Mit den Stimmen der Nazis
Der Morgen des 5. Februar begann unaufgeregt und entspannt. Die Ruhe der morgendlichen Fraktionssitzung – kein Vergleich zu der Aufregung, die schon wenige Stunden später im Thüringer Landtag herrschen sollte. Was war in der Zwischenzeit passiert? Das Raunen auf den Gängen des Thüringer Landtags hatte sich zu einem Rauschen verdichtet, als Bodo Ramelow, Thomas L. Kemmerich und der AfD-Kandidat Christoph Kindervater im dritten Wahlgang gegeneinander antraten. Der Sturm der internationalen Entrüstung brach dann über Thüringen hinein, als die AfD ihrem eigenen Kandidaten keine einzige Stimme gab und geschlossen für Kemmerich stimmte, der die Wahl zum Ministerpräsidenten durch Stimmen der AfD ohne Zögern annahm.
Das Bild, wie Susanne Hennig-Wellsow dem gerade mit den Stimmen der AfD gewählten Herrn Kemmerich den Blumenstrauß vor die Füße fallen ließ, ging um die Welt. Genauso das Bild von Kemmerich, wie er sich von Höcke mit Handschlag zur Wahl gratulieren lässt. Dieser Wahl waren Wochen und Monate schwieriger Verhandlungen mit SPD, Grünen, CDU und FDP vorausgegangen. CDU und FDP hatten sich dabei einer konstruktiven Zusammenarbeit, respektive Duldung, bis zuletzt verweigert. So stand an diesem Tag plötzlich ein Mann als Ministerpräsident vor dem Landtag, dessen Partei wenige Monate zuvor mit gerade einmal 73 Stimmen mehr als notwendig die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen hatte.
Die ersten zwei Stunden nach der Wahl Kemmerichs waren von siegessicheren Gesten der CDU- und FDPler geprägt und dem süffisanten, höhnischen Grinsen der AfD, die das Gefühl hatten, es allen gezeigt zu haben. Unsere Fraktion sammelte sich bei uns im Sitzungsraum, die Stimmung war zunächst sehr niedergeschlagen. Wir konnten nicht fassen, was CDU und FDP getan hatten, nur um r2g abzulösen. Wir hatten ihnen in vielen Gesprächen eine Beteiligung angeboten, die teuer für uns gewesen wäre. Doch sie legten sich mit der Höcke-AfD ins Bett und betonten dann scheinheilig, nun müsse man sich glaubwürdig von rechts abgrenzen. Vorbereitete Statements, die uns vorkamen wie Hohn.
Dann erreichten unsere Abgeordneten immer mehr Nachrichten, die diese dunklen Stunden heller und heller machten. Vor Landtag und Staatskanzlei versammelten sich die Menschen zu Spontandemonstrationen und aus ganz Deutschland erreichten uns Bilder demonstrierender Menschen vor den Parteibüros von CDU und FDP. Vor dem Thüringer Landtag bildete sich eine Spontandemonstration, auf der Susanne den Demonstrierenden versprach, dass es in Thüringen keine Duldung der Rechten und ihrer durch Diskriminierung und Rechtsextremismus geprägten Politik geben werde.
Schnell zeichnete sich ab, dass sich die Thüringer Landesverbände von CDU und FDP sauber verkalkuliert hatten. Nur, weil man hier in Thüringen immer mal wieder die Nähe zur AfD gesucht hatte, galt das für den Rest der Bundesrepublik nicht und kam vor allem in der Bevölkerung nicht gut an. Am Morgen des 15. Februars versammelten sich tausende Menschen auf dem Erfurter Domplatz, sie waren dem Ruf der Gewerkschafts- und Kirchenverbände aus dem gesamten Bundesgebiet gefolgt. Von allen Seiten sprachen sich die Menschen gegenseitig Mut und Durchhaltevermögen zu. Sie einte eine tiefe Ablehnung gegenüber dem, was sich am 5. Feburar im Thüringer Landtag abgespielt hatte.
Auf den öffentlichen Druck hin erklärte Kemmerich widerwillig seinen Rücktritt vom Posten des Kurzzeit-MP und auch bei der CDU musste Mike Mohring seinen Posten räumen und für den Dauerrivalen Mario Voigt freimachen, der dann mit r2g in Verhandlungen trat. Es hat alle Beteiligten Überwindung gekostet, mit Personen zu verhandeln, für die der kalkulierte Tabubruch wenige Wochen zuvor kein Problem dargestellt hatte. Getrieben von der Angst um die eigene politische Zukunft und das schlechte Abschneiden bei baldigen Neuwahlen, erklärte sich die CDU zur Duldung der r2g-Regierung bereit. Sie gaben zu verstehen, dass sie bei einer erneuten Wahl der Kandidatur von Bodo Ramelow offen gegenüberstünden.
Am 4. März war es dann soweit, Bodo Ramelow wurde wieder zum Ministerpräsidenten gewählt. Länger hätte die Regierungskrise auch nicht dauern dürfen, denn das Corona-Virus breitete sich in ganz Europa immer weiter aus und mahnte die Politik zu schnellem und beherztem Handeln. Nicht auszumalen, hätte der unerfahrene Kemmerich die Amtsgeschäfte in dieser schwierigen Phase bis heute geleitet. In der Rückschau können wir heute froh darüber sein, dass wir den Zug wieder so schnell in die Spur bekommen haben. Wir danken deshalb allen Menschen, die sich auf den unterschiedlichsten Ebenen eingebracht haben. Denn wofür CDU und FDP stehen, wurde in den Verhandlungen mit ihnen immer wieder deutlich. Selten ging es um die Abfederung der Krisenfolgen, viel öfter um die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten und der Abschaffung des Vergabemindestlohns.
Die ganze Geschichte: Der Tabubruch von Thüringen