(Mit)regieren an der Weser
- Christoph Spehr
Im Norden geht es oft etwas nüchterner zu. Nach einem Jahr linken Regierens in der rot-grün-roten Landes-Koalition wird natürlich ausgewertet – auf dem kommenden Landesparteitag, aber auch schon in vielen anderen Runden und Formaten des Landesverbands. Und so weit liegen die Einschätzungen gar nicht auseinander. Einiges hat die neue Regierung bereits auf den Weg gebracht: Das Sozialticket wird für Kinder kostenlos und für Erwachsene auf 25 Euro verbilligt. Statt Personalabbau gibt es Personalaufbau im öffentlichen Dienst. Der Landesmindestlohn soll über 12 Euro steigen. Cannabis für den Eigenkonsum ist entkriminalisiert, der Drogenkonsumraum eröffnet, das erste Stadtteil-Gesundheitszentrum in der Planung. Für Kultur, Sportvereine, Frauen- und Queerprojekte gibt es mehr Geld. Eine Genossenschaftsförderung ist in Vorbereitung, und die Entscheidung für die vollständige Rekommunalisierung der Stadtreinigung ist gefallen.
Sozialticket, Mindestlohn und mehr Personal
Ebenso wichtig sind die Dinge, die nicht passiert sind. Die Millionen-Subventionen für die Privathochschule werden nicht fortgesetzt, was zur Eingliederung in das öffentliche Hochschulwesen führen wird. Beim Polizeigesetz wird es keine Verschärfungen geben (stattdessen erhebliche Liberalisierungen, wie das Verbot von Racial Profiling und die Einführung einer unabhängigen Beschwerdestelle).Vieles geht aber eindeutig zu langsam. In der Bodenpolitik, der Mietenpolitik, bei der Zahl der Sozialwohnungen geht nichts voran. In der Klima- und Verkehrspolitik ist noch kaum etwas erreicht. Trotz politischen Beschlüssen gibt es keine Ausbildungsumlage, keine höheren Krankenhaus-Investitionen, keine Abkehr von der Investoren-getriebenen Stadtentwicklung, kein Housing First, keinen Härtefallfonds für Stromsperren, kein Arisierungs-Mahnmal und kein einziges öffentliches Klo.
Veränderungen brauchen (noch) zu viel Zeit
Das liegt manchmal am Unwillen der Koalitionspartner, aber mindestens so oft an der Schwerkraft der Verwaltung und am Widerstand organisierter Lobbys. Der Weg, bis Dinge tatsächlich das Licht der realen Welt erblicken, ist sehr weit und erfordert viel Kraft, Beharrlichkeit, Mobilisierung, Druck, Problemlösung, und nochmal Druck – die ganze Palette eben. Das ist oft schwer für eine Partei, die instinktiv davon ausgeht, dass Beschlüsse die Wirklichkeit unmittelbar und zuverlässig ändern. Und eigentlich sollte es ja auch so sein. Politische Willensbildung schneller und direkter in tatsächliche Veränderung zu überführen, ist eine zentrale Aufgabe einer linken Partei, wenn es ums Regieren geht.
Der bislang härteste Konflikt in der Koalition war der um die Landeserstaufnahmestelle für Geflüchtete. Angesichts von etwa 200 Corona-Infektionen durch die völlig unangemessene Massenunterbringung wäre die Schließung der 750-Personen-Einrichtung fällig gewesen. Das aber wollte das grüne Sozialressort auf keinen Fall. Nach einer langen Nacht war der Kompromiss: Harte Begrenzung der Belegung auf 250 Personen, Anmietung zusätzlicher Unterkünfte, Umbaumaßnahmen für eine bessere Unterbringung, endlich vernünftige und zumutbare Quarantäne-Regeln. Mehr war nicht drin. Das hat auch der LINKEN viel Kritik aus der Bewegung eingebracht. Jetzt wird es darum gehen, die Verbesserungen auch über die Pandemie hinaus zu erhalten und eine dauerhaft dezentrale Unterbringung durchzusetzen – und den 10-Jahres-Mietvertrag mit dem hässlichen Hochhaus zu kündigen. Schwerer Boden.
Die Dreier-Koalition macht das Regieren nicht leichter
Wir haben selber keinen Vergleich, aber uns kommt es nicht so vor, dass Dreier-Koalitionen schwieriger sind als Zweier-Koalitionen. Die Fronten der Konflikte sind jedes Mal unterschiedlich, und sie verlaufen nicht nur zwischen den Koalitionsparteien, sondern oft zwischen den Ressorts. Farbe hin, Farbe her. Die Parteien und die Fraktionen stärker in die Entscheidungsfindung einzubeziehen und weniger der Exekutive zu überlassen, ist dabei ein roter Faden für uns.
Nach einem Jahr gibt es weiterhin unterschiedliche Auffassungen unter uns, ob Regieren eine gute Idee ist. Das ist gut so. Es sorgt für Kritik, verhindert Selbstzufriedenheit und erzwingt die ständige Bilanz, ob die Ergebnisse den Stress rechtfertigen. Allerdings verschieben sich die Kriterien. Dinge, die nicht im Wahlprogramm stehen, werden wichtiger. Können wir rechtzeitig verhindern, dass ein Gelände geräumt, eine Fläche verscherbelt, linke Organisationen kriminalisiert werden? Haben Initiativen, Bewegungen, Gewerkschaften, Belegschaften mehr Möglichkeiten, sich einzuschalten, als bisher? Nutzen wir die Spielräume, die sich bei personellen und institutionellen Entscheidungen bieten, die länger wirken als 4 Jahre? Was können wir bei den großen Fragen – der Bildungsungerechtigkeit, der städtischen Armut, den vom Strukturwandel gefährdeten Berufsbiografien, der Klimaneutralität – landespolitisch wirklich tun? Und – tun wir es auch?
Es bleibt spannend.
Christoph Spehr ist Landessprecher der Bremer LINKEN.