Für einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel
An Krisendiagnosen mangelt es nicht. Zuletzt waren sie in Davos zu hören: „Das nächste Jahrzehnt wird von ökologischen und sozialen Krisen gekennzeichnet“, schreiben die Experten des World Economic Forum in ihrer Risikoanalyse. Der Vorrang des Marktes, der fast 30 Jahre als alternativlos galt, steht infrage. Kein Wunder: Inflation, Klimakrise, Lieferkettenstörungen, Wohnungsnot in Ballungsräumen, drohende Deindustrialisierung, der Beinahe-Kollaps unseres Gesundheitssystems – immer deutlicher wird, dass der Markt wenig regelt.
Strittig scheint, was daraus folgt. Zwar hat die Bundesregierung auf die Energiekrise nach einigem Zögern mit Entlastungspakten reagiert. Aber sie ignoriert die Ursachen und lässt die strukturellen Gründe für die Teuerung außen vor. Das hat wirtschaftliche Konsequenzen. Inzwischen erwägt fast jedes fünfte mittelständische Unternehmen, Arbeitsplätze aufgrund hoher Energiepreise abzubauen. Gleichzeitig ist die Ungleichheit so groß wie zu Zeiten Kaiser Wilhelms.
Dank der Bereicherungsorgien weniger verfügen die fünf reichsten Familien über ein Vermögen wie die gesamte untere Hälfte, wie Berechnungen auf Grundlage von Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen. Doch wenn Wirtschaftsminister Habeck sagt, alle müssten „ihren Anteil leisten“, meint er vor allem die „unten“. Die SPD redet vom „Comeback der Infrastrukturpolitik“, will dafür aber „Risikokapital nach Europa“ locken. Die von Finanzminister Lindner angedrohte „Zeitenwende in der Wirtschaft“ steht symbolisch für die Gefahr, dass die Bundesregierung in der Sackgasse wieder aufs Gas tritt, die Wand fest im Blick.
Das ist kein Zufall. Schon das wirtschaftspolitische Grundmotiv der Ampel war blauäugig. SPD, Grüne und FDP wollten durch Subventionen und technologische Innovation in einen „grünen Kapitalismus“ wachsen – ohne die schreiende Ungerechtigkeit im Land zu bekämpfen und den Binnenkonsum nachhaltig zu stärken, ohne Veränderungen am Exportmodell. Aber Putins verbrecherischer Angriffskrieg hat der „Fortschrittskoalition“ vorzeitig die Rechnung präsentiert. Während die USA mit dem Inflation Reduction Act massiv in Zukunftstechnologien investieren und mittels Steuerdumping ihre „europäischen Partner“ kalt lächelnd in den Boden konkurrieren, bleiben die hier nötigen Investitionen aus. Die Ersetzung der Abhängigkeit von russischem Gas durch die Abhängigkeit von den USA und Diktaturen wie Qatar macht deutlich: Mit dieser Regierung gibt es keinen Investitionsbooster für den Sprung nach vorn. Der Grund dafür ist einfach. Die Bundesregierung scheut den Konflikt mit Superreichen und Großkonzernen.
Das zeigt sich besonders im Osten: Der Umgang mit der PCK-Raffinerie in Schwedt steht für das Problem von schleichender Deindustrialisierung und sozial-ökologischem Umbau. Zwar hat die Regierung nach öffentlichem Druck Beschäftigungsgarantien für die Kernbelegschaft und Investitionen beschlossen. Doch ein verbindlicher Zukunftsplan für die Region steht aus. Zu spät,zu wenig – das charakterisiert die Wirtschaftspolitik der Ampel. Das Geld fehlt dort, wo es dringend gebraucht wird, und es wird – Stichwort Bundeswehr-Aufrüstung und Ausbau der fossilen Infrastruktur – oft dort investiert, wo es schadet.
Symptombekämpfung reicht nicht mehr, wir brauchen einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel. Er beginnt mit der Zurückverteilung des Reichtums. Denn die Vermögenskonzentration ist nicht nur ungerecht, sie ist auch wirtschaftlich schädlich, weil sie Investitionen – wie in Bildung und Gesundheit – behindert. Es ist Zeit für eine Vermögen- und eine echte Übergewinnsteuer. Gleichzeitig müssen wir die „Schuldenbremse“ genannte Investitionsblockade überwinden. Für die epochalen Herausforderungen von Klimaschutz und Digitalisierung, vergleichbar mit industrieller Revolution und Elektrifizierung, reichen Bordmittel nicht. Um Industrie, Energieversorgung und Verkehr klimagerecht umzubauen, braucht es das größte Investitionsprogramm der Republikgeschichte. Mit einem Rekommunalisierungsfonds können wir zudem öffentliches Eigentum, insbesondere bei der öffentlichen Daseinsvorsorge, und die demokratische Kontrolle strategischer Sektoren stärken. So schützen wir kritische Infrastruktur, zum Beispiel Raffinerien, Energienetze oder Logistikzentren wie den Hamburger Hafen, vor dem Ausverkauf an autoritäre Regime oder Spekulanten. Und so schaffen wir Wohlstand. Beispiel Energiemarkt: Die Gewinninflation ist marktwirtschaftlich nicht zu rechtfertigen. Dagegen können die Preise der Erneuerbaren sinken, wenn man sie ohne Profitinteressen ausbaut. Das zeigt: Angesichts der Krisen braucht unsere Wirtschaft ein starkes öffentliches Rückgrat. Wir sollten daher den Mut haben, mehr Sozialismus zu wagen.
Das meint keine ideologische Debatte der Vergangenheit. Im Gegenteil: Nur wenn die Politik den Mut hat, den Markt zu regeln, lassen sich aktuelle Zielkonflikte lösen – erst dann können wir Beschäftigungssicherung und Klimagerechtigkeit verbinden. Das schützt auch unsere Demokratie gegen die extreme Rechte und Putins Destabilisierungsversuche.
Der Artikel erschien zunächst am 7. Februar 2023 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.