Auf dem Dorf
Lars Jessens „Mittagsstunde“ handelt vom Sterben der Dörfer in Deutschland und dem Sterben der Menschen, die dort leben.
Der 47-jährige Ingwer hat es geschafft: Dozent an der Kieler Uni, ein nettes Zusammenleben mit Frau und einem weiteren Mann, das ihn aber zusehends nervt, weil die beiden immer öfter an der Flasche hängen. Kurz: Sein Leben kotzt ihn gehörig an. Seit geraumer Zeit sucht er nach dem Sinn des ganzen, aber der will ihm dort einfach nicht begegnen.
Ingwer stammt vom Land, in seinem Heimatdorf Brinkebüll betreiben die Eltern den renovierungsbedürftigen Gasthof. Die „Olen“ kommen seit einiger Zeit nicht mehr allein klar: Mutter ist dement und verirrt sich täglich, wobei sie zu lebensgefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr neigt. Denn das Dorf steht nicht mehr für ein irgendwie geartetes Zusammenleben, sondern ist vor allem Durchfahrtsort für Schwertransporte. Und auch der Vater ist bald todgeweiht, kann sich kaum alleine waschen. Gut, dass Ingwer noch Zivildienst absolviert hat.
Der Ort hat sich in den Jahren gewandelt: Draußen ist kaum einer zu sehen, die Jüngeren sind weggezogen, und wer von den Schulfreunden noch in Brinkebüll lebt, ist entweder schrullig oder bei der Line-Dance-Gruppe oder beides. Alte Kastanie? Weg. Erste Liebe? Unbekannt verzogen. Auf den Feldern wächst der Mais, Flüsse und Straßen sind begradigt, die Zugezogenen pendeln und schauen Heimkino. Ingwer muss sich hier zurechtfinden und seine alten Eltern mit ihm.
Regisseur Lars Jessen bringt dieses Szenario, das die Autorin Dörte Hansen in ihrem gleichnamigen Bestseller entworfen hat, nun mit Charly Hübner, der den Ingwer mit dem Gestus eines stehenden Sturmlaufs zwischen passiver Aggressivität und rührender Besorgtheit spielt, auf die Leinwand. Nicht nur die Entwicklung abseits liegender Dörfer wird nachgezeichnet, sondern auch das Verhältnis der Generationen neu vermessen. Da die hochbetagten Eltern, die ihr Leben mit Arbeit und Familie verbrachten, da der nun im unkonkreten Beziehungswirrwarr eigentlich alleinstehende Sohn, der sich mit der Einfachstrukturiertheit seiner Aufgabenstellung – der Pflege dieser Eltern – erstaunlich gut arrangiert. Denn die ist zwar klar definiert, wenn auch voller Mühen.
„Eine Kultur zu definieren, die von den Menschen, die diese Kultur gelebt haben, wahrscheinlich nicht einmal selbst als solche empfunden wird oder besser wurde“, sei die große Leistung Hansens gewesen, sagt Jessen. Mit einem gut ausgewählten Ensemble absolviert er die Aufgabe, dies zu visualisieren, bravourös.
„Mittagsstunde“. D 2022. Regie: Lars Jessen, mit Charly Hübner, Hildegard Schmahl. Kinostart: 22. September 2022