Lateinamerika zurück am Verhandlungstisch
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Brüssel richtet seinen Blick wieder verstärkt nach Süden. Genauer gesagt sind es Lateinamerika und die Karibik, die für die EU-Institutionen in den kommenden Monaten im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen werden. Den Auftakt dazu bildete in diesem Monat der Gipfel der EU und des CELAC (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten). Dazu versammelten sich zwei Tage lang dutzende Staats- und Regierungschef*innen der beiden Gemeinschaften zu Beratungen in der belgischen Hauptstadt. Es war das erste hochrangige Treffen dieser Art nach acht Jahren Gipfelpause.
Woher rührt diese plötzlich erscheinende „Wiederentdeckung“ der lateinamerikanischen Partner? Zum einen hat der EU-Rat im Juli einen neuen Vorsitz bekommen: Für sechs Monate beeinflusst nun Spanien als erstes Land der 18-monatigen Trio-Präsidentschaft der EU (ihm folgen dann 2024 Belgien und Ungarn) maßgeblich, welche Schwerpunkte die EU-Institutionen setzen. Und im Mittelpunkt des Arbeitsprogramms stehen erstens die „Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der EU durch die Stärkung der industriellen Basis Europas“, zweitens „die Gewährleistung eines fairen, gerechten und integrativen Übergangs durch die Stärkung der sozialen Dimension Europas“, drittens eine „Stärkung der internationalen Partnerschaften, der multilateralen Zusammenarbeit und der Sicherheit in all ihren Dimensionen“ und viertens „die Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas“.
Da erscheint es indessen dann nicht so sehr überraschend, dass Spanien und die anderen EU27 insbesondere die Brücken über den Atlantik renovieren und verstärkt nutzen wollen, um dringend notwendige Rohstoffe auch für die Umsetzung eigener Zielsetzungen des Green Deals und des „Fit for 55“-Programms zu erlangen. Nicht zu vergessen, dass dies auch im geopolitischen und geowirtschaftlichen Machtgerangel als Aufholprozess gegenüber den USA und China als wichtigen Akteuren in Lateinamerika verstanden wird. Für spanische Unternehmen ist nicht zuletzt die lateinamerikanische Region ein wichtiger Markt und Investitionsstandort, weshalb das Land seit langem große Hoffnungen in den Abschluss weiterer Freihandelsabkommen, etwa mit Mexiko, Chile und vor allem mit dem Mercosur-Block aus Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay befürwortet und die eigenen Wettbewerbsfähigkeit im EU-Binnenmarkt erhöhen will.
Dass die EU-Kommission alles daran setzt, die Abkommen bis zum Ende des Jahres zu unterzeichnen und auch im Eilverfahren parlamentarisch absegnen zu lassen, hat deshalb wohl vor allem geopolitische Hauptgründe. Denn unter vielen Ökonom*innen herrscht durchaus übereinstimmende Skepsis darüber, dass etwa ein Abkommen mit den Mercosur-Ländern kaum wirtschaftliche Vorteile für die EU27 bringen wird. Dem stehen andererseits auch Risiken für Landwirt*innen in Europa und kleine und mittlere Unternehmen und Industriebetriebe in Südamerika entgegen. Ich werde in meinen kommenden Newslettern sicher auf den ein oder anderen Aspekt zurückkommen, denn der Gipfel hat einen zumindest absichtsvollen Fahrplan 2023-25 für die Intensivierung der bi-regionalen Zusammenarbeit zwischen der EU und dem CELAC vorgelegt.
Aber es ging beim Gipfel weit über diese sehr konkret handelspolitischen Fragestellungen hinaus. Und ich halte die Aussage unter Punkt 8 der Gipfelerkläung für überaus bemerkenswert als künftigem, stets zu hinterfragendem Richtwert, dass „Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – seien sie bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Art, einschließlich des Rechts auf Entwicklung, die alle als universell, unteilbar und voneinander abhängig verstanden werden – Schlüsselprinzipien unseres erneuerten Bündnisses bleiben. In diesem Zusammenhang muss darauf geachtet werden, die Bedeutung der Gewährleistung von Universalität, Objektivität und Nicht-Auswählbarkeit bei der Betrachtung von Menschenrechtsfragen sowie der Beseitigung von Doppelmoral und politischer Instrumentalisierung anzuerkennen.“
Die Gipfelteilnehmer-Staaten haben sich ferner auch der Bekämpfung von Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt verpflichtet, sowie der Förderung grundlegender Arbeitsprinzipien und -rechte sowie der ILO-Kernarbeitsnormen und -Übereinkommen für menschenwürdige Arbeit für alle, der Gewährleistung von Geschlechtergleichheit, der vollständigen und gleichberechtigten Vertretung und Beteiligung aller Frauen und Mädchen an Entscheidungsprozessen, der Rechte indigener Völker gemäß der UN-Erklärung, der Rechte des Kindes, der Rechte von Personen in gefährdeten Situationen und Menschen afrikanischer Herkunft. Punkte, die ich gerade auch im Zusammenhang mit den Nachhaltigkeitskapiteln und der Notwendigkeit verbindlicher, und auch juristisch durchsetzbarer Standards für wichtig halte. Aber da gilt es dann ab sofort genau hinzuschauen, wie dies im Alltag realisiert wird. Denn Absicht und Realität klaffen leider noch viel zu weit auseinander. Und es bleibt gewiss eine Herkules-Aufgabe für alle beteiligten Seiten, aber gut, dass der Gipfel angesichts des bevorstehenden Halbzeit-Treffens der UNO im September zur Umsetzung der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele gerade dies so deutlich herausstellte. Hohe Auflagen also auch für die EU und ihre Mitgliedstaaten.
Die Befürworter*innen einer alternativen, auf sozialen Fortschritt und ökologische Gerechtigkeit abzielenden Handelspolitik haben diese Woche ebenfalls genutzt, um sich Gehör zu verschaffen. Und vielleicht haben die vielen Debatten und Forderungen an die „Politik“ des Gipfels auch dessen Positionierung beeinflusst. Denn einige Präsident*innen vom lateinamerikanischen Kontinent hatten am Dienstagabend auch den Weg ins Europa-Parlament zur Abschlussveranstaltung des „Gipfel der Völker“ gefunden; schade, dass niemand von den EU-Staats- und Regierungschef*innen gleichermaßen Engagement zeigte.
Bereits am Montag dieser zu Ende gehenden Woche hatte ich eine Konferenz dutzender zivilgesellschaftlicher Gruppen, wie etwa Via Campesina, Amigos da Terra, PowerShift, Ecologistas en Acción und andere unterstützt, die so ihre Sorgen und Argumente im Europäischen Parlament vorbringen konnten. Am Montag ging es nachmittags beim Global South-North-Dialoge, mitorganisiert und kreativ unterstützt vom Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, um einen umfassenden Meinungsaustausch zu Herausforderungen und Perspektiven internationaler Wirtschaftspolitik und nachhaltiger Entwicklung – unter Erinnerung an die Entwicklung und Begründung der ‚Neuen internationalen Weltwirtschaftsordnung‘ vor 50 Jahren und die Erklärung von Havanna 1973.
Der EU-CELAC Gipfel war auch Gegenstand einer Aussprache in der letzten Beratung des Ausschusses für Internationalen Handel des Europäischen Parlaments vor der Sommerpause. Die langen und schwierigen Gespräche mit den lateinamerikanischen Partnern haben der EU-Seite offenbar gezeigt, dass sie mit einem „Weiter so“ nicht durchkommen wird. So haben die Staatschef*innen aus Brasilien & Co zu verstehen gegeben, dass ihnen die ihnen zugedachte Rolle als Lieferanten wertvoller Rohstoffe nicht genügt.