Der Arbeitskampf in Frankreich geht weiter
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Seit Anfang des Jahres finden in Frankreich landesweit zahlreiche Streikaktionen in verschiedenen Sektoren statt, mit denen die Gewerkschaften die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 zu verhindern versuchen. Die französische Regierung will erreichen, dass die Menschen länger arbeiten, nach eigenen Angaben, um ein Defizit in der Rentenkasse zu verhindern. Allerdings konnte das französische Rentenaufsichtsgremium (Conseil d’Orientation des Retraites) keine finanzielle Gefährdung des Rentensystems feststellen. Es argumentiert, die Reform werde Mehrkosten in Form von Arbeitslosigkeit und Krankschreibungen älterer Menschen hohe Kosten verursachen, und deshalb die Anpassung des Rentenalters möglicherweise gar nichts bringe. Auch die Bevölkerung kann die Reform kaum nachvollziehen: Rund 70 Prozent der Französ*innen und 93 Prozent der Berufstätigen sind gegen die Reform. Im Folge legten die massiven Streiks unter anderem den Zug-, Flug- und Schiffsverkehr teils lahm. Es gab auch Treibstoffknappheit, nachdem die Gewerkschaften den Zugang zu Raffinerien blockiert hatten.
Nationaler Aktionstag am 6. Juni
Die Gewerkschaften riefen den 6. Juni als nationalen Aktionstag aus. Sie sind der Meinung, es sei besser, wenn sich die Arbeitende zusammenschließen, um die Auswirkungen des Streiks so spürbar wie möglich zu machen, anstatt häufigere, aber weniger organisierte und daher weniger störende Streiks auf sektoraler Ebene durchzuführen. Die Gewerkschaften sind auch davon überzeugt, dass ein Monat ohne Streiks so viele Menschen wie möglich zum Mitmachen am 6. Juni ermutigt.
Außerdem wird es am 8. Juni eine Abstimmung im französischen Parlament geben, über einen Antrag der Opposition, die Rentenreform zu streichen. Nachdem im März die Regierung mit einem Misstrauensvotum beinahe gestürzt wurde, wird nun davon ausgegangen, dass diesmal der Antrag mit parteiübergreifender Unterstützung von allen Oppositionsabgeordneten angenommen wird. Über 60 Prozent der Bevölkerung sprechen sich für einen Generalstreik aus.
Streiken gegen die Rentenreform: Wie geht das?
Frankreich ist bereits seit 1995 stets an der Spitze des Widerstandes gegen die neoliberale Offensive. So wurde im Jahr 1995 eine Rentenreform nach dreiwöchigen Streiks gestoppt, 2010 hingegen konnte die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre und des vollen Rentenalters von 65 auf 67 Jahre nicht verhindert werden. Andererseits wird in Frankreich grundsätzlich öfter gestreikt. Das liegt daran, dass anders als in Deutschland, politische Streiks und Generalstreiks in Frankreich zulässig sind. Dass die Streikkultur in Deutschland eine andere ist als in Frankreich, liegt also weitgehend an dem besonders strengen Streikrecht in Deutschland. In Frankreich ist das individuelle Streikrecht Teil der französischen Verfassung. Somit steht das Streikrecht nicht ausschließlich den Gewerkschaften zu. Für einen Streik reicht es zwei Arbeiter*innen, die ihre Arbeit niederlegen. Es ist kein Aufruf durch eine Gewerkschaft notwendig, um einen Streik anzufangen. Die Arbeitnehmer*innen sind auch nicht an eine Friedenspflicht gebunden, und dürfen während der Laufzeit eines Tarifvertrags streiken. Das Streikrecht wird ebenso nicht von der Dauer eines Tarifvertrags oder vorhergehende Verhandlungen verhindert. Auch ein politischer Streik, wie der gegen die Rentenreform, ist unter bestimmten Bedingungen erlaubt.
Welche Auswirkungen wird der Streik am 6. Juni haben?
Die neuen Arbeitskämpfe in Frankreich bilden eine neue Basis, um eine breite Arbeiter*innenbewegung aufzubauen. Die aktuelle Massenbewegung stützt sich mehr oder weniger bewusst auf die Lehren der Bewegungen der letzten Jahre. Darüber hinaus ist festzustellen, dass, selbst wenn die Regierung nach historischen Mobilisierungen kompromisslos bleibt, keine Demoralisierung stattfindet, sondern vielmehr das Bewusstsein der Menschen geschärft, dass es notwendig ist, die Kampfbereitschaft zu erhöhen. Das beweisen auch die Mobilisierungen der letzten Monate. Die Antwort des Staates wird jedoch auch immer heftiger: Präsident Emmanuel Macron verschärfte inzwischen die Repression und die Polizeieinsätze bei Demonstrationen. Den Einsatz unverhältnismäßigen Polizeigewalt begründet er mit angeblichen Ausschreitungen der radikalen Linken: mit aufgebrachten Demonstrierenden und einzelnen Steinewerfern auf der einen Seite, mit Granatenwürfen, Gummigeschossen und Tränengaseinsätzen seitens der Polizei.
Was kommt als Nächstes?
Die Nationalversammlung wird am Donnerstag, dem 8. Juni, über mehrere Anträge zu den Rentenreformen in Frankreich diskutieren. Die im März beschlossenen Reformen sollen am 1. September in Kraft treten. Trotz der Entschlossenheit des Präsidenten scheint ein Sieg der sozialen Bewegung am Ende noch möglich zu sein. Die Streikwelle ist geprägt von den neuen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die sich auf dem Kontinent nach der Pandemie, der Inflation und dem Krieg in der Ukraine aufgetan haben und einen erheblichen Einfluss auf die Senkung des Lebensstandards der Menschen üben. Angesicht der großen und langanhaltenden Unruhen und der Entschlossenheit der Demonstrierenden, die sich trotz Repressionen nicht einschüchtern lassen, könnte die Rücknahme der Reformen die beste Option für Macron sein.