Lasst die Sprache los
Claudia Müllers tolle Dokumentation über Leben und Werk der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.
Wenn man in Mürzzuschlag nach einem Ort sucht, der der Schriftstellerin Elfriede Jelinek gewidmet ist, sucht man ihn vergeblich. Mindestens ist er extrem gut versteckt. Der Geburtsort der Nobelpreisträgerin in der Steiermark geht wenig hausieren mit seinem berühmten Stadtkind. Vielleicht kein Wunder: Jelinek trägt neben dem berühmten Preis viele weitere Ehrungen mit sich herum. „Vaterlandsverräterin“, „Schmutzfink“ sind die gängigsten – und dann wohl die schlimmste: „Kommunistin“. Und während ihre Theaterstücke in der Hauptstadt Österreich und weltweit aufgeführt werden, erfuhr sie anderswo im Land Beschimpfungen.
Ihr Werk ist das einer originäre Literatin, wie es nicht viele gibt. Zu Beginn ihrer Karriere wartet Jelinek mit völlig neuer Sprache und einem provokanten Stil auf. In konsequenter Kleinschrift spielt sie in ihren Romanen Situationen tief empfundener Unterdrückung und Ungleichheit durch. „Wir sind Lockvögel, Baby“, „Michael“, Die Klavierspielerin“, „Die Liebhaberinnen“: Hier tritt eine völlig neue Kunst auf die Bühne: Herrschaftsverhältnisse der kapitalistischen Art: Eltern gegen Kinder, Mann gegen Frau, Fabrikbesitzer gegen Arbeiterklasse bearbeitet sie kritisch und parabelhaft in Spielsituationen. Und ist dabei unfassbar witzig.
Humor ist jedoch leider etwas, was ihrem Werk mit der Zeit abhanden kam. Vielleicht kein Wunder: Seitdem sie den Literatur-Nobelpreis erhielt, nahmen die Angriffe auf sie maßlos zu. Der Vorwurf: Mit ihren „Nestbeschmutzungen“ mache sie Weltkarriere. Doppelt übel nahm man ihr vor allem, dass sie immer wieder auf die Verstrickungen des prominenten österreichischen Personals, das sich das Nest so hübsch eingerichtet hat, mit dem Nationalsozialismus aufmerksam gemacht hat.
Dass sie heute sehr zurückgezogen lebt, hat damit zu tun. Der Regisseurin Claudia Müller ist es zu verdanken, dass Jelinek einen Blick in ihre Lebenswelt zulässt. „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ heißt Müllers Dokumentarfilm, der stark an der Arbeit Jelineks ansetzt, um dann die Familiengeschichte nachzuzeichnen. Die Mutter aus dem Großbürgertum, der Vater ein jüdischer Chemiker mit starkem Hang zur Arbeiterbewegung, der später schwer erkrankte und in der Psychiatrie verstarb. Mutter Olga trimmte ihre Tochter auf Erfolgskurs, und zwar in der Musik: Elfriede Jelinek ist ausgebildete Organistin und spielt noch einige andere Instrumente. Eine Konzertprobe an der Kirchenorgel zeugt von ihrem Können.
Schreiben sei das einzige gewesen, wo die Mutter keine Aktien drin gehabt hätte, sprich Karrierepläne für die Tochter, erzählt die Schriftstellerin. Es wurde Jelineks ultimativer Rückzugsort. Vielschichtig, assoziativ, komplex, musikalisch fließend, feministisch – und konsequent antifaschistisch – das sind die Attribute ihres Stils, in dem sie Gedichte, Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und, ja auch: Filmkritiken verfasst. Schauspieler wie Martin Wuttke und Sophie Rois rezitieren aus dem umfangreichen Werk. Ein prima Film!
„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“. D 2022. Regie: Claudia Müller. Kinostart: 10. November 2022