Die dunkle Seite von twitch.tv
Twitch ist das größte und bekannteste Livestreaming-Portal, das zu Beginn vor allem auf die Übertragung von Videospielen spezialisiert war. Mittlerweile hat sich das Streaming-Angebot bei twitch aber deutlich erweitert. Von Schach, über Kochen, Lego-Bauen, Aufräumstreams bis hin zu „just chatting“ findet man hier für jede*n das richtige zur Unterhaltung. Unter anderem auch politische Themen. Anstatt zu spielen, gehen Streamer live, mit ihren „Viewern“, die Nachrichten durch, schauen sich Lanz-Sendungen an und kommentieren diese mit ihrem politischen Wissen. Manche dieser Streamer erfreuen sich großer Beliebtheit und können von der Reichweite her ganz oben mitspielen.
Es ist kein Geheimnis, dass die Gamingbranche und damit auch die Bubble der Streamer*innen auf twitch noch immer von weißen, männlichen Stereotypen dominiert wird. Obwohl die Hälfte der in Deutschland befindlichen Gamer*innen weiblich ist, ist deren Repräsentation in sozialen Medien und Plattformen wie twitch immer noch unterdurchschnittlich. Ein Hauptgrund dafür ist immer noch der weit verbreitete Sexismus, mit dem Streamer*innen konfrontiert werden, sobald sie in die Öffentlichkeit gehen. Ein Beispiel dafür ist das wohl derzeit am meisten diskutierte „Influencer*innen-Drama“ auf twitch, Youtube und twitter: Scurrows vs. Shurjoka.
Die Streamerin „Shurjoka“ (Pia Scholz) kombiniert Gaming und Politik und erreicht so regelmäßig im Schnitt 2000 Zuschauer*innen gleichzeitig, wodurch sie zu den beliebtesten Streamer*innen der Plattform gehört. Zu ihren Themen gehören unter anderem Feminismus, LGBTQ-Rechte, Armutsbetroffenheit, demokratische Werte und Umweltschutz. Im Mai bekam Pia Scholz den deutschen Computerspielepreis als Spielerin des Jahres, vor allem auch für ihre Verbindung von Gaming und politischen Inhalten.
Das passt nicht jedem. Rechtsextremisten im Netz versuchen Hass gegen sie zu verbreiten, aber auch konservative Influencer, wie der Youtuber und Streamer “KuchenTV” (Tim Heldt) versuchen in ihren Aussagen regelmäßig eine “Doppelmoral” oder “Heuchelei” zu finden. Heldt produziert ebenfalls politische Inhalte, aber mit einem eher konservativen Einschlag und wurde zudem 2016 wegen Volksverhetzung verurteilt. Monate lang stilisierte Heldt Scholz zum Feindbild. Der erfolgreichste Streamer Deutschlands, "Montanablack" (Marcel Eris), stieg ebenfalls regelmäßig gegen Scholz mit ein. Eris zieht besonders gerne über Umweltschützer her und bewirbt konsequent Abschiebungen für kriminelle Ausländer.
Die Situation eskalierte, als Pia Scholz in einem Stream von einer unangenehmen Begegnung mit dem Streamer “Scurrows” (Theodor Bottländer) auf der Gamescom 2017 berichtete. Gegen ihn stünden noch immer Vorwürfe der Belästigung im Raum, da er ihr und anderen Frauen auf der Veranstaltung in den Ausschnitt gefilmt haben soll. Bottländer, der reich und berühmt durch seine fragwürdigen “Casino-Streams” geworden ist, verklagte Scholz und vermarktete das so öffentlichkeitswirksam wie möglich.
Bottländer vermarktet gerne und stolz seine toxische Männlichkeit. Er äußert sich gerne offen rechtsradikal. Für ihn ist die AfD die einzige Partei, die sich noch um die Bürger kümmert. Er hetzt via Twitter immer wieder gegen queere Menschen und sieht hinter Trans-Personen eine „Agenda“, die über die Medien verbreitet werden solle. Bottländer outet sich auch als Fan des umstrittenen Andrew Tate, der sich aktuell wegen Menschenhandels in Rumänien in Untersuchungshaft befindet. Zudem ist er sich für nichts zu schade, um Geld zu verdienen. So überträgt er Onlinecasino-Streams an seine überwiegend minderjährigen Viewer. Damit motiviert er Kinder und Jugendliche zum Glücksspiel, ohne selber irgendwas zu riskieren. Da die Streams natürlich gesponsert sind, spielt Bottländer im Onlinecasino natürlich nie um sein eigenes Geld.
Nach Bottländers Anzeige gegen Pia Scholz startete eine regelrechte Online-Hetzjagd. Viele Gamer und Viewer stellten sich auf Bottländers Seite, aber einige, in der Community bekannte Persönlichkeiten, kritisierten ihn auch heftig. Bottländer startete daraufhin einen Rundumschlag gegen einen großen Teil der politisch progressiven Streamer*innenschaft.
