Wieso die Linke eine Theorie öffentlicher Güter braucht

Eine Wasserträgerin im Distrikt Tharparkar, Sindh, Pakistan

Warum sollten sich Linke mit Adam Smith beschäftigen? Diese Frage wurde mir gestellt, nachdem ich vor einiger Zeit im nd einen ideengeschichtlichen Essay über den „Sozialliberalen Urgroßvater“ veröffentlicht habe. Die Antwort darauf ist einfach: Weil Marx keine ausgearbeitete Theorie öffentlicher Güter hat.

Dabei würde Marx zunächst sogar mit einem bürgerlichen Theoretiker wie Adam Smith darin übereinstimmen, dass der Staat die Funktion des Minimalstaats hat, also im Wesentlichen das Eigentum zu schützen und die Einhaltung von Verträgen durchzusetzen. Marx würde nur die Legitimität des kapitalistischen Staates bestreiten. Mit der berühmten Theorie der doppelten Freiheit des Arbeiters in Band I, Kapitel 4, Abschnitt 3 des Kapital verweist Marx auf das Problem, dass die Arbeiter eine wesentlich schwächere Verhandlungsposition haben als der Kapitalist. Deswegen ist der Arbeitsvertrag eine Form der Ausbeutung. Ein Staat, der die Einhaltung des Arbeitsvertrages ‚unparteiisch‘ durchsetzt, indem er Polizei und Militär einsetzt, um Streiks der Arbeiter niederzuschlagen, lässt sich dann nur noch als ein Werkzeug der Kapitalinteressen verstehen.

Allerdings ist das Streikrecht in den meisten liberalen Demokratien fest etabliert, und der Staat hat auch andere Aufgaben, über die von Militär, Polizei und Justiz hinaus. Moderne Staaten haben etwa die Aufgabe, sich um die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung des Abwassers zu kümmern. Diese Aufgaben hängen zusammen: Flüsse und Seen können sich nur bis zu einem gewissen Grade selbst reinigen; ab einer bestimmten Bevölkerungsdichte brauchen Städte daher nicht nur eine getrennte Trinkwasserversorgung, um den Ausbruch von Seuchen wie Typhus und Cholera zu verhindern, sondern auch eine Kanalisation und Kläranlagen.  

Die Frage der Entsorgung des Abwassers ist ein klassisches Beispiel in Garret Hardins Aufsatz Die Tragödie der Allmende von 1968 (im Original: The Tragedy of the Commons). Wenn der Staat für jeden Haushalt einen Anschluss an Wasserleitung und Kanalisation ermöglicht, ist dies ein öffentliches Gut. Selbstverständlich kann und sollte der Staat auch Einleitung von Abwässern in Flüsse und Seen regulieren oder gleich ganz verbieten – die Fähigkeit der Gewässer zur Selbstreinigung ist ein natürliches Gemeingut, und der Staat hat die Aufgabe, diese zu schützen. Der Staat hat selbstverständlich auch die Aufgabe, andere natürliche Gemeingüter zu schützen, insbesondere die Kapazität der Atmosphäre zur Aufnahme von CO2 und anderen Treibhausgasen; hier müssen sich die verschiedenen Staaten der Erde koordinieren.

Das Beispiel von Kläranlagen und Kanalisation als öffentliche Güter eignet sich gut, um die neoliberale Ideologie hinter der Privatisierung öffentlicher Güter zu widerlegen. In England wurde Wasserversorgung (Trinkwasser und Abwasser) unter der Regierung Thatcher 1989 privatisiert. Die privaten Wasserfirmen haben „umgerechnet mehr als 70 Milliarden Euro an ihre Aktionäre ausgezahlt“, aber zu wenig in die Infrastruktur investiert. Bei einer Kanalisation mit Mischwassersystem führt dies dazu, dass bei Starkregen Abwässer ungeklärt weitergeleitet werden müssen, und die englischen Gewässer verschmutzen; eine deutsche Tageszeitung sprach in diesem Zusammenhang sogar von der „Fäkalien-Krise“ in England.  

Bei öffentlichen Gütern wie der Wasserversorgung handelt es sich um natürliche Monopole. Der Staat muss also zumindest die Preise regulieren, um zu verhindern, dass die Verbraucher ausgebeutet werden, aber selbst dann führt das Profitinteresse der Privatunternehmen dazu, dass nicht angemessen in die Infrastruktur investiert wird. Linke Politik besteht hier darin, sicherzustellen, dass öffentliche Güter nicht dem Profitinteresse des Kapitals unterliegen.

