der Vielfalt der Krisen und der Angriffspunkte, die sich den Rechten in diesem Kontext bieten, eine ziemlich schwere Aufgabe.
Und wenn wir ehrlich sind: Es ist nicht so, dass durch die fortgesetzten Krisen in den Mitgliedstaaten im Moment irgendeine Linke wirklich durch die Decke ginge oder so. Wir haben alle die gleichen Probleme und die gleichen Aufgaben. In der aktuellen politischen Situation sind es eher die Rechtsradikalen, die profitieren. Wir, die Linken, haben, auch wenn wir die Krisenlage theoretisch und politisch erfassen können, noch nicht die populäre Antwort gegeben, wie man die Interessen wirklich zusammenführt. Aber das ist unser aller Aufgabe: eine populäre Linke zu werden, die diese Menschen mit einer einfachen Sprache und klaren politischen Forderungen zusammenführt. Daran müssen wir alle arbeiten.
Welche Rolle spielt die radikale Rechte denn im Europäischen Parlament?
Leider eine recht große. Die radikale Rechte teilt sich in zwei Fraktionen mit jeweils 64 Abgeordneten: die «Fraktion Identität und Demokratie», zu der die AfD, die FPÖ, Le Pens Rassemblement national, aus Italien die Lega, aus Belgien der Vlaams Belang und andere gehören, und die «Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer», zu der die polnische PiS, die Schwedendemokraten, die spanische Vox und Melonis Fratelli d’Italia zählen.
Insbesondere die letztgenannte Fraktion spielt eine wichtige Rolle. Das hat zum einen damit zu tun, dass Fratelli d’Italia bei der letzten Wahl dazugewonnen hat und Georgia Meloni seit Oktober 2022 italienische Ministerpräsidentin ist. Wichtiger noch ist aber, dass die Mitte-rechts-Parteien der Europäischen Volkspartei, der EVP, immer wieder mit den rechtsradikalen Fraktionen zusammenarbeiten.
Die EVP und teilweise auch die Liberalen haben in diesen Rechten ihre besten Kumpel gefunden. Das zeigt sich – auch im Parlament –, wenn es ihnen beispielsweise darum geht, gegen die Gleichstellung der Geschlechter vorzugehen oder gegen den Klimaschutz, wo es inhaltlich große Schnittmengen mit den Rechtsradikalen gibt.
Vor allem aber gibt es natürlich viele Beispiele in der Migrationspolitik. Dass die Mitte-rechts-Parteien die Brandmauer gegen die Rechtsradikalen an dieser Stelle immer wieder einreißen, stärkt diese natürlich. Und deswegen spielen sie leider eine viel gewichtigere Rolle, als ich mir das wünsche. Da sind alle Demokratinnen und Demokraten aufgefordert, sich klar nach rechts abzugrenzen, diese Brandmauer stehen zu lassen und nicht einzureißen. Denn nur so können wir den Aufschwung der Rechten, den wir derzeit in vielen Ländern Europas erleben, aufhalten. Und das ist kurzfristig die wichtigste Aufgabe, auch für die europäische Linke.
Das Interview erschien zuerst bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung