Wie im echten Leben

In ihrem neuen Film recherchiert Juliette Binoche undercover - in der Putzkolonne.

Erfolgsschriftstellerin Marianne (Juliette Binoche) hat genug auf den Vernissagen, Eröffnungsbällen und Empfängen des Pariser Kulturlebens rumgestanden. Jetzt nimmt sie sich mal was Richtiges vor. Michel Houellebecqs Nichthelden erleben ihre Talfahrten in der Provinz, Didier Eribon kehrt nach Reims zurück. Und Marianne? Zieht unerkannt, weil bestens ungeschminkt, ins nordfranzösische Caen. Statt Häppchen und Brut ab jetzt McDonald’s-Fritten und Arbeitslosenhilfe. Gleich gibt es was auf die Ohren, als sie in der Fallaufnahme des Arbeitsamtes aufschlägt: „Nein“, brüllt die Beraterin der Frau, die vor Marianne dran ist, ins Gesicht, „wir können ihn nichts mehr auszahlen!“ Womit Christèle, die junge, rabiate Mutter, die schnell mal die Kontrolle verliert, ihren drei Kindern den Hunger stillen soll, darauf gibt es keine Antwort. Erst der Sicherheitsdienst beendet die Keilerei.

Marianne recherchiert auf der Unterseite der französischen Gesellschaft: Arbeitslosenraten von 30 Prozent und mehr, deindustrialisierte Zonen, vielleicht gibt es gerade noch einen großen Arbeitgeber. In Mariannes Fall ist es die Zentrale der Putzkolonne: Nachts haben die Frauen nur wenig Zeit, um die Fähre nach England zu schrubben. Was sie dort vorfinden, nimmt ihnen mehr als einmal den Atem. Eine andere Arbeit findet sich nicht. Für Marianne ist es gerade recht, die anderen – die Migranten mit abgelaufener Aufenthaltsgenehmigung, die Single-Mütter, die jungen Leute ohne Schulabschluss – finden hier am Nordende des Alptraums der Europäischen Union wenig anderes.

Badezimmer durchwischen, Bettwäsche raus und rein, die Flure schick – die Kolonne läuft zum Hochleistungssport auf,  für einen Stunden-Mindestlohn, der ständig unterlaufen wird. Zwei Stunden Anfahrt mit Bussen, die nicht immer kommen. Heiße enge Räume, einmal wird die Mannschaft sogar eingesperrt, fährt mit nach England, plündert immerhin mehrere Minibars und hat recht gute Laune. Der Spaß kommt jedenfalls nicht zu kurz.

Regisseur Emmanuel Carrère– eigentlich selbst eher Autor und derzeit ungewöhnlicherweise stark im Gespräch wegen seines Buches „Yoga“, in dem er von seinem Leben mit einer bipolaren Störung berichtet – zeigt richtig viel Talent im Umgang mit seinen Darstellerinnen Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine und anderen, bis auf Binoche meist Laiendarstellerinnen, im Auftreten ebenso überzeugend wie die Hollywood-Prominenz.

„Wie im echten Leben“ bringt das prekäre Leben mit intelligenter Zeichnung und einem guten Blick für Details auf die Leinwand. Das ist ein Film, der drastisch ist, aber niemals den Respekt vor seinem Sujet verliert - und auch nicht in schlechten Humor abkippt, wie dies wohl bei einem deutschen Film passierte – der sich fürs Fußvolk oft nur per Slapstick begeistern kann. (Wer es überprüfen will, mag sich in „Liebesdings“ mit Elyas M’Barek anschauen, (ab 7. Juli), in dem die Figuren aus dem Prekariat klassistisch gestrickt die meiste Zeit auf ihre schlechten Angewohnheiten reduziert werden.)

Neben der Handlung liefert das Skript von „Wie im echten Leben“ eine Reihe Informationen über Europas prekäre Arbeitswelt, speziell der Frauen.

Und selbst den Ausstieg Mariannes aus der Zeitarbeiterklasse bekommt der Film überzeugend und an der Grenze zur Sentimentalität, die freilich nie überschritten wird: Mariannes Mitstreiterinnen können zwar eine Menge Dinge ab. Aber angelogen werden ist nicht so ihrs. Wie der Film aus dem Dilemma rauskommt, ist hart und herzlich gleichermaßen – mit Tendenz zum ersteren.

Einer der besten Spielfilme dieses Jahr.

WIE IM ECHTEN LEBEN Trailer German Deutsch (2022)
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„Wie im echten Leben“. F 2022. Regie: Emmanuel Carrère. Mit Juliette Binoche, Hélène Lambert u. a. Kinostart: 30. Juni 2022