In Wales wurde die Wasserversorgung zwar auch 1989 privatisiert, aber durch die Gründung der gemeinnützigen Dŵr Cymru Welsh Water 1999 faktisch rekommunalisiert. In Deutschland ist der Versuch der neoliberalen Privatisierung der Wasserversorgung zum Glück ausgebremst worden. Die Harzwasserwerke in Niedersachsen wurden zwar 1996 durch Schröder verkauft, aber die Kommunen, die auf sie angewiesen sind, haben selbst Anteile gekauft, um die Kontrolle über ihre Trinkwasserversorgung zu behalten.

Öffentliche Güter und die politische Entfremdung

Kollektive Güter zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Kosten für einen Einzelnen zu groß sind, und dass sie daher für eine Gruppe bereitgestellt werden müssen. Es ist zwar denkbar, dass jemand für sein eigenes Haus einen Trinkwasserbrunnen oder eine Klärgrube anlegt, aber zum einen müssen diese natürlich räumlich möglichst weit getrennt sein, und zum anderen wird jeder vernünftige Mensch versuchen, sich mit seinen Nachbarn darüber zu koordinieren, um Kosten zu sparen. Trinkwasserbrunnen müssen in Deutschland angemeldet werden, und werden jährlich überprüft, während Sickergruben aus Gründen des Gewässerschutzes seit 2015 komplett verboten sind.

Ein anderes Beispiel ist der Straßenbau. Wer ein Haus kauft oder baut würde sich sicherlich sehr wundern, wenn er sich auch noch um den Bau eines Fahrweges bis zur nächstgelegenen bestehenden Straße kümmern müsste. Neue Wohn- und Gewerbegebiete werden selbstverständlich komplett mit Straßennetz, Kanalisation und der anderen Infrastruktur geplant. Fälle, in denen sich ein Hauseigentümer selbstständig um Straßenanschluss und Kanalisation kümmern muss, sind in Deutschland extrem selten (könnten aber zum Beispiel in der Landwirtschaft durchaus vorkommen). 

Aus dem Bereich der Kommunalpolitik gibt es noch weitere Beispiele für öffentliche Güter: Wer ein Haus mit einem hinreichend großen Garten hat, wird sich sicherlich gerne eine Schaukel oder ein Klettergerüst für seine Kinder anschaffen, oder vielleicht sogar einen Swimmingpool. Für Menschen, die in Geschossbauten wohnen, ist dies natürlich keine Option, und ein privater Pool wird wohl kaum je so groß sein können wie das Hauptbecken in einem öffentlichen Schwimmbad.

Eine Stadt oder Gemeinde wird sich also im Regelfall darum kümmern, dass es öffentliche Spielplätze und ein öffentliches Schwimmbad gibt. Dem Anspruch nach können die Bürgerinnen und Bürger durch Kommunalwahlen (und Wortmeldungen auf öffentlichen kommunalpolitischen Sitzungen) auch entscheiden, wie viel Geld sie für solche öffentlichen Güter ausgeben wollen; sie könnten sich etwa für einen höheren Hebesatz bei der Grundsteuer entscheiden, um damit ein größeres Schwimmbad und mehr Spielplätze zu finanzieren. Praktisch ist dies jedoch in sehr vielen Kommunen nur noch eingeschränkt möglich, weil die Kosten für die Pflichtaufgaben (zum Beispiel den Bau der Schulgebäude) die Finanzkraft der Städte und Gemeinden übersteigen. Für die formal freiwilligen Leistungen wie Spielplätze bleibt deswegen viel weniger Spielraum, und ohne eine grundlegende Reform der kommunalen Finanzen wird sich dies auch kaum ändern.

Nicht alle öffentlichen Güter werden ausschließlich durch Steuergelder, Beiträge oder Gebühren finanziert. Wer regelmäßig an kommunalpolitischen Sitzungen teilnimmt, wird die Tagesordnungspunkte zum Thema Feuerwehr bemerkt haben, und die Anwesenheit von Mitgliedern der Feuerwehr. In Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern ist dies eine freiwillige Feuerwehr, nur Großstädte sind verpflichtet, eine Berufsfeuerwehr zu haben. Es gibt in Deutschland ca. 45.000 Berufsfeuerleute, aber ca. 1.600.000 ehrenamtliche Feuerwehrkräfte. Der Versuch, ehrenamtliche Feuerwähren durch Berufsfeuerwehren zu ersetzen, gilt als nicht finanzierbar. Ähnliches gilt für öffentliche Schwimmbäder und Sportstätten. Diese werden zwar durch die Kommunen finanziert, aber die Mitglieder der DLRG und der Sportvereine arbeiten oft auch ehrenamtlich.

