Aufgekündigter Klassenkompromiss
Linke Antworten auf die VW- und Automobilkrise
Statt Politik zu fordern, die die deutschen Konzerne in der Weltmarktschlacht stärkt, brauchen wir einen linken Dreischritt: Wir müssen die angegriffene VW-Belegschaft verteidigen, die Exportabhängigkeit zurückbauen und durch die ökologische Verkehrswende neue Jobs schaffen.
Ich bin in einer Region aufgewachsen, die vom Auto lebt, und deren Volkswagenfabrik in Emden nun auf der Liste der möglicherweise zu schließenden Werke steht. Bevor mein Großvater Ende der 1960er Jahre ins neu angesiedelte VW-Werk ging, lebte meine Familie in Armut, Ostfriesland galt als Armenhaus Niedersachsens. Meine Großeltern sind sozial aufgestiegen, ebenso ihre Geschwister und Freunde. An die Stelle schäbiger Unterkünfte trat ein eigenes Haus für die vier Kinder. Meine Familie und „mein Dorf“ hingen am Auto - und damit am fossilen deutschen Exportkapital.
Davon habe ich persönlich profitiert. Wenn ich neue Fußballschuhe brauchte, wenn ich Markenjeans wollte, dann bekam ich das häufig. Mir ging es sehr gut, gerade auch im Vergleich zu den Kindern, deren Eltern als Maurer, Elektriker oder Verkäuferinnen ihr Geld verdienten. Meine Mutter, die mit Volksschulabschluss seit ihrem 15. Lebensjahr in Fabriken arbeitete, konnte sich das alles leisten, weil sie bei Volkswagen angestellt war. Dort wurde sie zwar ausgebeutet - ihr Körper war geschunden als sie so alt war wie ich heute, und so ging es den Körpern vieler Männer und Frauen aus der Fabrik, mit denen ich aufgewachsen bin -, dafür bekam sie aber gutes Geld.
Dafür gesorgt hatte eine durchsetzungsfähige IG Metall, die bei den großen Endherstellern der Branchen die Belegschaften oft zu 90 Prozent organisiert. Und natürlich der Weltmarkterfolg der Konzerne, die seit Ende der 1970er Jahre Stück für Stück den deutschen Weltmarktanteil vergrößert haben. Das alles wurde in einer Art Konfliktpartnerschaft zwischen Besitzern und Belegschaften ausgehandelt. Das ist der Klassenkompromiss, der mir ein sorgenfreies Leben und Bildungsaufstieg ermöglichte. Und mit mir vielen anderen in meiner Heimatregion. Ich konnte ohne Druck lange zur Schule gehen, was nicht selbstverständlich ist.
Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, war eine des bescheidenen, hart erarbeiteten, respektablen Wohlstandes. Diese Welt hat riesige Sprünge bekommen, deren erste Risse aber bereits in den frühen 1990ern liegen. Seit Mitte/Ende der 1970er hatte die Automobilindustrie regelmäßig „die Krise“, immer waren sie verbunden mit anhaltender Monopolisierung und Verdrängungskämpfen auf den Märkten. Deutsche Auto-Kapitalisten schlugen, wie man mit Marx sagen kann, auf dem Weltmarkt andere tot.
Deutsche Erfolgsrezepte
Die großen deutschen Drei, – Mercedes, VW und BMW –, brachten sich durch enorme technische Rationalisierungsprogramme, durch die Einführung von Management- und Organisationsformen, die flexiblere und beteiligende Ausbeutung ermöglichen sollten, in Stellung. 2023 war VW der umsatzstärkste Autokonzern weltweit, Mercedes und BMW landeten auf Platz 6 und 7. Seit Anfang der 1990er Jahre begannen sie „zu teure“ Aufgaben auszulagern. Das setzte die Belegschaften einer enormen Kostenkonkurrenz aus – genauso wie die Internationalisierung der Produktion und die Inszenierung des Standortwettbewerbs. Das Damoklesschwert der Verlagerung wurde gut sichtbar aufgehängt. Schließlich wurden ab Ende der 1990er zunehmend prekäre Randbelegschaften aufgebaut, wurden immer öfter Leiharbeiter eingestellt und Befristungen genutzt. Und schließlich setzten die deutschen Unternehmen auf eine besondere Produktpolitik: Es wurden teure Mittel- und Oberklasseautos mit hoher Qualität gebaut, weil Kleinwagen nicht genug Profit abwarfen. Auch der Volkswagenkonzern ging zunehmend diesen Weg.