Während Pia Scholz sich seit dem Streit komplett von twitch zurückgezogen hat, verdient die ganze toxisch - männliche Community um Scurrows mächtig Geld mit dem Konflikt. Frei nach dem Motto „Any Promotion is good Promotion“ schütten Bottländer, Eris und Heldt weiter Hass und Diffamierung ins Netz. Während Scholz sich zurückziehen musste, haben die Hetzer so viele neue Follower, Abonnenten und Live-Zuschauer wie schon lange nicht mehr. Sie kommentieren, dass ihre Youtube-Videos sich hervorragend klicken und Scholz Aktivismus ihr selbst damit nur geschadet hätte.
Nachdem Scholz sich zurückgezogen hatte, nahmen sich die 3 Streamer die nächsten Opfer vor. Darunter auch die Partnerin von Scholz, “Freiraumreh” (Kim). Kim ist ebenfalls Aktivistin und beschäftigt sich mit ähnlichen Themen wie Scholz. Sie organisiert regelmäßig „Talks“ in ihren Streams mit Experten und Betroffenen über Themen wie mentale Gesundheit, Traumata und Diskriminierungserfahrungen. Dabei erreicht sie in der Regel ca. 1000 Zuschauer*innen zeitgleich und gilt damit als eine der erfolgreichsten Streamerinnen in dem Bereich. Die Strategie ist gegen sie ähnlich. Man erfindet einen Skandal und hetzt dann möglichst viele Mitglieder der eigenen “Communitys” auf das Opfer, indem man Video- und Streaminhalte darüber produziert. Daraus zieht man dann noch zusätzlich über die Twitch und Youtube-Monetarisierung Profit.
Heldt lud vor kurzem ein Video über “Freiraumreh” hoch, auf dessen Titelbild er sie als lächerliche Karikatur mit entstellten Augen darstellte. Heldt stellte zudem Scholz in einem Titelbild auf Youtube verprügelt, mit blauen Flecken im Gesicht dar.
Zu allem Überfluss ist an dem Kampf gegen “Freiraumreh” und “Shurjoka” noch ein seriöser Politiker beteiligt. Tobias Huch, der für die FDP bei der Bürgerschaftswahl in Bremen kandidierte, streamt ebenfalls seit einer Weile auf twitch und lädt Videos auf Youtube hoch, um für sich und die FDP Werbung zu machen. Er klärt eigentlich über die Türkei und Islamismus auf, doch hier schlug er sich auf die Seite von Heldt und Bottländer, um auch Youtube-Videos über “Shurjoka”, „Freiraumreh“ und weitere progressive Persönlichkeiten auf twitch zu produzieren, in denen er immer wieder gegen sie austeilt. Mit demokratischem Diskurs und Meinungsfreiheit hat das nichts mehr zu tun.
Hier werden Existenzen zerstört und Menschen in ernsthafte Gefahr gebracht. Das Internet sollte eigentlich kein rechtsfreier Raum sein. All das passiert vor einem jugendlichen Publikum. Suggeriert wird den Jugendlichen vor allem, dass Hass, Sexismus und rechte Ideologie á la „Montanablack“, „KuchenTV“ und „Scurrows“ nicht nur völlig legitim sind, sondern sich auch besonders gut verkaufen. Während Streamer*innen wie „Shurjoka“ mit einer progressiven und linken politischen Haltung gesilenced werden. Denn Twitch, bzw. den Betreiber Amazon, dürfte das erhöhte “Engagement” auf der Seite auch freuen. Die Seite ist in den letzten Monaten wesentlich lascher bei der Durchsetzung seiner Regeln geworden, wodurch immer mehr Streams mit rechtsextremen und verschwörungsideologischen Inhalten auftauchten. Diese Kanäle feuern währenddessen das Treiben von Bottländer, Heldt, Eris und Huch weiter an, nutzen dies dann ebenfalls, um ihre eigene Reichweite und ihren Einfluss auf der Plattform zu vergrößern. Vor allem Frauen und andere marginalisierte Gruppen auf twitch, erfahren so immer mehr Hass und Diskriminierung. Viele Benutzer*innen berichten, dass die Meldefunktion praktisch keine Wirkung mehr habe und auch verkompliziert wurde. Erst nachdem die Hetzjagdt auf „Shurjoka“ nun auch medial außerhalb der Gaming-Bubble größere Wellen geschlagen hat, wurden der Account von „Scurrows“ 14 Tage lange gesperrt. „Scurrows“ hat, wenig überraschend, wiedermal seinen Anwalt eingeschaltet. „Shurjoka“ will auch bald wieder streamen. Wer sie unterstützen will findet sie hier auf twitch.tv.
Edit: Fälschlicherweise haben wir Dara Marc Sasmaz, aka "Der Radikale Demokrat", anfangs als Verfasser dieses Artikels angegeben. Das war ein Fehler der Redaktion, für den wir uns bei Dara und allen Leser*innen entschuldigen wollen.