Es ist das ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger, welches einen wesentlichen Anteil an der Bereitstellung dieser öffentlichen Güter hat. Deswegen ist der Rückgang des ehrenamtlichen Engagements auch ein Problem: Feuerwehr und DLRG sind essentiell, um Leben zu schützen und zu retten, aber sie sind in ihrer aktuellen Form nur durch umfassendes ehrenamtliches Engagement möglich.

Dieser Rückgang des ehrenamtlichen Engagements lässt sich als eine Form der Entfremdung analysieren. Wer Mitglied in einem Sportverein ist, und dort ehrenamtlich als Trainer arbeitet, ist gewissermaßen als ‚Produzent‘ einer Dienstleistung tätig – wer hingegen Mitglied in einem Fitnessclub ist, ist dort nur Konsument. Während der Arbeiter im Kapitalismus in Marx‘ Analyse dadurch entfremdet ist, dass er auf seine Arbeitskraft reduziert wird, hat der moderne Kapitalismus auch eine Tendenz, den Menschen auf die Funktion als Konsument zu reduzieren.

Eine Analyse politischer Entfremdung könnte auch das Problem des sogenannten „Nimbyismus“ erklären helfen. Öffentliche Güter erfordern kollektives Handeln. Man kann nicht als einzelnes Individuum oder als kleine Gruppe entscheiden, ein Stück Straße, ein Stromnetz oder eine Schienentrasse zu kaufen; die Bereitstellung dieser öffentlichen Güter muss – demokratisch – auf der politischen Ebene des Bundes oder der Länder beschlossen werden.

Wenn Menschen dann aber vor Ort gegen solche Bauprojekte protestieren, obwohl sie diese im allgemein befürworten, dann spricht man von Nimbyismus. Man will zwar die Energiewende und die Verkehrswende, nicht jedoch das dafür erforderliche Bauprojekt in seinem eigenen Hinterhof (Nimby steht für: ‚Not in my back yard‘). Der politikwissenschaftliche Fachbegriff dafür ist ‚Gefangenendilemma-Situation‘. Das von den jeweiligen Betroffenen gewünschte Ergebnis besteht darin, dass die Infrastruktur überall anders gebaut wird, nur nicht in ihrer Nähe. Das Ergebnis ist jedoch, dass Infrastrukturprojekte überall in Deutschland verzögert werden, was die Energiewende und die Verkehrswende insgesamt verlangsamt.

Die Bedeutung des Staates für öffentliche Güter

Anhand dieser praktischen politischen Beispiele wird, denke ich, klar, wieso eine linke politische Partei eine Theorie öffentlicher Güter braucht. Der Staat ist ein wesentlicher Aspekt dieser Theorie; die neuere politikwissenschaftliche Forschung hat sich jedoch auf die Frage fokussiert, wie Gruppen von Menschen auch ohne staatlichen Zwang zu kollektivem Handeln im Stande sind. Die öffentlich bekannteste Forschung zum Thema stammt wahrscheinlich von Elinor Ostrom, die 2012 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hatte (der nicht mit einem Nobelpreis verwechselt werden sollte; Alfred Nobel persönlich erachtete die Wirtschaftswissenschaften nicht als eines Preises würdig). 

Die fehlende Berücksichtigung des Staates führt jedoch bisweilen zu absurden Ergebnissen, so insbesondere in Sahra Wagenknechts programmatischem Buch Die Selbstgerechten. Dort verwendet Wagenknecht den Bau und die Instandhaltung von Dorfbrunnen in Afrika als ein Beispiel für ein öffentliches Gut (sie hat dies vom britischen Ökonomen Paul Collier übernommen), um ihre These zu belegen, dass die Bereitstellung von öffentlichen Gütern ein Gemeinschaftsgefühl erfordert: „Dörfer, in denen Menschen zusammenleben, die sich verschiedenen Stämmen und Kulturen zugehörig fühlen, sind zur Bereitstellung öffentlicher Güter, etwa zur gemeinsamen Instandhaltung eines Dorfbrunnens, weniger in der Lage als solche Dörfer, in denen es ein starkes Gemeinschaftsgefühl gibt.“ Wagenknechts Überlegungen zielen offenbar darauf ab, einen ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaat zu rechtfertigen, und damit auch eine Ablehnung von Immigration. 

Sie führt ein weiteres Beispiel aus Afrika an, sowie eines aus Peru und eines aus Pakistan. Welchen Sinn es ergibt, an dieser Stelle Beispiele aus Schwellenländern zu verwenden, erschließt sich jedoch nicht. In Deutschland ist jeder Mensch gezwungen, seine Wasserrechnung zu bezahlen. Wer das nicht tut, muss entweder zeigen, dass die Rechnung fehlerhaft ist, oder er wird letztlich durch ein Gericht zur Zahlung gezwungen. In einem funktionierenden Rechtsstaat machen kulturelle Verschiedenheiten hier keinen Unterschied.

Offensichtlich erachtete Sahra Wagenknecht die Frage, wie die Trinkwasserversorgung in Deutschland tatsächlich funktioniert, in diesem Zusammenhang für irrelevant, so dass ihre Schlussfolgerung nicht zulässig ist. Dies erklärt sich vielleicht dadurch, dass sie nie als Kommunalpolitikerin aktiv war; ihre Listenplätze, durch die sie zuerst Mitglied im Europaparlament und dann im Bundestag geworden ist, hat sie im Anschluss an eine parteipolitische Karriere mit Ämtern in der PDS und später der Linken erhalten. Praktische kommunalpolitische Erfahrung ist bei solchen Themen aber kaum zu ersetzen!

Den Begriff der Gemeingüter verwendet Wagenknecht durchaus korrekt: Er bezieht sich auf „Güter, deren Erhaltung ein gewisses Maß an freiwilliger Kooperation voraussetzt und die zerstört werden, wenn jeder nur sein egoistisches Interesse oder ausschließlich das Interesse seiner separaten Gruppe verfolgt. Man kann den Dorfbrunnen nutzen und sich darauf verlassen, dass die anderen, die ihn ja auch brauchen, ihn schon instand halten werden.  […] Wenn alle so denken, verfällt am Ende der Dorfbrunnen […].“ Dies ist ein Beispiel für eine Gefangendilemma-Situation. Aber Wagenknecht verallgemeinert aus den von ihr verwendeten Beispielen, dass „die Kooperationsbereitschaft“ darunter leidet, wenn „Menschen sich vor allem über ihre Unterschiedlichkeit definieren und Mitgliedern anderer religiöser, ethnischer oder kultureller Gruppen weniger Vertrauen“ entgegenbringen, was so pauschal nicht stimmt, weil dem zentralen Beispiel die Funktion des Staates nicht berücksichtigt wird. In einem Staat kann ein gewisses Maß an Kooperation durch Gesetze erzwungen werden. Wer nicht kooperiert, und etwa eine Wasserrechnung nicht bezahlt, bekommt deswegen ein Gerichtsverfahren.

Ehrenamtliches Engagement kann natürlich nicht durch den Staat erzwungen werden, zumindest nicht in dem Umfang, in dem es erforderlich ist. Es gibt in Deutschland zwar die Möglichkeit, eine Pflichtfeuerwehr einzuführen, aber davon machen zum Glück nur sehr wenige Kommunen Gebrauch. Aber auch hier ist nicht klar, wieso die Bereitstellung öffentlicher Güter von einer Beschränkung der Immigration abhängen sollte. Wieso sollte sich jemand mit Migrationshintergrund nicht genauso bei der freiwilligen Feuerwehr oder beim DLRG engagieren können, wie jemand, dessen Familie seit Generationen in Deutschland lebt?  

Elinor Olstrom beginnt einem ihrer wissenschaftlichen Artikel mit der provokanten Aussage, dass unsere Vorfahren in der Lage gewesen sein müssten, Probleme kollektiven Handelns (zur Bereitstellung von öffentlichen Gütern) zu lösen – ansonsten würde man diesen Artikel nicht lesen können! Der Staat stellt, durch Polizei und Justiz, zu einem wesentlichen Anteil die Kooperation in der Gesellschaft sicher – aber wie konnte der Staat selbst entstehen, den die Frage der Entstehung des Staates ist ebenfalls ein Problem kollektiven Handelns! Aus der Sicht des an der Spieltheorie orientierten modernen Kontraktualismus handelt es sich hier über das seit Thomas Hobbes‘ Leviathan (1651) in der politischen Philosophie etablierte Problem des Naturzustandes.

Die moderne Philosophin Jean Hampton hat in den 1980er eine Lösung für dieses Problem des Naturzustandes vorgeschlagen, die auf der Unterscheidung zwischen kurz- und langfristigem Interesse basiert. Die langfristigen Vorteile des Lebens im Staat sind – so die Annahme – so groß, dass sie jeden rationalen Menschen überzeugen; es handelt sich dann nicht mehr um eine Gefangenendilemma-Situation. Hampton hat diesen Ansatz auch auf die Bereitstellung öffentlicher Güter durch den Staat angewandt, dabei jedoch noch auf ein weiteres Konzept zurückgegriffen, dass des politischen Unternehmers. Die Menschen sind sich nicht unbedingt über ihre langfristigen Interessen im Klaren, es kommt auf eine Gruppe politischer Unternehmer – Politikerinnen und Politiker, Aktivistinnen und Aktivisten – an, sie über diese zu informieren.

Ein praktisches Beispiel dafür sind Debatten über die Verkehrspolitik in Großstädten. Ohne einen gut ausgebauten schienengebundenen ÖPNV ist der Stau zur Hauptverkehrszeit in Großstädten unvermeidbar, weil der Platzverbrauch der Autos die Kapazität jedes vernünftig dimensionierten Straßennetzes übersteigt. Großstädte brauchen daher einen ÖPNV, der für viele Strecken attraktiver (und insbesondere schneller) ist, als das Auto. Dies ist auch im Interesse jener Pendler, die weiterhin mit dem Auto fahren müssen – denn je mehr Pendler auf den ÖPNV umsteigen, desto geringer ist die Belastung zur Hauptverkehrszeit. Aktivismus in der Verkehrspolitik sollte also nicht nur negativ sein – indem man versucht, den Ausbau von Stadtautobahnen und Schnellwegen zu verhindern – sondern braucht auch eine positive Dimension, nämlich die Überzeugungsarbeit für den Ausbau des schienengebundenen ÖPNV.

Jean Hampton selbst verwendet ein Beispiel für kollektives Handeln aus Buch III von David Humes Traktat über die menschliche Natur. Dort wendet Hume seine Theorie auch mit einem Satz auf öffentliche Infrastruktur an – den Bau von „Straßen, Brücken und Kanälen“. Der mit David Hume vertraute (und befreundete) Adam Smith baut dies in Teil 5 des Wohlstand der Nationen dann zu einer umfassenden Theorie der Staatsaufgaben aus.

Öffentliche Güter, progressive Steuerpolitik und Nimbyismus

Adam Smiths Theorie öffentlicher Güter ist nicht nur aus historischen Gründen interessant. Wie unter anderem Ulrike Herrmann in Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung bemerkt hat, biete Smith im Wohlstand der Nationen den Vorschlag einer progressiven Besteuerung. Besonders deutlich wird dies, wenn Adam Smith thematisiert, wie hoch der Zoll für die Benutzung von Brücken und Straßen sein sollte: „Wird das Wegegeld für Luxusfahrzeuge (...) im Verhältnis zu ihrem Gewicht etwas höher angesetzt als für unentbehrliches Fuhrwerk, wie Karren und Lastwagen, so lässt man den Wohlhabenden aufgrund seiner Bequemlichkeit und Eitelkeit auf höchst einfache Art zur Unterstützung der ärmeren Leute beitragen, da die Fracht für schwere Waren dadurch im ganzen Land verbilligt wird.“

Aus einem klassischen Text eine Schlussfolgerung zu einer Frage abzuleiten, die sich zu dessen Entstehungszeitpunkt noch gar nicht stellen konnten, ist natürlich immer schwierig, aber wenn man Adam Smiths Überlegungen übertragen kann, dann ergibt sich daraus eine Legitimation einer progressiven KfZ-Steuer, bei der die Wagen der Oberklasse und oberen Mittelklasse stärker besteuert werden als weniger luxuriöse Autos. Konsequenterweise müsste man dann – unter Berufung auf Smith – das Dienstwagenprivileg abschaffen, zumindest für Luxusautos; denn wieso sollte die Allgemeinheit den Luxus auch noch subventionieren? Adam Smith bietet nicht nur eine Theorie öffentlicher Güter, er würde diese auch durch progressive Besteuerung finanzieren.

