Die Linke muss lernen, Segel zu setzen.
„Die Zeit des Verstummens nach dem seltsamen Tod des Sozialismus ist vorbei.“ Mit diesem Satz beginnt das neue Buch von Michael Brie. Es trägt den ambitionierten Titel „Sozialismus neu denken“ und setzt sich auf gut 150 Seiten mit der Frage auseinander, wie die solidarische Gestaltung gesellschaftlicher Widersprüche den Weg in eine solidarische Gesellschaft ebnen könnte.
Das Buch ist sowohl eine ideengeschichtliche Zeitdiagnose als auch der Appell an die Linke, die Diskussion über gesellschaftliche Utopien offensiv zu führen. Denn die Zunahme sozialer Notlagen, der drohende Klimakollaps, immer neue ökonomische Krisen und eine mögliche Eskalation der verschiedenen kriegerischen Brandherde auf der Welt könnten am Ende jenen Recht geben, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks frohlockten, der Kapitalismus sei das Ende der Geschichte. Allerdings in einem ganz anderen Sinn: Dass nämlich das Ende des Kapitalismus mit der Zerstörung des Planeten zusammenfallen könnte.
Deshalb fordert Brie die Linke auf, über das Stadium der bloßen Systemkritik hinauszukommen. Einen Antikapitalismus ohne eine linke Gesellschaftsanalyse kann sich nur leisten, wer der Illusion aufsitzt, dass der Kapitalismus durch einen inneren Verfall zugrunde gehen wird. Der Blick in die Geschichte zeigt jedoch das Gegenteil: einen ausgeprägten Überlebenswillen bei einer hohen Anpassungsfähigkeit. Die wenigen historischen Momente, in denen der Kapitalismus ernsthaft strauchelte, unterstreichen jedoch: Um ihn zu überwinden, braucht es einen Stoß von extremer Heftigkeit ebenso wie eine überzeugende gesellschaftliche Alternative. Eine Alternative, die glaubhaft vermittelt, dass es einen Weg raus aus Chaos und Zerstörung gibt.
Mit diesem Verweis stellt Brie völlig zu Recht klar: Eine Utopiediskussion ist mehr als eine reine Theoriediskussion. Eine Utopiediskussion wäre das Ringen um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, die Suche nach linker Handlungsfähigkeit. Denn so wie die Linke geschwächt wurde, weil die Idee von einer sozialistischen Alternative an Glaubwürdigkeit verlor, so kann sie nur an Stärke gewinnen, wenn sie in der aktuellen gesellschaftlichen Krisensituation Antworten entwickelt, die über den sozial und ökologisch regulierten Kapitalismus hinausweisen. „In einer Welt, in der es keine funktionsfähigen Alternativen zum Kapitalismus mehr gibt, bieten einzig die Alternativen innerhalb des Kapitalismus Wahlmöglichkeiten“, zitiert Brie den englischen Soziologen James Fulcher, um die Problematik zu unterstreichen.
Brie begründet also die Notwendigkeit für eine linke Utopiediskussion aus den bestehenden kapitalistischen Antagonismen und löst diese damit von der bloßen theoretischen Annahme des „So könnte es sein, wenn …“ Für ihn wird das Nachdenken über eine sozialistische Gesellschaftsvision in einer Zeit äußerst zugespitzter gesellschaftlicher Widersprüche vielmehr zu einem unverzichtbaren Instrument des Gegensteuerns. Und das mit allem Nachdruck: So hat die Geschichte hinreichend dokumentiert, dass die herrschenden Klassen bereit sind, die Demokratie zu beseitigen, um den Kapitalismus unberührt zu lassen. Der Aufstieg des Faschismus war kein Betriebsunfall, sondern folgte auf eine autoritäre Politik, die das Ziel hatte, die globale Marktgesellschaft zu erhalten. Gerade mit dieser historischen Erfahrung im Rücken muss sich die Linke sowohl ihrer historischen Verantwortung als auch ihrer politischen Leerstellen bewusst werden.
Doch das Buch ist nicht nur eine Aufforderung zur Utopiediskussion. Es leistet auch einen eigenen Beitrag zu dieser. Dazu bricht Brie den Sozialismusbegriff ideengeschichtlich auf und arbeitet sowohl den Liberalismus als auch den Kommunismus als politische Wurzeln des Sozialismus heraus. Er verweist dabei darauf, dass sich der Kampf um das Verhältnis von Liberalismus und Kommunismus, um das Verhältnis von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung als schwere Hypothek für die sozialistische Bewegung erwiesen und diese nachhaltig geschwächt habe. Während die Vorherrschaft der liberalen Tendenz in den Kapitalismus mündete, führte die Vorherrschaft der kommunistischen Tendenz in den Staatsparteisozialismus sowjetischer Prägung.
Für Brie muss der Untergang des Sozialismus auch darauf zurückgeführt werden, dass der ungelöste Widerspruch zwischen gesellschaftlicher und individueller Entwicklung aufgelöst und eine widerspruchsfreie Gesellschaft geschaffen werden sollte. Die so wichtige Neubegründung des Sozialismus, die Brie mit seinem Buch einfordert, müsse aber mit der Anerkennung des Weiterbestehens dieser Widersprüche beginnen. Denn die modernen komplexen Gesellschaften haben immer zwei Zwecke: die Wahrung der individuellen Interessen des Einzelnen ebenso wie die Sicherstellung der gesellschaftlichen Entwicklung. Sozialismus muss deshalb als gesellschaftliche Grundlage verstanden werden, den Gegensatz zwischen Liberalismus und Kommunismus miteinander auszuhandeln und ihn sozial, ökologisch, demokratisch und friedlich auszutragen.
Es könnte einiges zu den materialistischen Grundlagen gesagt werden, die zum Scheitern des Sozialismus in ökonomisch unterentwickelten Ländern wie Russland und China geführt haben, und die Brie in seinem Diskurs unberücksichtigt lässt. Doch das wäre eine andere wichtige Debatte. Und sie würde ablenken davon, dass sich „Sozialismus neu denken“ wie ein Eintrag ins Stammbuch der Linken liest. Unnachgiebig macht es deutlich: Wer den Anspruch hat, in die bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche zu intervenieren, muss anfangen, in Widersprüchen zu denken. Die durchaus verbreitete Annahme von politischem Handeln und emanzipatorischen Bewegungen ohne Widersprüche ist jedoch das Opium der Linken: Sie schafft keine Handlungsfähigkeit, sondern macht denkfaul und aggressiv gegen Widerspruch.
Richtig ist: Die aktuelle gesellschaftliche Krisensituation bietet wenig Spielraum, um einen linken Aufbruch zu organisieren und birgt zugleich ein enormes Zerstörungspotential. Eine Linke, die sich nicht einfach vom Sturm kapitalistischer Herrschaft und Barbarei treiben lassen möchte, muss die bestehenden Widersprüche nutzen, um ihre Segel zu setzen. Sie braucht ein Bewusstsein davon, dass ihre theoretischen Fundamente ebenso wie ihre historischen Erfahrungen der Wind der Weltgeschichte sind, den sie in den Segeln hat. Da das Verlassen des Schiffes keine Option sein darf, muss die Linke also lernen, die Segel richtig zu setzen, um voranzukommen.
Ein kluges Buch. Und unverzichtbar für die notwendige linke Strategiedebatte.
Michael Brie: Sozialismus neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu den Widersprüchen einer solidarischen Gesellschaft, VSA, 14 Euro