Freiheit ist unbedingt links.
WELT-Interview mit Martin Schirdewan
Wir dokumentieren mit freundlicher Genehmigung ein Interview mit unserem Parteivorsitzenden Martin Schirdewan mit der Tageszeitung DIE WELT über das linke Freiheitsverständnis und bedanken uns für die Möglichkeit zur Veröffentlichung. Das Interview erschien zunächst auf www.welt.de.
WELT: Herr Schirdewan, was ist Freiheit?
Martin Schirdewan: Freiheit ist die Möglichkeit, dass jeder Mensch frei und in Würde leben kann und dafür auch die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen findet.
WELT: Ist Freiheit noch links?
Schirdewan: Freiheit ist unbedingt links. Tatsächlich ist sie der Ursprung linken Denkens und auch sich Organisierens – auch der Arbeiterbewegung, also darum zu kämpfen, dass Menschen frei von Ausbeutung leben und arbeiten können.
WELT: Wann steht die Freiheit des Einzelnen über der Gemeinschaft?
Schirdewan: Die Freiheit des Einzelnen steht dann über der Gemeinschaft, wenn es darum geht, sich auszudrücken. Und wenn es darum geht, zu denken und das Gedachte auch artikulieren zu können, um in einen gemeinsamen Austausch der hervorgebrachten Argumente zu treten.
WELT: Die schärfste Kritik an den staatlichen Freiheitseinschränkungen im Zuge der Coronapandemie kam allerdings nicht von der Linken, sondern eher aus dem politisch liberalen bis rechten Spektrum. Wo war und ist da die linke Freiheit?
Schirdewan: Linke Freiheit erwächst auch daraus, dass man Verantwortung füreinander übernimmt. Zum Beispiel die Freiheit, sich nicht anstecken lassen zu müssen. Impfungen, Abstandsregeln und Maskenpflicht haben viele Leben gerettet.
WELT: Was stört Sie am Liberalismus am meisten?
Schirdewan: Am meisten stört mich, dass er oft zur ideologischen Phrase verkommt, und die materiellen Grundlagen ignoriert, die man braucht, um Freiheit überhaupt ausüben zu können. Es heißt dann, wir müssen frei sein „von“. Aus linker Sicht muss es heißen, dass wir neben der Freiheit „von“ auch die Freiheit „zu“ brauchen. Es nutzt mir ja nichts, theoretisch von A nach B reisen zu können, wenn mir die finanziellen Mittel dafür fehlen.
WELT: Was ist Ihnen wichtiger: Gleichheit oder Gerechtigkeit?
Schirdewan: Ich persönlich denke, dass Gerechtigkeit ein Schlüsselmotiv der politischen Linken ist, auch für mich selbst. Der Kampf gegen Ungerechtigkeit treibt mich enorm an, politisch ebenso wie die Freiheit. Ich würde diese beiden Werte gleich gewichten. Aber für Gerechtigkeit ist ein erhebliches Maß an gesellschaftlicher Gleichheit und der gleiche Zugang zu beispielweise Bildung oder Gesundheit unabdingbare Voraussetzung.
WELT: Welche Freiheit würde der sogenannte demokratische Sozialismus bieten, die der Kapitalismus nicht bieten kann?
Schirdewan: Er würde genau diese Voraussetzungen der Freiheit schaffen. Im Moment haben wir die größte Ungleichheit in der Gesellschaft seit dem Zeitalter kurz vor dem ersten Weltkrieg.
Ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland verfügt über 36 Prozent des Vermögens. Wenn Sie die oberen zehn Prozent nehmen sind es schon zwei Drittel. Die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung teilen sich das verbleibende Drittel. Wir haben etwa 14 Millionen Arme in Deutschland. Demokratischer Sozialismus würde genau diese Situation überwinden und denjenigen, die wenig oder weniger besitzen, ermöglichen, Dinge zu tun, die sie sich im Kapitalismus nicht leisten können.
WELT: Fällt Ihnen ein Beispiel ein, wo das funktioniert hat?
Schirdewan: Es gab einige Versuche, einen demokratischen Sozialismus durchzusetzen. Zum Beispiel in Chile oder in Spanien, beide wurden militärisch mit Hilfe der Rechten zerschlagen.
WELT: Wie viel staatliche Bevormundung erträgt der Mensch, bevor er als unfrei gelten kann?
Schirdewan: Ich finde, dass der Staat, sowieso sehr zurückhaltend sein muss, wenn es um Bevormundung geht. Die Prinzipien des demokratischen Sozialismus basieren darauf, wie es etwa Rosa Luxemburg formuliert hat: Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Es geht also darum, dass der und die andere in ihren Positionen respektiert und akzeptiert werden und dass es dann einen demokratischen Aushandlungsprozess gibt. Das hat nichts mit staatlicher Bevormundung, sondern mit Demokratie zu tun.
WELT: Werden Sie im Winter für die Freiheit frieren?
Schirdewan: Es ist die freie Entscheidung eines jeden Einzelnen, so viel zu tun, wie es ihm möglich ist. Ich glaube aber nicht, dass die Politik die Verantwortung dafür, dass wir durch den Winter kommen, in den individuellen Bereich abschieben kann. Dafür muss vor allem die regierende Politik die Verantwortung übernehmen. Es waren schließlich auch die Entscheidungen der Bundesregierungen in den letzten Jahrzehnten, die uns in die Abhängigkeit von russischem Gas gebracht haben.
WELT: Welche Freiheit gestatten Sie sich nicht?
Schirdewan: Die Freiheit, auszuschlafen.
WELT: Und welche Freiheit nehmen Sie sich jedenfalls?
Schirdewan: Die Freiheit, daraufhin so viel Kaffee zu trinken, wie ich brauche.