Deswegen ist klar, dass Adam Smith nicht als Vordenker des Neoliberalismus einzuordnen ist. Der Begriff ‚Neoliberalismus‘ bezieht sich gerade auf die Frage der Staatsaufgaben, und die Finanzierung derselben durch progressive Besteuerung. Durch die neoliberale Wende seit 1978 wurde der Progressionsfaktor in der Besteuerung verringert und der Umfang der über staatliche Steuern finanzierten öffentlichen Güter reduziert (dies habe ich in meinem Essay „Neoliberalismus: Der Staat der Eigentümer“ näher ausgeführt). In Deutschland war es die Rot-Grüne Koalition unter Gerhard Schröder, die mit der Steuerreform 2000 den Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent senkte. Dieses Geld fehlt jetzt natürlich. Eine Rückkehr zum vorherigen Spitzensteuersatz, und eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer, wären erforderlich, um insbesondere die Finanzierungsprobleme der Kommunen lösen zu können.

Verteilungskonflikte finden nämlich nicht nur bei der Aushandlung des Arbeitsvertrages statt, sondern insbesondere auch bei der Frage der Finanzierung öffentlicher Güter. Je stärker die Steuerprogression, desto mehr tragen die Reichen und Vermögenden zur Finanzierung der öffentlichen Güter bei. Während die Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen starke Gewerkschaften erfordern, werden die zentralen Fragen der Besteuerung im Bundestag entschieden; dafür braucht es eine starke parlamentarische Linke.  

Es geht bei öffentlichen Gütern jedoch nicht nur um einen Verteilungskonflikt mit dem einen Prozent der Superreichen. Ein wichtiges Beispiel dafür ist der Wohnungsbau. Um die Zahl der Wohnungen in bestimmten Großstädten drastisch zu erhöhen, wäre es nämlich erforderlich, eine U-Bahn oder S-Bahn bis an den Stadtrand zu bauen, und dort einen neuen Stadtteil einzurichten. Dies nennt sich ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung. Wien hat das mit der Seestadt Aspern für 25.000 Einwohner gemacht, Nürnberg immerhin mit dem Stadtteil Tiefes Feld für 4000 Einwohner – aber die meisten deutschen Großstädte sind zu dieser Art von Stadtplanung offenbar nicht in der Lage.

Wohnungen sind natürlich nur dann ein öffentliches Gut, wenn sie direkt durch den Staat bereitgestellt werden, aber die Frage der Flächennutzung betrifft ein natürliches Gemeingut. Flächen, die einmal bebaut worden sind, sind dann dauerhaft für anderen Nutzungen, insbesondere Landwirtschaft und als Überflutungsgebiete bei Starkregen, verloren. Solche Flächen stehen dann insbesondere auch für Landschaftsschutz und Naherholung nicht mehr zur Verfügung, weswegen die wohlhabenden Eigenheimbesitzenden in den Vororten gegen die Ausweisung neuer Wohngebiete sind. Dies ist eine Form von Nimbyismus, und von SPD und Grünen ist in diesem Zusammenhang nicht zu erwarten, dass sie sich gegen die Interessen der Eigenheimbesitzenden stellen.

Nimbyismus ist auch eine der Ursachen für die Probleme bei der Bahn. Natürlich ist die Bahn in Deutschland unterfinanziert. Deutschland liegt im Ländervergleich bei den Pro-Kopf-Investitionen in die Schiene deutlich gegenüber Ländern wie der Schweiz oder Österreich zurück; außerdem müssen S-Bahnen und Regionalbahnen gezielt subventioniert werden, insbesondere, da auch der Autoverkehr subventioniert wird (zum Beispiel durch das Dienstwagenprivileg). Aber selbst wenn die Finanzierung sichergestellt wäre, erfordert die Planung und der (Aus-)Bau von Schienentrassen in Deutschland sehr viel Zeit – die Beschwerden der Anwohnenden können Bauprojekte verzögern oder, wie im Fall der Y-Trasse in Niedersachsen, sogar ganz verhindern. Ohne einen Ausbau des Schienennetzes wird die Deutsche Bahn jedoch ihre Probleme mit Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit nicht in den Griff kriegen können.

Eine Strategie gegen den Rechtspopulismus?