Die Car-Wars der späten 1980er und 1990er Jahre, damals angesichts der Erfolge von Japans Top-Konzern Toyota, setzten die Frage der Wettbewerbsfähigkeit permanent auf die Tagesordnung. Schröder-Freund Peter Hartz veröffentlichte damals als Arbeitsdirektor von Volkswagen ein Buch mit dem vielsagenden Titel: „Jeder Arbeitsplatz hat ein Gesicht.“ Darin schlug er einen neuen „Kompromiss“ für die frühen 2000er Jahre vor: Kostensenkung und Produktivitätssteigerung durch die Belegschaften, verbunden mit der Bereitschaft zur Eigeninitiative, dafür das Versprechen des Managements, Beschäftigungssicherheit zu garantieren. Damit sollte auch unternehmerisches Denken auf Beschäftigtenseite eingehämmert werden: Der Markt, so Hartz, sei es, der Arbeit gebe, nicht die Konzernleitung. Das alles führte an vielen Automobilstandorten zu sog. „Wettbewerbsbündnissen“, die aus sozialistischer Perspektive ausführlich und weitgehend zutreffend kritisiert worden sind.
Die IGM und die meisten Betriebsräte arbeiteten in den Wettbewerbsbündnissen mit – und bewahrten den respektablen Wohlstand, indem sie teilweise als „Rationalisierer in Eigenregie“ an der Wettbewerbsfähigkeit mitarbeiteten. Der Tauschpakt lautete: kein Sozialdumping, kein massiver Stellenabbau und keine Zerstörung der Mitbestimmung, sondern durch Mitbestimmung, gute Arbeit und innovative Produktion im Wettbewerb bestehen. Die Konzerne setzten ihren Siegeszug auf dieser Grundlage (zu der eben auch Prekarisierung, Lohnzurückhaltung und Arbeitsverdichtung gehörten) nach der großen Krise 2008/09 fort. Nicht zuletzt zog dieser Aufschwung auch den Rest der deutschen Industrie mit. Denn auch der zweite wichtige Industriesektor in Deutschland, der Werkzeug- und Maschinenbau, der Produktionsmittel herstellt, profitierte davon. Die Schattenseite ist der weitere Aufbau von (unökologischen) Überkapazitäten auf den Märkten, außerdem der mittlerweile eingeschlagene Weg in den Wirtschaftskrieg, wie er zwischen den USA und China bereits geführt wird. Es mag sein, dass ein Kapitalist den anderen totschlägt – aber das werden sich „deren“ Staaten nicht gefallen lassen.
Aufgekündigter Klassenkompromiss und Mehrfachkrise der Autoindustrie
Heute wird dieser Klassenkompromiss massiv infrage gestellt durch die Angriffe des Volkwagenkonzerns auf die Belegschaften in Deutschland. Wir müssen davon ausgehen, dass sich andere Industriekapitalisten genau anschauen, wie die IG Metall in dieser Auseinandersetzung reagiert. Für die Klassenkämpfe in Deutschland wird der Ausgang bei Volkswagen deshalb prägend sein. Der VW-Konzern stellt ein Modell infrage, mit dem er in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut gefahren ist. Er kündigt den sozialpartnerschaftlichen Klassenkompromiss von oben auf – durch massive Angriffe auf die Löhne, durch die Aufkündigung der Beschäftigungssicherung, aber auch durch den angestrebten Personalabbau. An der jetzigen wirtschaftlichen Situation des Konzerns kann es nicht liegen, immerhin gibt es enorme Gewinnrücklagen. Wahrscheinlicher ist, dass hier für die Zukunft Fakten geschaffen und neue Wege eingeschlagen werden sollen, um in der Weltmarktkonkurrenz zu bestehen. Denn in der Weltautomobilindustrie selbst gibt es große Veränderungen und Spannungen, für die deutsche Autoindustrie kann man von einer Mehrfachkrise sprechen.
Erstens hat sich das Zentrum der Weltautomobilindustrie schon länger von Westeuropa und Nordamerika in Richtung China verlagert. Die deutsche Autoindustrie stellt längst deutlich mehr Autos im Ausland her als in Deutschland. China hat Konzerne hervorgebracht, die den deutschen bei E-Autos die Position der Technologieführer abgenommen haben. In der Batterieentwicklung und -fertigung liegen diese Konzerne mittlerweile vorn. Das ist ein enormes Problem, weil gerade die Batterien gewinnträchtig sind. Kurz: Die chinesische Konkurrenz ist im Moment besser und billiger. Keine Kleinigkeit für die deutschen Konzerne, die hohe Preise aufgrund ihrer Qualitätsvorsprünge verlangen konnten.
Zweitens ist der Umstieg auf die Herstellung des E-Autos selbst für viele Unternehmen bedrohlich, die in der Zulieferkette tätig sind. Bestimmte Angebote werden einfach nicht mehr benötigt und längst nicht alle Unternehmen sind finanziell potent und wirtschaftlich stabil genug, in ein neues Geschäftsfeld zu wechseln. Kommen noch laufende Personaleinsparungen durch die technologische Rationalisierung hinzu: Mit weniger Leuten mehr herstellen, das ist nicht neu für die deutschen Autobelegschaften. Trotz vieler Produktivitätssteigerungen in den vergangenen Jahrzehnten konnte aber trotzdem großer Beschäftigungsabbau verhindert werden. Das ging, weil der Absatz gesteigert werden konnte. Das ist heute aber nicht so. Schlimmer noch: Setzen sich die chinesischen Konzerne durch, werden die Rationalisierungsverlierer noch zahlreicher. Und worin sich viele Prognosen einig sind: Mehr Digitalisierung einerseits und die E-Auto-Produktion andererseits werden dazu führen, dass deutlich weniger Blaumänner an deutschen Standorten gebraucht werden, dafür mehr Ingenieure, Techniker, Softwareentwickler. Folge wird eine Art Entproletarisierung der Autobelegschaften sein. Bereits heute bestehen sie in Deutschland schon zu rund einem Fünftel aus Technikern und Ingenieuren.
Drittens sind die deutschen Unternehmen enorm abhängig vom Weltmarkt. Exporte aus Deutschland gehen auch in die EU, aber eben auch zu wichtigen Teilen nach China und in die USA. Fördern diese ihre eigene Industrie durch Subventionen oder auch durch Zulassungsbeschränkungen, kann das dem deutschen Wirtschaftsmodell das Genick brechen. Entsprechend fordern konzernnahe Wissenschaftler auch, die deutsche Regierung müsse den Freihandel durchsetzen – der BDI verweist außerdem auf die Notwendigkeit der Rohstoffsicherung, immerhin kontrolliert China wichtige Elemente, die für die Produktion der Zukunft gebraucht werden. Die Gefahr, China könne hier durch Preispolitik die deutsche Konkurrenz kaputtmachen, wird beschworen. Und vielleicht auch nicht zu Unrecht.
Viertens schließlich birgt die Branche ein ökologisches Dilemma. Die Erderhitzung bedroht uns und unsere Mitmenschen. Um sie zu bekämpfen, müsste die Weltautomobilflotte in den nächsten 15 Jahren eigentlich deutlich abgebaut werden, trotz Elektro – wir brauchen weniger Pkws, dafür andere Fahrzeuge, um Mobilität sicherzustellen. Rückbau ist aber nicht die Logik der Autoindustrie, sondern permanenter Aufbau von PKW-Stückzahlen. Bis heute.
Für soziale, ökologische und außenpolitische Sicherheit
Eine linke Antwort auf diese Krisen und Herausforderungen muss Sicherheit zum Ziel haben: soziale, wirtschaftliche, ökologische und außenpolitische Sicherheit. Das bedeutet: Unmittelbar die Existenzgrundlage der Arbeiterinnen und Arbeiter zu erhalten, die in der Industrie beschäftigt sind – und die Weltmarktabhängigkeit verringern und aus der Verdrängungsschlacht auf den Weltmärkten aussteigen. Ja, auch in Zukunft sollten Automobile exportiert werden, weil Menschen von A nach B kommen müssen – aber deutlich weniger. Aus ökologischen Gründen, aber auch, weil die Stärkung der Binnenwirtschaft die Unsicherheiten und Grundprobleme (permanenter Druck zur Kostensenkung und Produktivitätssteigerung) des Exportmodells eindämmen würden.
Kurzfristig müssen, etwa im Fall von Volkswagen, Werksschließungen, Entlassungen und Lohnkürzungen verhindert werden. Da aber tatsächlich Produktionskapazitäten brach liegen, geht das am ehesten, wenn der Staat direkt die Nachfrage nach nützlichen E-Bullis und Kleinbussen fördert, die im Öffentlichen Nahverkehr des ländlichen Raumes eingesetzt werden könnten. Beschäftigte von VW könnten das tun – vorausgesetzt, der Staat investiert in die dringend nötige Verkehrswende. Das käme auch den von Armut betroffenen Menschen auf dem Land zugute, die sich oft kein Auto leisten können. Wenn der politische Wille da ist, könnte mit Anstrengung, aber durchaus schnell in der Fläche ein Shuttle-on-Demand-Service wie in den Niederlanden aufgebaut werden.
Nicht zuletzt zeigt das auch den mittelfristigen Weg: Die Automobilkonzerne müssten im Rahmen einer auszubauenden Mobilitätsindustrie weiterentwickelt werden. Das wäre eine Win-Win-Situation. Der Verkehrssektor trägt mit rund einem Viertel aller CO2-Schadstoffe sehr stark zur Erderhitzung bei, durch den Ausbau des Nahverkehrs könnten zugleich sozial und ökologisch sichere Jobs geschaffen werden. Die Nachfrage für die Bahn-, Bus- und Bulliproduktion müsste dementsprechend durch den Staat gestärkt werden, damit mehr Personal beschäftigt werden kann. Beschäftigte, die heute in der Pkw-Herstellung tätig sind, können dorthin wechseln. Das setzt eine Wirtschaftspolitik voraus, die soziale und ökologische Ziele verfolgt und deshalb auch Investitionsplanung in die Wege leitet. Das klingt für manche möglicherweise unrealistisch. Und angesichts der politischen Kräfteverhältnisse im Land mag es das auch sein. Ein Weiter-so mit dem Exportmodell, das in den verschärften Wirtschaftskrieg führt, ist zwar realistisch – wäre aber aus sozialen, friedenspolitischen und ökologischen Gründen katastrophal.