Die Bereitstellung öffentlicher Güter scheitert also einerseits an der Finanzierung, anderseits an dem Problem des Nimbyismus. Sie scheitert aber insbesondere nicht am fehlenden Gemeinwillen aufgrund von zu hoher Migration. Der Rechtspopulismus von Sahra Wagenknecht und anderen, welche Migration für schlechte Versorgung mit öffentlichen Gütern verantwortlich macht, lenkt von den eigentlichen politischen Konflikten ab.  Maurice Höfgen hat auf jacobin.de Wagenknechts Forderung nach einer noch restriktiveren Migrationspolitik wie folgt kommentiert: „Die Wahrheit ist: Würde man noch heute all jene abschieben, die rechtlich abgeschoben werden können, also rund 15.000 Menschen, wären die Kommunen morgen noch immer überlastet. Mehr Geld für die Kommunen hat Wagenknecht aber nicht gefordert. Auch nicht einen Turbo beim sozialen Wohnungsbau. Oder eine Recruitingoffensive für Lehrerinnen, Erzieher und Mitarbeitende in Ausländerbehörden. Stattdessen bietet Wagenknecht eine Scheinlösung an, die Asylsuchende stigmatisiert, um im AfD-Milieu zu punkten.“

Wagenknecht selbst verwendet in Die Selbstgerechten das Beispiel der Diskussion mit einer alleinerziehenden Mutter, die vergeblich eine Wohnung sucht und deswegen Ressentiments gegen Flüchtlinge hegt. Deswegen wurde eben das Beispiel mit dem Wohnungsbau verwendet. Solche Diskussionen kommen im Wahlkampf vor, und dann muss man die Gelegenheit nutzen, die Herausforderungen von Wohnungsbau und Stadtplanung zu thematisieren. Wagenknecht hingegen hat, nach dem was sie schreibt, offenbar die Aussage jener Wohnungssuchenden, dass sie nun AfD wählen will, hingenommen, ohne Contra zu geben. Aus der Sicht jener Theorie öffentlicher Güter, nach der es die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern ist, die Menschen über ihre langfristigen Interessen aufzuklären, ist Wagenknecht daher eine schlechte Politikerin.  

Wenn rechtspopulistische Parteien Scheinlösungen anbieten, dann muss die parlamentarische Linke die echten Lösungen bieten! Dies beinhaltet nicht nur die Forderung nach einer stärker progressiven Besteuerung und eine klare Linie gegen den Nimbyismus, sondern zum Beispiel auch eine Ausbildungsoffensive für Erzieherinnen – die Zusammenstellung öffentlicher Güter in diesem Essay hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Ob dies als Strategie gegen den Rechtspopulismus zu Wahlerfolgen führt, ist nicht unbedingt absehbar, aber langfristig betrachtet ist es die richtige. Zu den natürlichen Gemeingütern zählt nämlich, wie gesagt, auch die Kapazität der Atmosphäre für die Aufnahme von CO2. Hier liegt ein Verteilungskonflikt vor, nämlich zwischen der gegenwärtigen Generation, welche die Kosten für die Maßnahmen gegen den Klimawandel zu tragen hat, und den zukünftigen Generationen, welche die Auswirkungen der absehbaren Klimakatastrophe zu tragen haben werden. Aber die gegenwärtige Generation kann diesen Konflikt nicht gewinnen! In wenigen Jahrzehnten werden diejenigen, die dann erwachsen sind, sich nur noch fragen können, wieso die vorhergehenden Generationen so egoistisch waren, nicht hinreichend deutliche Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe, die damals schon absehbar war, umzusetzen. Ich denke, aus der Sicht der Nachwelt ist es immer noch besser, jetzt die richtigen Forderungen zu vertreten, und dafür schlimmstenfalls nicht gewählt zu werden, als Wagenknechts Strategie zu verfolgen, die Frage der Migration in dem Vordergrund zu stellen und dadurch von den zentralen politischen Problemen abzulenken.

 

Literaturempfehlungen:

 

Jean Hampton: Free-Rider Problems in the Production of Collective Goods. Economics and Philosophy, Jahrgang 3 (2), 1987.

Elinor Ostrom: A Behavioral Approach to the Rational Choice Theory of Collective Action, Presidential Address, American Political Science Association, 1997. American Political Science Review, Jahrgang 92 (1), 1998

Es handelt sich hier natürlich um wissenschaftliche Fachliteratur. Eine populäre Einführung zu dem Thema bietet aber z.B. die Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim.